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  • 15.09.2023 · IWW-Abrufnummer 237375

    Finanzgericht Münster: Urteil vom 14.08.2023 – 8 K 294/23 E

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Münster


    Tenor:

    Die Klage wird abgewiesen.

    Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

    Die Revision wird zugelassen.

    1
    Tatbestand

    2
    Streitig ist, ob der Beklagte zur Änderung des Einkommensteuerbescheides 2018 nach § 175b Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) berechtigt war.

    3
    Die Kläger sind Eheleute, die nach §§ 26, 26b des Einkommensteuergesetzes (EStG) im Veranlagungszeitraum 2018 (Streitjahr) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden.

    4
    Zur Steuernummer des Klägers wurden dem Beklagten durch den Arbeitgeber des Klägers am 23.01.2019 zwei Datensätze (elektronische Lohnsteuerbescheinigungen) übermittelt, die unter anderem die folgenden Angaben enthielten:

    5
    xxx

    6

    Im Rahmen der Einkommensteuererklärung erklärten die Kläger in der Anlage N des Klägers einen Bruttoarbeitslohn i. H. v. 25.303 EUR (Kennzahl 47/110) und i. H. v. 2.273 EUR (Kennzahl 47/111) sowie „Entschädigungen / Arbeitslohn für mehrere Jahre ‒ gegebenenfalls laut Nummer 19 der Lohnsteuerbescheinigung ‒ vom Arbeitgeber nicht ermäßigt besteuert“ i. H. v. 9.000 EUR (Kennzahl 47/165). Auf Aufforderung der Veranlagungsstelle des Beklagten legten die Kläger eine Abschrift des Protokolls einer Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht P-Stadt vom 19.04.2018 vor, aus dem ein zwischen dem Kläger und seinem Arbeitgeber geschlossener Vergleich hervorgeht. Das Arbeitsverhältnis des Klägers war mit Wirkung zum 31.08.2018 gekündigt worden, für den Verlust des Arbeitsplatzes erhielt er eine Abfindung i. H. v. 9.000 EUR brutto.


    7
    Im Einkommensteuerbescheid 2018 vom 25.09.2019 berücksichtigte der Beklagte (erklärungsgemäß) einen Bruttoarbeitslohn des Klägers i. H. v. 27.576 EUR (rechnerisch: 34.303,16 EUR + 2.273,01 EUR ./. 9.000 EUR). Von dem so ermittelten zu versteuernden Einkommen i. H. v. 46.003 EUR wurden 37.254 EUR nach dem Splittingtarif und (unter Berücksichtigung der Entschädigung zuzurechnender Werbungskosten i. H. v. 251 EUR) 8.749 EUR nach § 34 Abs. 1 EStG ermäßigt besteuert. Der im Rahmen der Veranlagung seitens des Risikomanagementsystems der Finanzverwaltung ergangene Hinweis, dass die Daten der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung von den erklärten Werten abweichen würden und um Prüfung gebeten werde, wurde von der Sachbearbeiterin mit einem handschriftlichen Vermerk „Abfindungsvertrag liegt vor. Geprüft.“ abgezeichnet.

    8
    Im Mai 2021 wurde der Beklagte verwaltungsintern darauf hingewiesen, dass die ermäßigt besteuerten Entschädigungen i. S. d. § 34 EStG ab dem Veranlagungszeitraum 2017 in Kennzahl 47/165 einzutragen seien. Diese Entschädigungen seien ‒ wie in Ziffer 19 der Lohnsteuerbescheinigung beschrieben ‒ im Bruttoarbeitslohn und daher auch im Betrag zur Kennzahl 47/110 enthalten. Da der Beklagte im Streitfall die Entschädigung ausschließlich in Kennzahl 47/165 und nicht auch in Kennzahl 47/110 berücksichtigt habe, sei die Entschädigung im Ergebnis der Besteuerung entzogen worden.

    9
    Der Beklagte erließ daraufhin am 20.05.2021 einen geänderten Einkommensteuerbescheid 2018, in welchem er einen Bruttoarbeitslohn des Klägers i. H. v. 36.576 EUR berücksichtigte. Von dem zu versteuernden Einkommen i. H. v. 55.003 EUR wurde ein Betrag i. H. v. 8.749 EUR ermäßigt besteuert. Auf Seite 1 des Änderungsbescheides heißt es unter „Art der Festsetzung“, dass der Bescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geändert worden sei. Im Erläuterungstext wies der Beklagte darauf hin, dass die übermittelten Lohnsteuerbescheinigungen einen Bruttoarbeitslohn i. H. v. 36.576 EUR ausweisen würden und die Entschädigungszahlung, indem sie bisher ausschließlich als Entschädigung und nicht auch beim Bruttoarbeitslohn berücksichtigt worden sei, der Besteuerung entzogen worden sei. Der Bescheid vom 17.09.2019 [sic] werde gem. § 175b AO geändert, indem der Bruttoarbeitslohn um die Entschädigung erhöht werde. Dieser Bescheid ändere den Bescheid vom 25.09.2019.

    10
    Im hiergegen gerichteten Einspruchsverfahren machten die Kläger geltend, dass keine Änderungsbefugnis nach §§ 165 AO, 173 AO und 129 AO bestanden habe. Auch § 175b AO sei nicht einschlägig. Denn diese Vorschrift gelte nur hinsichtlich der Daten, die elektronisch von Dritten übermittelt worden seien, also nicht für diejenigen Daten, die der Steuerpflichtige im Rahmen seiner Steuererklärung selbst übermittle. Im Streitfall hätten dem Beklagten die Lohnsteuerbescheinigungen des Arbeitgebers vorgelegen. Auch hätten sie, die Kläger, den korrekten Bruttoarbeitslohn (inklusive der Entschädigung) entsprechend der Ihnen vorliegenden Lohnsteuerbescheinigungen in Anlage N erfasst, indem sie die Daten von der Finanzverwaltung abgerufen, von ihrem Steuerprogramm automatisch in die Steuererklärung übertragen und nochmals mit den Originalbelegen abgeglichen hätten. Der Beklagte habe weder die vom Dritten übermittelten korrekten Daten noch die von ihnen selbst übermittelten korrekten Daten berücksichtigt. Letzteres sei ‒ da die sonstigen Besteuerungsgrundlagen erklärungsgemäß berücksichtigt worden seien ‒ nicht nachvollziehbar. Da seitens der Sachbearbeiterin eine Rückfrage bezüglich der Entschädigungsleistungen erfolgt sei, sei davon auszugehen, dass bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Ermittlungspflichten eine korrekte Veranlagung erfolgt wäre. Derartige Anwendungsfehler seien anders als offenbare Unrichtigkeiten nicht jederzeit korrigierbar.

    11
    Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 12.01.2023 als unbegründet zurück und führte im Rahmen des Einspruchsverfahrens aus, dass die Angabe der Änderungsnorm unter „Art der Festsetzung“ fehlerhaft sei. Wie in dem Erläuterungstext ausgeführt, sei die Korrektur nach § 175b Abs. 1 AO erfolgt. Diese Norm sei auch anwendbar. Denn sie solle die Änderung von Steuerbescheiden ermöglichen, die aufgrund fehlerhafter Auswertung übermittelter Daten ergangen seien. Nach dem Willen des Gesetzgebers sei eine Änderung auch dann möglich, wenn das Finanzamt im Nachhinein feststelle, dass es bereits vorliegende Daten falsch ausgewertet habe. Ziel sei es, Auswertungsfehler im Massenverfahren im Sinne der materiell-rechtlichen Richtigkeit korrigieren zu können. Daher könne der Steuerbescheid auch dann geändert werden, wenn er auf einer falschen Tatsachenwürdigung oder Rechtsanwendung oder auf einem Ermittlungsfehler der Finanzbehörde beruhe. Diese weitgehende Änderungsbefugnis sei vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen und werde in der Gesetzesbegründung ausdrücklich dargelegt. Entscheidend sei, ob die ursprüngliche Steuerfestsetzung materiell-rechtlich unzutreffend gewesen sei. Im Streitfall seien auch die Voraussetzungen der Norm erfüllt. Denn bei den von dem Arbeitgeber übermittelten Lohndaten handele es sich um Daten i. S. d. § 93c AO (i. V. m. § 41b Abs. 1 Satz 2 EStG), die unzutreffend ausgewertet worden seien. Es wäre korrekt gewesen, den Bruttoarbeitslohn inklusive der Entschädigung zu berücksichtigen. Unerheblich sei hingegen, ob der Fehler auf eine unsorgfältige Bearbeitung oder auf ein Versehen zurückzuführen sei. Selbiges gelte für die Frage, ob der Steuerpflichtige die Besteuerungsgrundlagen zutreffend erklärt habe. Im Übrigen treffe es nicht zu, dass die Kläger den vollen Bruttoarbeitslohn ohne Abzug der Entschädigung erklärt hätten.

    12
    Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer am 11.02.2023 erhobenen Klage. Sie machen geltend, dass weder erkennbar noch behauptet worden sei, dass der Beklagte überhaupt die konkreten Angaben des Arbeitgebers berücksichtigt habe. Der Beklagte habe sich vielmehr ‒ wie sich auch aus der gestellten Rückfrage zur Entschädigung ergebe ‒ allein auf ihre, der Kläger, Angaben verlassen. Die übermittelten elektronischen Daten hätten bei der Ursprungsveranlagung keine Rolle gespielt. § 175b AO solle jedoch (nur) eine Korrektur von Bescheiden ermöglichen, die aufgrund einer fehlerhafter Auswertung elektronisch übermittelter Daten ergangen seien. Da sich der Beklagte nach korrekter Datenübermittlung vom Arbeitgeber und auch von ihnen, den Klägern, mit dem Sachverhalt auseinandergesetzt und weitere Unterlagen erhalten habe, sei der fehlerhafte Bescheid nicht nach § 175b AO änderbar.

    13
    Die Kläger beantragen,

    14
    den Einkommensteuerbescheid 2018 vom 20.05.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.01.2023 aufzuheben.

    15
    Der Beklagte beantragt,

    16
    die Klage abzuweisen.

    17
    Zur Begründung führt er ergänzend aus, dass die vom Arbeitgeber elektronisch übermittelten Daten durch Ausgabe des Risikohinweises, dem die Sachbearbeiterin nachgekommen sei, im Rahmen der Veranlagung Berücksichtigung gefunden hätten. Dass die elektronischen Daten trotz Ausgabe des Risikohinweises falsch ausgewertet worden seien, sei gem. § 175b AO korrigierbar.

    18
    Der Senat lehnte mit Beschluss vom 14.06.2023 (8 V 806/23 E) den von den Klägern gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab; die vom Senat zugelassene Beschwerde wurde nicht eingelegt. Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu verzichten.

    19
    Entscheidungsgründe

    20
    Die zulässige Klage, über die der Senat nach § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet.

    21
    I. Der angefochtene Einkommensteuerbescheid vom 20.05.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.01.2023 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Der Bruttoarbeitslohn des Klägers wurde zutreffend berücksichtigt (unter 1.). Auch war der Beklagte zur Änderung des ursprünglichen Einkommensteuerbescheides vom 25.09.2019 befugt (unter 2.), während die fehlerhaften Angaben der Änderungsnorm und des ursprünglichen Bescheiddatums unerheblich sind (unter 3.).

    22
    1. Der Bruttoarbeitslohn des Klägers beläuft sich im Streitjahr auf 36.576 EUR. Die Abfindung zählt zwar zu den außerordentlichen Einkünften i. S. d. § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 24 Nr. 1 lit. a) EStG, ist als solche jedoch Bestandteil der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i. S. d. § 19 EStG und bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens zu berücksichtigen. Es entspricht weder der Systematik des Einkommensteuergesetzes noch dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 Satz 1 EStG („Sind in dem zu versteuernden Einkommen außerordentliche Einkünfte enthalten“), außerordentliche Einkünfte bei Ermittlung des zu versteuernden Einkommens außer Ansatz zu lassen und im Rahmen einer separaten Ermittlung zu berücksichtigen. Die Billigkeitsregelung des § 34 EStG stellt eine reine Tarifvorschrift dar, die die Ermittlung der Einkünfte unberührt lässt (u.a. Schießl in Brandis/Heuermann, Ertragsteuerrecht, § 34 EStG Rn. 5 f.). Im Einklang hiermit wurde auf der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung seitens des Arbeitgebers zutreffend bescheinigt, dass die erhaltene Entschädigung i. H. v. 9.000 EUR „in 3.“ (also dem mitgeteilten Bruttoarbeitslohn) enthalten ist (vgl. auch BMF-Schreiben vom 27.09.2017, IV C S 2378/17/10001, DStR 2017, 2226, Tz. 7). Anhaltspunkte dafür, dass die übermittelten Lohnsteuerbescheinigungen unzutreffend sein könnten, bestehen nicht.

    23
    2. Der Beklagte war auch zur Änderung der Einkommensteuerveranlagung befugt.

    24
    a) Zwar bestand keine Änderungsbefugnis nach § 129 Satz 1 AO, da keine offenbare Unrichtigkeit i. S. d. Norm vorliegt. Die ursprünglich fehlerhafte Veranlagung ist nicht auf eine bloße Unachtsamkeit, sondern auf ein bewusstes Vorgehen zurückzuführen. Denn die ursprüngliche Veranlagung beruht auf dem sachverhaltsbezogenen Denkfehler der zuständigen Sachbearbeiterin, dass die Entschädigung nicht zugleich in der für die Summe des Bruttoarbeitslohns vorgesehenen Kennzahl (47/110) eingetragen werden musste. Aus dem handschriftlich abgezeichneten Risikohinweis geht hervor, dass die Sachbearbeiterin die Abweichung zwischen den von den Klägern erklärten und den elektronisch übermittelten Daten geprüft hat. Somit muss die Sachbearbeiterin die von den Klägern vorgenommene Kürzung des in den Lohnsteuerbescheinigungen ausgewiesenen Bruttoarbeitslohns um die Abfindungssumme i. H. v. 9.000 EUR für zutreffend gehalten haben.

    25
    b) Die Änderungsbefugnis ergibt sich jedoch aus § 175b Abs. 1 AO. Danach ist ein Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit von der mitteilungspflichtigen Stelle an die Finanzbehörden übermittelte Daten i. S. d. § 93c AO bei der Steuerfestsetzung nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt wurden. § 175b AO ist ‒ ebenso wie § 93c AO ‒ nach Art. 97 § 27 Abs. 2 des Abgabenordnungs-Einführungsgesetzes (EGAO) für Besteuerungszeiträume nach 2016 anzuwenden. Auch lagen die Voraussetzungen vor.

    26
    aa) Bei den vom Arbeitgeber des Klägers nach § 41b Abs. 1 Satz 2 EStG übermittelten elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen handelt es sich um übermittelte Daten i. S. d. § 93c AO. Dies gilt auch für die nach § 41b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 EStG übermittlungspflichtige Höhe des gezahlten Arbeitslohns. Denn § 93c Abs. 1 AO erfasst nach seinem Wortlaut alle steuerlichen Daten eines Steuerpflichtigen, die auf Grund gesetzlicher Vorschriften von einer mitteilungspflichtigen Stelle an Finanzbehörden zu übermitteln sind. Hierzu gehören auch diejenigen Daten, deren Übermittlung an die Finanzbehörde erst in einem Einzelsteuergesetz („auf Grund gesetzlicher Vorschriften“) und nicht bereits in § 93c AO angeordnet wird (BFH, Urt. v. 08.09.2021, X R 5/21, BStBl. II 2022, 398).

    27
    bb) Diese Daten sind bei der Steuerfestsetzung im Rahmen des Ausgangsbescheides vom 25.09.2019 nicht zutreffend berücksichtigt worden, sodass die steuerrechtliche Behandlung materiell-rechtlich fehlerhaft war. Denn der Bruttoarbeitslohn des Klägers wurde vom Beklagten um die darin enthaltene Entschädigung gekürzt, sodass das zu versteuernde Einkommen insgesamt um 9.000 EUR zu niedrig angesetzt wurde.

    28
    Unerheblich ist hingegen, worauf die unzutreffende Auswertung beruhte. Denn nach der Gesetzesbegründung soll es für die Anwendbarkeit des § 175b AO ‒ anders als in den Fällen des § 173 AO ‒ nicht darauf ankommen, ob eine Verletzung der Mitwirkungspflichten seitens des Steuerpflichtigen oder der Ermittlungspflichten durch die Finanzbehörde vorliegt. Ebenso unerheblich ist es, ob dem Steuerpflichtigen bei Erstellung der Steuererklärung ein Schreib- oder Rechenfehler im Sinne des § 173a AO oder der Finanzbehörde bei Erlass des Steuerbescheides ein mechanisches Versehen i. S. d. § 129 AO, ein Fehler bei der Tatsachenwürdigung oder ein Rechtsanwendungsfehler unterlaufen ist (BT-Drs. 18/7457 S. 88; ebenso FG Münster, Urt. v. 09.03.2021, 1 K 2809/19 E, EFG 2021, 989 ‒ jedenfalls im Ergebnis bestätigt durch BFH, Urt. v. 08.09.2021, X R 5/21, BStBl. II 2022, 398; FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 19.10.2022, 7 K 7153/21, EFG 2023, 5; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 175b AO Rn. 3; von Wedelstädt in Gosch, AO/FGO, § 175b AO Rn. 1, 7 u. 11 f.; Rüsken in Klein, AO, § 175b Rn. 5; Klomp in BeckOK AO, § 175b Rn. 56). Demensprechend ist es unerheblich, ob die Kläger die Besteuerungsgrundlagen korrekt erklärt haben. Denn die vom Beklagten vorgenommene fehlerhafte Auswertung der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung wird dadurch nicht richtig. Im Übrigen trifft es nicht zu, dass die Kläger den vollständigen Bruttoarbeitslohn des Klägers (also ohne Kürzung der Abfindungszahlung) in ihrer Einkommensteuererklärung in einer Summe erklärt haben. Sie haben vielmehr in Kennzahl 47/110 (Bruttoarbeitslohn lt. Lohnsteuerbescheinigung nach Steuerklasse 1-5) einen Betrag i. H. v. 25.303 EUR und somit den Bruttoarbeitslohn nach Abzug der Entschädigung eingetragen. Der Eintragungsfehler war anhand der ausdrücklichen Beschreibung von Zeile 19 der Lohnsteuerbescheinigung sowohl für die Kläger als auch den Beklagten erkennbar.

    29
    Der Senat ist auch davon überzeugt, dass der Beklagte die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen bei der erstmaligen Einkommensteuerveranlagung berücksichtigt, aber falsch ausgewertet hat. Denn der vorgenommene Abgleich zwischen den elektronisch übermittelten Daten und den von den Klägern erklärten Werten ergibt sich aus dem handschriftlich abgezeichneten Prüfvermerk. Im Übrigen wäre es nach den obigen Ausführungen auch unerheblich, wenn die Finanzverwaltung die elektronisch übermittelten Daten vollständig unberücksichtigt gelassen und sich einzig auf die Angaben der Kläger verlassen hätte.

    30
    Nach Auffassung des Senats ist auch keine den Wortlaut einschränkende teleologische Reduktion des § 175b AO für die vorliegende Fallgestaltung geboten, in der die elektronisch übermittelten Daten korrekt waren und die Fehlerhaftigkeit des Steuerbescheides auf einen Fehler der Finanzverwaltung zurückzuführen ist, der wahrscheinlich ebenso bei Vorlage eines Ausdrucks der Lohnsteuerbescheinigungen durch den Steuerpflichtigen „in Papierform“ (also ohne die in § 41b Abs. 1 Satz 2 EStG vorgesehene elektronische Übermittlung) aufgetreten wäre. Denn § 175b AO soll ausweislich der Gesetzesbegründung den Fall der unzutreffenden Auswertung elektronischer Daten im steuerlichen Massenverfahren erfassen und eine umfassende Korrekturmöglichkeit zugunsten der Rechtsrichtigkeit unabhängig von der Fehlerquelle ermöglichen (wie hier: BFH, Urt. v. 08.09.2021, X R 5/21, BStBl. II 2022, 398 zur Fallgestaltung, dass der übermittelte Datensatz fehlerhaft war; Nöcker, jurisPR-SteuerR 25/2022 Anm. 2; Herbert, EFG 2023, 5, 7; offen gelassen: Kulosa, HFR 2022, 510, 512).

    31
    cc) Der Korrektur steht auch nicht § 175b Abs. 4 AO entgegen. Danach ist die Änderung nach § 175b Abs. 1 und 2 AO ausgeschlossen, wenn nachträglich übermittelte Daten i. S. d. § 93c Abs. 1 oder 3 AO nicht rechtserheblich sind. Denn es fehlt an der Nachträglichkeit, da der für die Steuerfestsetzung zuständigen Sachbearbeiterin bei Abschluss der Willensbildung die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen bereits vorlagen. Darüber hinaus kommt auch keine analoge Anwendung (etwa im Wege eines Erst-Recht-Schlusses) in Betracht. Der Sinn und Zweck des § 175b Abs. 1 AO liegt gerade darin, eine Änderungsmöglichkeit unabhängig von der Fehlerquelle zu schaffen. Hiermit wäre es nicht vereinbar, die Korrekturmöglichkeit in den Fällen auszuschließen, in denen der Finanzverwaltung alle maßgeblichen Daten vorlagen und eine zutreffende Auswertung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten war, dies aber aufgrund eines Fehlers bei der Veranlagung unterblieb.

    32
    dd) Auf Rechtsfolgenseite war der Beklagte nicht nur zur Korrektur berechtigt, sondern verpflichtet. Ein Ermessen bestand nicht (vgl. BT-Drs. 18/7457 S. 89).

    33
    3. Auch die fehlerhafte Angabe der Änderungsnorm des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO unter „Art der Festsetzung“ führt nicht zur Rechtswidrigkeit des Einkommensteuerbescheides. Denn für die Änderung kommt es nur darauf an, ob der Änderungsbescheid im Zeitpunkt seines Ergehens durch irgendeine Befugnisnorm gedeckt war (BFH, Urt. v. 19.01.2017, III R 28/14, BFHE 256, 403, BStBl. II 2017, 743 m.w.N.). Auch hat der Beklagte innerhalb des Erläuterungstextes des Einkommensteuerbescheides sowie im Einspruchsverfahren auf die Änderung nach § 175b AO hingewiesen.

    34
    Die widersprüchliche Angabe zweier Daten des Ausgangsbescheides in dem Erläuterungstext (falsches Datum: 17.09.2019; korrektes Datum: 25.09.2019) ist ebenso unschädlich. Insbesondere war der Bescheid hinreichend bestimmt i. S. d. § 119 Abs. 1 AO. Zwar ist die Angabe eines Bescheiddatums gesetzlich nicht vorgeschrieben und gehört damit nicht zum notwendigen Inhalt eines Verwaltungsaktes, sondern dient der Bescheidkennzeichnung (BFH, Urt. v. 20.11.2008, III R 66/07, BFHE 223, 317, BStBl. II 2009, 185). Jedoch muss ein Änderungsbescheid grundsätzlich den geänderten Bescheid erkennen lassen (u.a. BFH, Urt. v. 18.04.2023, VII R 59/20, BFHE nn; Urt. v. 17.12.2014, II R 2/13, BFHE 248, 238, BStBl. II 2015, 557). Hierzu genügt es, dass aus dem gesamten Inhalt des Bescheides, aus dem Zusammenhang, aus der von der Behörde gegebenen Begründung oder aus den den Beteiligten bekannten näheren Umständen des Erlasses im Wege einer am Grundsatz von Treu und Glauben orientierten Auslegung hinreichende Klarheit gewonnen werden kann (BFH, Urt. v. 18.04.2023, VII R 59/20, BFHE nn; Urt. v. 24.04.2013, II R 53/10, BFHE 241, 63, BStBl. II 2013, 755). Für die Kläger als Betroffene war unter Berücksichtigung eines „objektiven Verständnishorizonts“ trotz widersprüchlicher Datumsangabe zweifelsfrei erkennbar, dass der Ursprungsbescheid vom 25.09.2019 geändert wurde und es sich bei der weiteren Datumsangabe um ein bloßes Versehen handelte. Denn der Einkommensteuerbescheid vom 25.09.2019 war ‒ bisher ‒ der einzige vom Beklagten für das Streitjahr erlassene Steuerbescheid.

    35
    II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

    36
    III. Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO im Hinblick auf die Frage, ob § 175b Abs. 1 AO in Fällen wie dem vorliegenden teleologisch zu reduzieren ist, zugelassen.

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