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  • 20.09.2021 · IWW-Abrufnummer 224765

    Finanzgericht Schleswig-Holstein: Urteil vom 12.05.2021 – 5 K 18/19

    Wie ist die Günstigerprüfung gemäß § 10a Abs. 2 EStG zwischen der Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen und des Altersvorsorgezulagenanspruchs durchzuführen?




    In dem Rechtsstreit
    wegen Einkommensteuer 2015
    hat der 5. Senat des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts am 12.05.2021 für Recht erkannt:
    Tenor:

    Der Einkommensteuerbescheid 2015 vom 13. Juli 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2019 werden dahingehend geändert, dass die Einkommen- und die Kirchensteuer jeweils auf 0,00 € festgesetzt werden.

    Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

    Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet.

    Die Revision wird zugelassen.
    Tatbestand

    Die Beteiligten streiten über die steuerrechtliche Frage, wie die Günstigerprüfung gemäß § 10a Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) zwischen der Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen und des Altersvorsorgezulagenanspruchs durchzuführen ist.

    Die einzeln zur Einkommensteuer veranlagte Klägerin erzielte im Streitjahr Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit gemäß § 19 EStG. Daneben erhielt sie Unterhaltsleistungen (sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG). Steuerermäßigend machte die Klägerin Aufwendungen nach § 35a EStG geltend.

    Auf der Grundlage der am 27. Mai 2016 eingereichten Einkommensteuererklärung für das Kalenderjahr 2015 führte der Beklagte die Steuerveranlagung durch und setzte die Einkommensteuer mit Bescheid vom 13. Juli 2016 gegenüber der Klägerin auf 107,00 € fest. Bei der Steuerberechnung führte die automatische Überprüfung der geltend gemachten Beträge zur Altersvorsorge (Riester-Rentenvertrag) dazu, dass kein Sonderausgabenabzug erfolgte, da der Anspruch auf Zulage in Höhe von 154,00 € günstiger war. Dies ermittelte der Beklagte wie Folgt:

    1. Rechnung (ohne Altersvorsorgeaufwendungen):
    zu versteuerndes Einkommen lt. Steuerbescheid 1    2.021,00 €
    darauf tarifliche Einkommensteuer    622,00 €
    abzgl. Steuerermäßigung nach § 35a EStG, max. Wert    - 515,00 €
    festzusetzende Einkommensteuer    107,00 €

    2. Rechnung (mit Altersvorsorgeaufwendungen):
    zu versteuerndes Einkommen lt. Steuerbescheid    12.021,00 €
    abzgl. Altersvorsorgeaufwendungen    - 1.354,00 €
    zu versteuerndes Einkommen    10.661,00 €
    darauf tarifliche Einkommensteuer    355,00 €
    abzgl. Steuerermäßigung nach § 35a EStG, max. Wert     - 355,00 €
    zzgl. Altersvorsorgezulagenanspruch    154,00 €
    festzusetzende Einkommensteuer    154,00 €

    Im Ergebnis wurde die festzusetzende Einkommensteuer in einem ersten Schritt mit Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen und in einem zweiten Schritt ohne deren Berücksichtigung berechnet und im Anschluss das günstigere Ergebnis im Einkommensteuerbescheid angegeben. Bei der Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer unter Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen wurde die Steuerermäßigung nach § 35a EStG von den geltend gemachten 515,00 € auf den Betrag der durch den Beklagten programmtechnisch ermittelten tariflichen Einkommensteuer begrenzt und nur in Höhe von 355,00 € abgezogen.

    Mit Schreiben vom 11. August 2016 legte die Klägerin form- und fristgerecht Einspruch ein. Sie vertrat die Auffassung, dass die festzusetzende Einkommensteuer durch den Beklagten fehlerhaft berechnet worden sei. Wenn in § 10a Abs. 2 EStG ausdrücklich die Erhöhung der tariflichen Einkommensteuer um den Zulagenanspruch angeordnet werde, müsse die Entlastung des § 35a EStG auch diesen Erhöhungsbetrag einschließen. Eine Zwischensumme nach Abzug der Abzugsbeträge von der tariflichen Einkommensteuer mit einer sich ggf. ergebenden 0,00 €-Kappung bevor die Zurechnung nach § 10a Abs. 2 EStG vorzunehmen sei, sei danach nicht vorgesehen. Das Berechnungsschema würde für den Fall des Zusammentreffens von Minderungen (wie eben § 35a EStG) und Hinzurechnungen (wie § 10a Abs. 2 EStG) dazu führen, dass der sich ergebende Saldo aus den Veränderungsposten maßgebend sei. In diesem Sinne sei auch § 2 Abs. 6 Satz 2 EStG auszulegen.

    Mit Entscheidung vom 19. Februar 2019 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass das bundeseinheitliche Einkommensteuerprogramm die Rechtsgrundlage für die Berechnung der Einkommensteuer (§ 2 Abs. 6 EStG) zutreffend umsetze. Der Wortlaut des Gesetzes (§ 2 Abs. 6 Satz 1 EStG) gebe vor, dass bei der Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer im ersten Schritt die Steuerermäßigungen zu berücksichtigen seien. Im Streitfall sei dies die Steuerermäßigung nach § 35a EStG. "Ermäßigung" bedeute in diesem Zusammenhang, dass mathematisch keine negative Einkommensteuer entstehen könne. Die Ermäßigung beziehe sich dabei auf die tarifliche Einkommensteuer, also den Steuerbetrag, der sich aus der Anwendung des Tarifs (§ 32a EStG) ergebe. Der zusätzliche Rechenschritt "vermindert um die sonstigen Steuerermäßigungen" sei hier nicht von Relevanz, da der Sonderausgabenabzug nach § 10a EStG nicht dazu gehöre. Im Streitfall übersteige das nach § 35a EStG begünstigte "Volumen" (515,00 €) die tarifliche Einkommensteuer (355,00 €). Die Ermäßigung sei damit auf die Höhe der tariflichen Einkommensteuer begrenzt und mindere diese auf den Betrag von 0,00 €. Losgelöst von dem Gesetzesbefehl in § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG würden die Sätze 2 und 3 dieser Vorschrift die Hinzurechnungen nach den Günstigerprüfungen der §§ 10a und 31 EStG regeln. § 2 Abs. 6 Satz 2 EStG besage, dass für die Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer der Anspruch auf Zulage nach Abschnitt XI der tariflichen Einkommensteuer hinzuzurechnen sei, wenn der Gesamtbetrag der Einkünfte in den Fällen des § 10a Abs. 2 EStG um Sonderausgaben nach § 10a Abs. 1 gemindert sei. Bei der Ermittlung der dem Steuerpflichtigen zustehenden Zulage bleibe die Erhöhung der Grundzulage nach § 84 Abs. 2 EStG außer Betracht. Im Streitfall wäre die festzusetzende Einkommensteuer mit 154,00 € zu berechnen. Dieses Ergebnis sei unter Anwendung der gesetzesmäßig vorzunehmenden Überprüfung nach § 10a Abs. 2 EStG ungünstiger als die im Bescheid vom 13. Juli 2016 festgesetzte Einkommensteuer in Höhe von 107,00 €.

    Soweit sich die Klägerin auf den Wortlaut der Regelung des § 10a Abs. 2 Satz 1 EStG beziehe, verkenne sie, dass diese Regelung nicht im Widerspruch zu § 2 Abs. 6 Satz 2 EStG stehe. Während § 2 Abs. 6 Satz 2 EStG von der Hinzurechnung zur tariflichen Einkommensteuer spreche, formuliere § 10a Abs. 2 Satz 1 EStG das nämliche Ergebnis mit Erhöhung der tariflichen Einkommensteuer. Ein qualitativer Unterschied sei darin nicht zu sehen. Letztlich diene die Regelung nur der sprachlichen Einleitung des Gesetzesbefehls in § 10a Abs. 2 Satz 2 EStG ("In den anderen Fällen scheidet der Sonderausgabenabzug aus"). Zum anderen enthalte auch der Begriff "ermittelten" in § 10a Abs. 2 Satz 1 EStG nicht die ihm von der Klägerin zugemessene Bedeutung. Mit diesem Wort solle nur zum Ausdruck kommen, dass für Zwecke der Vorschrift eine fiktive Berechnung der tariflichen Einkommensteuer zu erfolgen habe. Hätte der Gesetzgeber auf dieses Wort verzichtet, könne die fiktive Berechnung nicht durchgeführt werden. Der Begriff "tarifliche Einkommensteuer" sei für sich gesehen eindeutig. Soweit die Klägerin aus der Formulierung "Erhöhung der tariflichen Einkommensteuer" ableite, dass eine "neue" Rechengröße entstehe ("maßgebliche tarifliche Einkommensteuer"), könne dem nicht gefolgt werden. Die tarifliche Einkommensteuer werde in § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG abschließend definiert. Würden die in den Sätzen 2 und 3 der Vorschrift angeordneten Hinzurechnungen diese Definition quasi außer Kraft setzen sollen, hätte der Gesetzgeber in Satz 1 der Vorschrift einen entsprechenden Vorbehalt vorsehen müssen. Das von der Klägerin angeführte Urteil des BFH vom 13. September 2012 V R 59/10 (BFHE 239, 59, BStBI. II 2013, 228) trage nicht zur Klärung der Rechtsfrage bei, weil die Anwendung des § 2 Abs. 6 EStG bei mehreren, die festzusetzende Einkommensteuer betreffenden Tatbeständen nicht Gegenstand des Rechtsstreites gewesen sei.

    Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Klage, mit der sie ergänzend vorträgt, dass die vorzunehmende Günstigerprüfung nach § 10a Abs. 2 EStG einen Vergleich der Höhe der Einkommensteuer-Ersparnis (und zwar Differenz zwischen Einkommensteuer ohne Abzug der Altersvorsorgebeträge als Sonderausgaben und Einkommensteuer mit Abzug der Altersvorsorgebeträge als Sonderausgaben) einerseits und der Höhe der zustehenden Zulage andererseits erfordere. Abzustellen sei dabei auf die Steuerersparnis durch den Sonderausgabenabzug auf der Ebene der tariflichen Einkommensteuer, die mit der Höhe des Zulagenanspruchs zu vergleichen sei. Sofern nach dem Ergebnis dieser Günstigerprüfung der Sonderausgabenabzug für den Steuerpflichtigen vorteilhafter sei, so heiße es als Folgewirkung in § 10a Abs. 2 Satz 1 EStG wörtlich: "Ist der Sonderausgabenabzug für den Steuerpflichtigen günstiger als die Zulage, erhöht sich die unter Berücksichtigung des Sonderausgabenabzugs ermittelte tarifliche Einkommensteuer um den Anspruch auf Zulage". Nach den Grundlagen der Mathematik führe eine "Erhöhung" stets zu einer Steigerung des Grundwertes (hier: der nach § 32a Abs. 1 EStG ermittelten tariflichen Einkommensteuer), d.h. es ergebe sich unmittelbar eine neue (höhere) tarifliche Einkommensteuer. Im Streitfall ergebe sich folgende Berechnung:
    zu versteuerndes Einkommen    12.021,00 €
    abzgl. Altersvorsorgeaufwendungen    1.354,00 €
    zu versteuerndes Einkommen    
    (mit Berücksichtig des Sonderausgabenabzugs)    10.667,00 €
    tarifliche Einkommensteuer    355,00 €
    zzgl. Altersvorsorgezulagenanspruch    154,00 €
    zu berücksichtigende erhöhte tarifliche Einkommensteuer    509,00 €
    abzgl. Steuerermäßigung nach § 35a EStG, max. Wert    515,00 €
    festzusetzende Einkommensteuer    0,00 €

    Der Sonderausgabenabzug der 2015 getätigten Altersvorsorgeaufwendungen sei günstiger, weil die Einkommensteuer-Ersparnis (Einkommensteuer ohne Abzug = 622,00 €, Einkommensteuer mit Abzug = 355,00 €, Differenz = 267,00 €) höher sei als die der Klägerin zustehende Zulage von 154,00 €. Nach den vorstehenden rechtlichen Regelungen führe die Altersvorsorgezulage im Falle des Abzugs der Beiträge als Sonderausgaben durch unmittelbare Erhöhung der tariflichen Einkommensteuer zu einer um diesen Betrag höheren "tariflichen Einkommensteuer", so dass sich die Steuerermäßigung nach § 35a EStG auch uneingeschränkt auf diesen erhöhten Gesamtbetrag erstrecken müsse. Es sei aus dem Gesetzestext des § 35a EStG eine Eingrenzung auf einen Abzug der Steuerermäßigung maximal auf die Höhe der "ursprünglichen" tariflichen Einkommensteuer (wie diese sich gemäß § 32a Abs. 1 EStG nach dem zu versteuernden Einkommen ergeben habe) nicht ableitbar. Die im ersten Schritt nach § 32a Abs. 1 EStG ermittelte tarifliche Einkommensteuer sei keine Konstante, sondern diese erhöhe sich in einem Folgeschritt aufgrund der ausdrücklichen Regelung des § 10a Abs. 2 EStG unmittelbar um den Betrag des Zulagenanspruchs. Diese um den Zulagenanspruch erhöhte "tarifliche Einkommensteuer" sei die tarifliche Steuer, von der aus der Abzug der Steuerermäßigung nach § 35a EStG vorzunehmen sei. Die Steuerermäßigung nach § 35a EStG solle als Steuerabzug die tarifliche Einkommensteuer mindern. Wenn in § 10a Abs. 2 EStG ausdrücklich die Erhöhung der tariflichen Einkommensteuer um den Zulagenanspruch angeordnet werde, müsse die Entlastung des § 35a EStG logischerweise auch diesen Erhöhungsbetrag miteinschließen.

    Die Klägerin beantragt,

    den Einkommensteuerbescheid 2015 vom 13. Juli 2016 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2019 aufzuheben und sowohl die Einkommensteuer 2015 als auch die Kirchensteuer auf 0,00 € festzusetzen.

    Der Beklagte beantragt

    die Klage abzuweisen.

    Zur Begründung verweist er zunächst auf den Inhalt seiner Einspruchsentscheidung. Sofern die Klägerin vortrage, die Vorgehensweise der Steuerverwaltung würde in unzulässiger Weise eine weitere Differenzierung der begrifflich vom EStG festgelegten Unterscheidung zwischen der tariflichen und der festzusetzenden Einkommensteuer ergeben, sei dieser Argumentation nicht zu folgen. § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG definiere die festzusetzende Einkommensteuer, bei der im ersten Schritt auch die Steuerermäßigungen zu berücksichtigen seien. Losgelöst von dem Gesetzesbefehl in Satz 1, würden die Sätze 2 und 3 des § 2 Abs. 6 EStG die Hinzurechnungen nach den Günstigerprüfungen der §§ 10a und 31 EStG regeln.
    Entscheidungsgründe

    I.

    Die zulässige Klage ist begründet.

    Der Einkommensteuerbescheid 2015 vom 13. Juli 2016 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2019 sind rechtwidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung -FGO-). Die Günstigerprüfung ist - abweichend von der Handhabung des Beklagten - in der von der Klägerin skizzierten Weise vorzunehmen.

    1.

    § 10a EStG wurde zum 01. Januar 2001 flankierend zu den Regelungen des Abschn. XI des EStG eingeführt. Die Vorschrift fördert den eigenverantwortlichen Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten betrieblichen oder privaten Altersvorsorge durch einen zusätzlichen Sonderausgabenabzug (Höchstgrenze, nicht Freibetrag) oder durch eine progressionsunabhängige Zulage (sog. "Kombimodell") mit Günstigerprüfung nach § 10a Abs. 2 und 3 EStG (vgl. Hamacher in: Kirchhof/Seer, Kommentar zum EStG, 20. Auflage 2021, § 10a Rz. 1). Der Sonderausgabenabzug soll sicherstellen, dass die Altersvorsorgebeiträge auch bei höheren Progressionsstufen nicht aus versteuerten Einkommen finanziert werden (vgl. Weber-Grellet in: Schmidt, Kommentar zum EStG, 39. Auflage 2020, § 10a Rz. 2).

    Gemäß § 10a Abs. 2 EStG hat das Finanzamt die Günstigerprüfung von Amts wegen vorzunehmen. Im Rahmen der Prüfung wird die Zulage mit der Steuerentlastung auf Grund des Sonderausgabenabzugs nach § 10a EStG verglichen. Überschreitet die Steuerentlastung die Zulage nicht, verbleibt es bei dieser (so der Wortlaut des § 10a Abs. 2 Satz 2 EStG). Andernfalls ist der Sonderausgabenabzug vorzunehmen. Gleichzeitig ist zur Vermeidung doppelter Begünstigung die tarifliche Einkommensteuer um den Zulagenanspruch zu erhöhen (vgl. § 10a Abs. 2 Satz 1 EStG i. V. m. § 2 Abs. 6 Satz 2 EStG). Die Reihenfolge der erforderlichen Rechenschritte, um von der tariflichen Einkommensteuer zu der festzusetzenden Einkommensteuer zu gelangen, ist in § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG festgeschrieben. Danach ist die tarifliche Einkommensteuer zunächst u.a. um Steuerermäßigungen zu vermindern und erst dann um die in dieser Vorschrift benannten Steuern zu erhöhen (vgl. u. a. BFH-Beschluss vom 28. April 2020 VI R 54/17, BFHE 269, 15, BStBl. II 2020, 544). § 2 Abs. 6 Satz 2 EStG regelt weiter, dass für die Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer der Anspruch auf Zulage nach Abschnitt XI des EStG der tariflichen Einkommensteuer hinzuzurechnen ist, wenn der Gesamtbetrag der Einkünfte in den Fällen des § 10a Abs. 2 EStG um Sonderausgaben nach § 10a Abs. 1 EStG gemindert wurde.

    Nach dem Wortlaut des Gesetzes ergibt sich folgendes Rechenschema:

    1. Schritt
    zu versteuerndes Einkommen    
    (ohne Berücksichtig des Sonderausgabenabzugs)    xx,xx €
    ergibt tarifliche Einkommensteuer    xx,xx €

    2. Schritt
    zu versteuerndes Einkommen    xx,xx €
    abzgl. Altersvorsorgeaufwendungen    xx,xx €
    zu versteuerndes Einkommen    
    (mit Berücksichtig des Sonderausgabenabzugs)    xx,xx €
    ergibt tarifliche Einkommensteuer    xx,xx €

    3. Schritt

    Vergleich der tariflichen Einkommensteuer 1. Schritt mit tariflicher Einkommensteuer 2. Schritt,

    wenn das Ergebnis lautet:

    tarifliche Einkommensteuer 2. Schritt ist günstiger als tarifliche Einkommensteuer 1. Schritt, die Differenz zwischen diesen beiden Beträgen ist günstiger als die Altersvorsorgezulage nach Abschnitt XI des EStG,

    dann folgt:

    4. Schritt
    tarifliche Einkommensteuer 2. Schritt    xx,xx €
    zzgl. Altersvorsorgezulagenanspruch    xx,xx €
    zu berücksichtigende erhöhte tarifliche Einkommensteuer    xx,xx €
    abzgl. Steuerermäßigung nach § 35a EStG, max. Wert    xx,xx €
    festzusetzende Einkommensteuer    xx,xx €

    2.

    Nach § 35a Abs. 1 EStG ermäßigt sich die tarifliche Einkommensteuer für haushaltsnahe Beschäftigungsverhältnisse, bei denen es sich um eine geringfügige Beschäftigung i.S. des § 8a des Vierten Buches Sozialgesetzbuch handelt, vermindert um die sonstigen Steuerermäßigungen, auf Antrag um 20 %, höchstens 510 €, der Aufwendungen des Steuerpflichtigen. Für andere als in Abs. 1 dieser Vorschrift aufgeführte haushaltsnahe Beschäftigungsverhältnisse oder für die Inanspruchnahme von haushaltsnahen Dienstleistungen, die nicht Dienstleistungen nach Abs. 3 dieser Vorschrift sind, ermäßigt sich die tarifliche Einkommensteuer, vermindert um die sonstigen Steuerermäßigungen, auf Antrag um 20 %, höchstens 4.000 €, der Aufwendungen des Steuerpflichtigen (§ 35a Abs. 2 Satz 1 EStG). Für die Inanspruchnahme von Handwerkerleistungen für Renovierungs-, Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen ermäßigt sich die tarifliche Einkommensteuer, vermindert um die sonstigen Steuerermäßigungen, auf Antrag um 20 % der Aufwendungen des Steuerpflichtigen, höchstens jedoch um 1.200 € (§ 35a Abs. 3 Satz 1 EStG). Die Festsetzung einer negativen Einkommensteuer in Höhe des bei Inanspruchnahme der Steuerermäßigung nach § 35a EStG nicht ausgeschöpften Ermäßigungsbetrags ist gesetzlich nicht vorgesehen. Nur wenn bei einem Steuerpflichtigen infolge der Inanspruchnahme der Steuerermäßigung nach § 35a EStG eine negative Einkommensteuer oder ein sog. Anrechnungsüberhang entsteht, kann der Steuerpflichtige weder die Festsetzung einer negativen Einkommensteuer in Höhe dieses Anrechnungsüberhangs noch die Feststellung einer rück- oder vortragsfähigen Steuerermäßigung beanspruchen (vgl. BFH-Urteil vom 29. Januar 2009 VI R 44/08, BFHE 224, 261, BStBl. II 2009, 411; BFH-Beschluss vom 28. April 2020 VI R 54/17, BFHE 269, 15, BStBl. II 2020, 544).

    3.

    Nach diesen Rechtsgrundsätzen ist die Einkommensteuerlast der Klägerin gemäß § 35a EStG bei vorab durchgeführter Günstigerprüfung (Altersvorsorgeaufwendungen/ Altersvorsorgezulage) bis auf 0,00 € zu mindern. Anders als der Beklagte meint, kommt es im Streitfall nicht zur Berücksichtigung einer negativen tariflichen Einkommensteuer bzw. einem sog. Anrechnungsüberhang.

    Unter Anwendung des sich aus dem Wortlaut des Gesetzes ergebenden Rechenschemas ergibt sich für den Streitfall die nachfolgende Berechnung:

    1. Schritt
    zu versteuerndes Einkommen    
    (ohne Berücksichtig des Sonderausgabenabzugs)    12.021,00 €
    ergibt tarifliche Einkommensteuer    622,00 €

    2. Schritt
    zu versteuerndes Einkommen    12.021,00 €
    abzgl. Altersvorsorgeaufwendungen    1.354,00 €
    zu versteuerndes Einkommen    
    (mit Berücksichtig des Sonderausgabenabzugs)    10.667,00 €
    ergibt tarifliche Einkommensteuer    355,00 €

    3. Schritt

    Vergleich der tariflichen Einkommensteuer 1. Schritt mit tariflicher Einkommensteuer 2. Schritt,

    das Ergebnis lautet:

    Die tarifliche Einkommensteuer 2. Schritt ist bei einem Betrag von 355,00 € günstiger als tarifliche Einkommensteuer 1. Schritt mit einem Betrag in Höhe von 622,00 €. Die Differenz zwischen diesen beiden Schritten ist mit einem Betrag in Höhe von 267,00 € Steuerminderung günstiger als die Altersvorsorgezulage in Höhe von 154,00 €,

    dann folgt:

    4. Schritt
    tarifliche Einkommensteuer 2. Schritt    355,00 €
    zzgl. Altersvorsorgezulagenanspruch    154,00 €
    zu berücksichtigende erhöhte tarifliche Einkommensteuer    509,00 €
    abzgl. Steuerermäßigung nach § 35a EStG, max. Wert    515,00 €
    festzusetzende Einkommensteuer    0,00 €

    Da die festzusetzende Einkommensteuer negativ wäre, ist sie auf 0,00 € begrenzt. Der darüberhinausgehende Erstattungsbetrag verfällt.

    4.

    Die vom Beklagten vorgenommene Berechnung ist nach Auffassung des Senates von der Systematik des Gesetzes nicht gedeckt.

    Der Beklagte mindert die tarifliche Einkommensteuer, die im Schritt 1 und Schritt 2 ermittelt wurde, nach § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG um die Ermäßigungen nach § 35a EStG um dann im Anschluss die Regelung des § 2 Abs. 6 Satz 2 EStG zu berücksichtigen und die Zulage am Ende hinzuzurechnen. Der Satz 2 des § 2 Abs. 6 EStG schreibt aber den Satz 1 des § 2 Abs. 6 EStG fort und bestimmt für den Fall, dass der Gesamtbetrag der Einkünfte in den Fällen des § 10a Abs. 2 EStG um Sonderausgaben nach § 10a Abs. 1 EStG gemindert ist, dass für die Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer der Anspruch auf Zulage nach Abschnitt XI der tariflichen Einkommensteuer hinzuzurechnen ist. D. h. die tarifliche Einkommensteuer erhöht sich bei Berücksichtigung des Sonderausgabenabzuges um den Anspruch auf Zulage (vgl. § 10a Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz EStG). Im Ergebnis ergibt sich eine tarifliche Einkommensteuer, die die Zulage mitumfasst. Danach erfolgt der Abzug der Ermäßigungen nach § 35a EStG.

    5.

    Auch Sinn und Zweck der Einkommensbesteuerung sprechen für den Abzug des § 35a EStG im Anschluss an die Hinzurechnung der Zulage auf die tarifliche Einkommensteuer. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Meistbegünstigung ist die bei zwei möglich erscheinenden Varianten diejenige zu wählen, die dem Steuerpflichtigen die größtmögliche Steuerersparnis verschafft, sofern sie vom Gesetz gedeckt ist (vgl. zum Grundsatz der Meistbegünstigung BFH-Urteil vom 14. Juli 2010 X R 61/08, BFHE 230, 161, BStBl. II 2010, 1011).

    R.2 Abs. 2 EStR sieht zwar zunächst den Abzug der Steuerermäßigung nach § 35a EStG und anschließend die Hinzurechnung der Zulage für Altersvorsorge vor. Im Ergebnis führt der durch den Beklagten insoweit vorgenommene Abzug der § 35a-Ermäßigung von der tariflichen Einkommensteuer nach Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen ohne Abgleich mit der tariflichen Einkommensteuer ohne Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen dazu, dass sich im Streitfall nicht das für die Klägerin günstigste Ergebnis ergibt. Der Senat ist an diese Verwaltungsvorschrift jedoch nicht gebunden.

    Die Anwendung des Grundsatzes der Meistbegünstigung und damit die vorrangige Hinzurechnung der Altersvorsorgezulage zur tariflichen Einkommensteuer bewirkt nicht, solche Altersvorsogemaßnahmen zusätzlich zu begünstigen. Vielmehr führt der Grundsatz der Meistbegünstigung lediglich dazu, dem Steuerpflichtigen, soweit wie möglich, die ihm gesetzlich zustehende Steuermäßigung zu erhalten (vgl. zum Grundsatz der Meistbegünstigung BFH-Urteil vom 14. Juli 2010 X R 61/08, BFHE 230, 161, BStBl. II 2010, 1011). Letztlich hat nicht jeder Steuerpflichtige Aufwendungen, die nach § 35a EStG abzugsfähig sind.

    II.

    Die Entscheidung konnte im erklärten Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung ergehen.

    Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 143 Abs. 1, 135 Abs. 1 FGO.

    Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 und 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).

    Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache war die Revision zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Dem BFH liegt mit dem Verfahren III R 34/19 bereits ein ähnlich gelagerter Fall zur Entscheidung vor. Zwar betrifft dieser Fall die Günstigerprüfung zwischen Kindergeld und Kinderfreibetrag, das Ergebnis könnte aber ebenso die vorliegende Rechtsfrage betreffen.
    Hinweis:

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