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  • 21.09.2012 · IWW-Abrufnummer 130168

    Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern: Beschluss vom 19.06.2012 – 1 V 30/12

    1. Unter Berücksichtigung der jüngsten – geänderten – Rechtsprechung des BFH zu der Frage, wann bei der Geltendmachung von Fahrtkosten als Werbungskosten für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte eine regelmäßige Arbeitsstätte vorliegt (BFH v. 9.2.2012, VI R 44/10), erscheint ernstlich zweifelhaft i. S. d. § 69 FGO, ob der Aufwand eines volljährigen Kindes für Fahrten zwischen seinem Lebensmittelpunkt, der elterlichen Wohnung, und seiner betrieblichen Ausbildungsstätte lediglich mit der Entfernungspauschale gem. § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG zu ermitteln ist. Die Aufwendungen könnten nunmehr gem. § 9 Abs. 1 S. 1 EStG in tatsächlicher Höhe anzusetzen sein. Zwischen den Fahrten zu einer Universität oder zu einem Ausbildungsbetrieb ist unter dem Aspekt einer vorübergehenden Tätigkeit nicht zu unterscheiden.
    2. Die innerhalb der Einspruchsfrist abgegebene Erklärung eines Kindergeldberechtigten „den Einspruch aufrechtzuerhalten”, ist dahin auszulegen, dass sich dieser den vom volljährigen Kind eingelegten Einspruch inhaltlich zu eigen macht und zugleich die Einspruchseinlegung durch das Kind auch in seinem Namen nachträglich genehmigt.


    BESCHLUSS
    In dem Verfahren
    hat der 1. Senat des Finanzgerichts Mecklenburg-Vorpommern am 19. Juni 2012 durch …
    beschlossen:
    Die Vollziehung des Kindergeldbescheides vom 13.2.2012 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.3.2012 wird bis zum Ablauf von einem Monat nach der Zustellung einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren 1 K 126/12 ausgesetzt.
    Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
    Die Beschwerde wird zugelassen.
    Der Streitwert wird auf 184,00 EUR festgesetzt.
    Gründe
    I.
    Streitig ist Kindergeld für die Zeit von März bis Dezember 2011.
    Die Antragstellerin bezog für den in ihrem Haushalt in T., lebenden, am …02.1993 geborenen Sohn (S) Kindergeld. S begann am 1.9.2009 eine voraussichtlich 2013 endende Berufsausbildung zum … bei der Hochschule in W. In W hatte S eine Wohnung für monatlich 290,00 EUR gemietet. Nebenkosten der Wohnung gab er mit 29,00 EUR monatlich an. Die einfache Entfernung zwischen der Wohnung der Antragstellerin in T und der Ausbildungsstelle des S in W betrug nach den Angaben der Antragstellerin 100 km.
    Am 3.1.2011 beantragte die Antragstellerin die Weiterzahlung des Kindergeldes für den im Februar 2011 volljährig werdenden S. Unter dem 7.2.2011 ging bei der Antragsgegnerin eine Erklärung zum Ausbildungsverhältnis des S und zu dessen Einkünften ein. Danach bezog S seit September 2010 eine Bruttoausbildungsvergütung i. H. v. monatlich 754,42 EUR, davon betrug der Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung (AN-Ant. SV) 152,58 EUR; ab September 2011 sollte die Ausbildungsvergütung 801,05 EUR und der AN-Ant. SV 162,01 EUR betragen. Für November 2011 war eine Sonderzuwendung von 572,75 EUR, davon AN-Ant. SV 115,84 EUR, vorgesehen. S bezog daneben Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) i. H. v. 122,60 EUR monatlich. Er machte Werbungskosten i. H. v. 4.738,50 EUR (ab März 2011 34 Heimfahrten × 100 km × 0,30 EUR × 2 = 2.040 EUR; Kontoführungsgebühr ab März anteilig pauschal 12,00 EUR (von 16,00 EUR jährlich); Arbeitsmittelpauschale ab März anteilig 76,50 EUR (von 102,00 EUR jährlich); doppelte Haushaltsführung in W.: 2.610,00 EUR Miete für 9 Monate) geltend. Daraufhin erstellte die Antragsgegnerin am 5.4.2011 eine vorausschauende Berechnung der Einkünfte und Bezüge des S für 2011. Sie prognostizierte unter Berücksichtigung von Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Ausbildungsstätte i. H. v. 1.020,00 EUR (34 Heimfahrten × 100 km × 0,30 EUR), dass S die Einkommensgrenze von anteilig 6.670,00 EUR (10/12 von 8.004,00 EUR) für die Zeit von März – Dezember 2011 mit der Summe aller Einnahmen für März – Dezember 2011 i. H. v. 6.603,96 EUR unterschreiten werde und zahlte das Kindergeld weiterhin aus. Auf die Berechnung vom 5.4.2011, (Bl. 27 Kindergeldakte) wird Bezug genommen.
    Die Antragstellerin erklärte unter dem 10.1.2012 erneut die Einkünfte und Bezüge des S u. a. für 2011. Danach hatte S neben der BAB i. H. v. 122,60 EUR monatlich tatsächlich folgende Ausbildungsvergütung erhalten: Januar – März 2011: 754,42 EUR Bruttomonatsentgelt; davon 152, 49 EUR AN-Ant. SV; April – August 2011: 765,74 EUR Bruttomonatsentgelt; davon 154,79 EUR AN-Ant. SV; September – Dezember 2011: 813,07 EUR Bruttomonatsentgelt, davon 164,34 EUR AN-Ant. SV. Mai 2011: Einmalzahlung i. H. v. 120,00 EUR, davon 24,25 EUR AN-Ant. SV; November 2011: Jahressonderzahlung i. H. v. 581,35 EUR, davon 117,51 EUR AN-Ant- SV. Auf einem gesonderten Blatt waren Werbungskosten i. H. v. 5.025,50 EUR (ab März 34 Heimfahrten × 100 km × 0,30 EUR × 2 = 2.040 EUR; Arbeitsmittelpauschale für 9 Monate = 76,50 EUR; doppelte Haushaltsführung für 9 Monate: 2.610,00 EUR Miete und 299,00 EUR Nebenkosten) zusammengestellt.
    Die Antragsgegnerin hob die Festsetzung des Kindergeldes gegenüber der Antragstellerin für den Zeitraum von März – Dezember 2011 mit Bescheid vom 13.2.2012 auf und forderte überzahltes Kindergeld i. H. v. 1.840,00 EUR zurück. Zur Begründung gab sie im Wesentlichen an, dass S im Februar 2011 das 18. Lebensjahr vollendet habe und seine danach anteilig zu berücksichtigenden Einkünfte und Bezüge i. H. v. 6.960,59 EUR den anteiligen Grenzbetrag gem. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG i. H. v. 6.670,00 EUR überschritten hätten. Als Werbungskosten hatte die Antragsgegnerin den anteiligen Arbeitnehmer-Pauschbetrag i. H. v. 833,33 EUR (10/12 von 1.000 EUR) berücksichtigt. Auf die Berechnung vom 13.2.2012 wird Bezug genommen (Bl. 35 Kindergeldakte)
    Dagegen legte S am 22.2.2012 Einspruch ein und beantragte, die Vollziehung des Bescheides auszusetzen. Zur Begründung gab er an, vollständige Angaben zu seinen Einkünften gemacht zu haben, er könne das Kindergeld nicht zurückzahlen. Unter dem 6.3.2012 erklärte die Antragstellerin auf einem Vordruck, den Einspruch aufrecht zu erhalten.
    Mit Einspruchsentscheidung vom 15.3.2012 wies die Antragsgegnerin den Einspruch der Antragstellerin zurück. Zur Begründung trug sie im Wesentlichen vor, die Einkünfte und Bezüge des S i. H. v. von 6.773,92 EUR – anteilig für die Zeit von März bis Dezember 2011 – überschritten den anteiligen Grenzbetrag von 6.670,00 EUR, weshalb die Kindergeldfestsetzung ab März 2011 aufzuheben und der überzahlte Betrag zurückzuerstatten sei. Bei den Einkünften des S könne nur die Entfernungspauschale für Fahrten zwischen Wohnung und Ausbildungsstätte i. H. v 1.020 EUR (34 × 100 km × 0,30 EUR) als besonderer Ausbildungsaufwand abgezogen werden. Kosten einer doppelten Haushaltsführung könne S nicht geltend machen, da er keinen eigenen Hausstand im Hause seiner Eltern in T. gehabt habe. Pauschal geltend gemachte Kosten für eine Kontoführung und für Arbeitsmittel könnten nicht anerkannt werden, im Rahmen der Grenzbetragsermittlung müsse Aufwand tatsächlich belegt werden.
    Am 15.3.2012 mahnte die Bundesagentur für Arbeit (BfA) die ausstehende Kindergelderstattung bei der Antragstellerin an und wies darauf hin, dass, wenn die Zahlung ausbleibe, die kostenpflichtige zwangsweise Einziehung der Forderung veranlasst werde.
    Am 21.3.2012 erhob die Antragstellerin Klage (1 K 126/12). Zur Begründung verwies sie auf die von S für 2012 bereits geltend gemachten Werbungskosten i. H. v. 4.738,50 EUR, die von den Einkünften des S abzuziehen seien, so dass der Grenzbetrag nicht überschritten werde.
    Am 22.3.2012 hat die Antragstellerin unter Hinweis auf die Klagebegründung um vorläufigen Rechtsschutz ersucht.
    Dem Vorbringen der Antragstellerin ist der Antrag zu entnehmen,
    die Vollziehung des angefochtenen Kindergeldbescheides vom 13.2.2012 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung 15.3.2012 bis zur Rechtskraft der Entscheidung im Klageverfahren 1 K 126/12 in vollem Umfang auszusetzen.
    Die Antragsgegnerin beantragt,
    den Antrag zurückzuweisen.
    Sie hält die maßgebliche Einkommensgrenze weiterhin für überschritten.
    Dem Senat lag ein Band Kindergeldakten vor.
    II.
    Der Antrag ist zulässig.
    Insbesondere war der Kindergeldbescheid vom 13.2.2012 gegenüber der Antragstellerin nicht bestandskräftig geworden. Die Erklärung der Antragstellerin vom 6.3.2012 (Bl. 45 der Kindergeldakte), „den Einspruch aufrechtzuerhalten”, ist dahin auszulegen, dass sie sich den von S am 22.2.2012 gegen den Bescheid vom 13.2.2012 eingelegten Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist (§ 355 Abs. 1 Abgabenordnung – AO –), die frühestens am 17.3.2012 abgelaufen wäre, inhaltlich zu eigen gemacht hat, mithin selbst fristgerecht als Einspruchsführerin aufgetreten ist. Darin liegt zugleich die nachträgliche Genehmigung der Einspruchseinlegung durch den damals fachlich nicht beratenen S (auch) in ihrem Namen. Das hat die Antragsgegnerin ebenfalls so verstanden, denn die Einspruchsentscheidung hat sie an die Antragstellerin als Einspruchsführerin gerichtet.
    Die BfA hat – aus der dafür maßgebenden Sicht der Antragstellerin – die Vollstreckung angedroht (§ 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 Finanzgerichtsordnung – FGO –). Nach der Ankündigung der Vollstreckung in dem Schreiben vom 15.3.2012 musste die Antragstellerin davon ausgehen, dass die BfA, worauf sie ausdrücklich hingewiesen hatte, die Vollstreckung einleiten werde, falls der offene Betrag nicht freiwillig entrichtet würde (vgl. BFH-Beschluss vom 22.11.2000, V S 15/00, BFH/NV 2001,620). Außerdem hat die Antragsgegnerin über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung vom 22.2.2012 ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden, § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 FGO. Die Voraussetzungen des § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 FGO sind erfüllt, wenn die Finanzbehörde (hier die Familienkasse) eine die Steuerfestsetzung betreffende Einspruchsentscheidung erlassen, den gleichzeitig mit der Einlegung des Einspruches gestellten AdV-Antrag aber ohne Angabe von Gründen nicht beschieden hat (Koch in Gräber, FGO, 7. Aufl. § 69 Tz. 80 unter Hinweis auf einschlägige Rechtsprechung). So liegt es hier. Das gilt zwar nicht, wenn der Einspruch oder der AdV-Antrag nicht näher begründet worden ist. Vorliegend ist aber davon auszugehen, dass Einspruch und AdV-Antrag hinreichend begründet waren. In dem Einspruch vom 22.2.2012 war auf die für das Jahr 2011 unter dem 10.1.2012 „vollständig gemachten Angaben” verwiesen worden, denen eine Auflistung von Werbungskosten des S für 2011 i.H.v. 4.738,50 EUR (vom 28.3.2011, ohne Mietnebenkosten) bzw. 5.025,00 EUR (vom 10.1.2012 mit Mietnebenkosten) beigelegen hatte und die, wären sie anzuerkennen, zur Unterschreitung des Grenzbetrages geführt hätten.
    Der Antrag ist begründet.
    Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Sätze 2 – 6 FGO).
    Vorliegend bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Kindergeldaufhebung und an der Erstattungsforderung.
    Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 über- oder unterschreiten. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen bei summarischer Betrachtung nicht vor. Nach der Prognose der Antragsgegnerin vom 5.4.2011, die Grundlage der Weiterzahlung des Kindergeldes ab März 2011 war, überschritten die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge des S i. H. v. 6.603,96 EUR den anteiligen Grenzbetrag von 6.670,00 EUR für die Zeit von März – Dezember 2011 nicht. Der Prognoseberechnung lagen die vom Ausbildungsbetrieb bestätigten Angaben zu den – teils voraussichtlichen – Einkünften des S vom 7.2.2011 für das Jahr 2011 zugrunde. Nach Ablauf des Kalenderjahres 2011 ergaben sich aus der Erklärung zum Ausbildungsverhältnis und zu den Einkünften des S vom 10.1.2012 zwar tatsächlich höhere Einkünfte als die, die der Prognose zugrunde gelegen haben. So betrug die Bruttoausbildungsvergütung von April – August 2011 tatsächlich 765,74 EUR monatlich (nach der Prognose 754,42 EUR), ab September 2011 tatsächlich 813,07 EUR monatlich (nach der Prognose 801,05 EUR). Im Mai 2011 erhielt S eine in der Prognose noch nicht berücksichtigte Einmalzahlung von 120,00 EUR und im November 2011 eine Jahressonderzahlung von 581,35 EUR (nach der Prognose 572,75 EUR). Auf der Grundlage der Angaben in der Erklärung vom 10.1.2012 berechnete die Antragsgegnerin die Einkünfte und Bezüge des S erneut und kam zu dem Ergebnis, dass die Summe aller Einnahmen i. H. v. 6.773,92 EUR den maßgeblichen Grenzbetrag für die Zeit von März – Dezember 2001 (6.670,00 EUR) überschritten habe. Auf die Berechnung vom 15.3.2012 (Bl. 47 der Kindergeldakte) wird Bezug genommen.
    Unter Berücksichtigung der jüngsten – geänderten – Rechtsprechung des BFH zu der Frage, wann bei der Geltendmachung von Fahrtkosten als Werbungskosten für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte eine regelmäßige Arbeitsstätte vorliegt (BFH-Urteil vom 9.2.2012 VI R 44/10, BFH/NV 2012,854), erscheint jedoch ernstlich zweifelhaft, ob die Antragsgegnerin den Aufwand des S für Fahrten zwischen seinem Lebensmittelpunkt, der elterlichen Wohnung in T., und seiner Ausbildungsstätte in W. zutreffend berücksichtigt hat. Ausbildungsbedingter Mehrbedarf ist, wenn er mit erzielten steuerpflichtigen Einnahmen – wie im Streitfall – im Zusammenhang steht, gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG bei diesen, andernfalls gem. § 32 Abs. 4 Satz 3 EStG von der Summe aus Einkünften und Bezügen abzuziehen. Zu ausbildungsbedingten Mehraufwendungen zählen auch Aufwendungen für Fahrten von und zu einer weiter entfernt liegenden Wohnung zum Ausbildungsort, wenn diese Wohnung den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Kindes bildet. Der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Kindes wird sich regelmäßig bei der Wohnung des Kindergeldberechtigten befinden, zu dessen Haushalt das Kind gehört (z. B. BFH-Urteil vom 25.7.2001 VI R 77/00, BStBl II 2002,12). Nach bisheriger Rechtsprechung waren diese Fahrtkosten allerdings nicht mit den bei Dienstreisen, sondern mit den bei Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte zum Zuge kommenden Beträgen anzusetzen (BFH-Urteil vom 25.7.2001 VI R 77/00, BStBl II 2002,12). Dem war die Antragsgegnerin gefolgt, indem sie Fahrten des S vom Lebensmittelpunkt in T. nach der Ausbildungsstätte in W. und zurück nach dem Entfernungspauschalemaßstab des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG, d. h. nur mit einfacher Entfernung, berücksichtigt hat (34 Fahrten × 100 km × 0,30 EUR = 1.020,00 EUR). Die Aufwendungen des S für die Fahrten zur Ausbildungsstätte nach W. und zurück könnten nunmehr aber gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG in tatsächlicher Höhe anzusetzen sein, d. h. erhöht um weitere 1.020,00 EUR, insgesamt mit 2.040,00 EUR, mit der Folge, dass der Grenzbetrag unterschritten wird. Das könnte aus der geänderten Rechtsprechung des BFH zu Fahrtkosten im Rahmen eines Ausbildungsverhältnisses in dem Urteil vom 9.2.2012 VI R 44/10, BFH/NV 2012,854 folgen. Darin hat der BFH unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsauffassung als tragenden Grund für die Nichtanwendbarkeit der Entfernungspauschale ausgeführt: „Denn auch wenn die berufliche Fort- oder Ausbildung die volle Arbeitszeit des Steuerpflichtigen in Anspruch nimmt, ist eine Bildungsmaßnahme, auch wenn sie sich (…) über einen längeren Zeitraum erstreckt, regelmäßig vorübergehend und nicht auf Dauer angelegt. Wie bei einer Auswärtstätigkeit (…) hat in einem solchen Fall der Steuerpflichtige typischerweise nicht die vorbezeichneten Möglichkeiten [Bildung von Fahrgemeinschaften; Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, entsprechende Wohnsitznahme], seine Wegekosten gering zu halten (…). Damit ist eine Ausnahme von dem sonst geltenden Grundsatz der unbeschränkten Abzugsfähigkeit von Werbungskosten in den Fällen der vollzeitigen Aus- und Fortbildung nicht gerechtfertigt.” Der BFH hat als entscheidend für die Nichtanwendung der Entfernungspauschale als Einschränkung des objektiven Nettoprinzips angesehen, dass der Steuerpflichtige wegen der nur vorübergehenden Tätigkeit an einer Ausbildungsstätte insbesondere nicht diejenigen Möglichkeiten zur Minderung der Wegekosten hat, die ein Arbeitnehmer hat, der sich in unterschiedlicher Weise auf die immer gleichen Wege einstellen und so auf die Minderung der Wegekosten hinwirken kann. Das trifft auch auf den in einem Ausbildungsverhältnis stehenden S zu, der sich seit dem 1.9.2009 bis voraussichtlich zum 28.2.2013 in einem von vornherein nur befristeten, also vorübergehenden Berufsausbildungsverhältnis zum … bei der Hochschule W. befindet. Der Umstand, dass es sich bei der Ausbildungsstätte, die dem vom BFH entschiedenen Fall zugrunde lag, um eine Universität handelte, während es sich bei der im vorliegenden Fall in Rede stehenden Ausbildungsstätte um einen Ausbildungsbetrieb handelt, stellt unter dem Aspekt der in beiden Fällen nur „vorübergehenden Tätigkeit” kein erkennbares Differenzierungskriterium dar.
    Der BFH hat in einer ergänzenden Begründung weiter dargelegt, dass „im Übrigen eine regelmäßige Arbeitsstätte i. S. d. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG nur im Rahmen bezahlter Arbeit typischerweise als Tätigkeitsmittelpunkt eines Arbeitnehmers in Betracht komme, nur insoweit sei die Beschränkung des objektiven Nettoprinzips auch gerechtfertigt” (BFH-Urteil vom 9.2.2012 VI R 44/10, BFHNV 2012,644; vgl. auch BFH-Urteil vom 9.2.2012 VI R 42/11, BFH/NV 2012,856). Einem solchen Bild der Arbeitsstätte als „Tätigkeitsmittelpunkt eines bezahlten Arbeitnehmers” kommt zwar auch eine Betriebsstätte nahe, in der Auszubildende von ihrem Arbeitgeber für einen Handwerksberuf ausgebildet werden und eine Vergütung erhalten. Entscheidend für die Möglichkeit der Minderung der Wegekosten bleibt jedoch, dass der Steuerpflichtige eben nicht nur vorübergehend an der einschlägigen Arbeits-/Ausbildungsstätte tätig ist. Für den vorliegenden Streitfall dürfte der ergänzenden Begründung des BFH daher keine maßgebliche Bedeutung zukommen. Die Entscheidung, ob die geänderte Rechtsprechung des BFH zur „vorübergehenden Ausbildungsstätte” mit der Folge des vollen Werbungskostenabzuges für Fahrtkosten auch auf betriebliche Ausbildungsverhältnisse anwendbar ist, muss der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
    Die Grenzbetragsberechnung für 2011, aus der sich ergibt, dass S den Grenzbetrag unter Zugrundelegung des BFH-Urteils vom 9.2.2012 VI R 44/10 nicht überschreitet und damit ein nachträgliches Bekanntwerden einer Grenzbetragsüberschreitung gem. § 70 Abs. 4 EStG nicht vorliegt, sieht wie folgt aus:
    Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit (Ausbildungsvergütung):
    Lfd. Vergütung 1.3. – 31.3. = 754,42 EUR – 152,49 EUR (AN-Ant.SV) = 601,93 × 1 = 601,93 EUR.
    Lfd. Vergütung 1.4. – 31.8. = 765,74 EUR – 154,79 EUR (AN-Ant.SV) = 610,95 EUR × 5 = 3.054,75 EUR
    Lfd Vergütung 1.9. – 31.12. = 813,07 EUR – 164,34 EUR (AN-Ant.SV) = 648,73 EUR × 4 = 2.594,92 EUR.
    Einkünfte aus Januar 2011 (sog. Kürzungsmonat) waren außer Ansatz zu lassen, da die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG (Volljährigkeit des S und – hier – Berufsausbildung) „an keinem Tag des Monats” vorlagen, § 32 Abs. 4 Satz 8 i. V. m. Satz 7 EStG.
    Für den „Wechselmonat” Februar gilt § 32 Abs. 4 Satz 6 EStG. Danach sind Einkünfte und Bezüge, wenn die Voraussetzungen nach Satz 1 Nummer 1 oder 2 nur in einem Teil des Kalendermonats vorliegen, nur insoweit anzusetzen, als sie auf diesen Teil entfallen. Da S am 25. 2. 2011 das 18. Lebensjahr vollendet hatte, lagen ab diesem Tag die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a) EStG (volljähriges Kind in Berufsausbildung) vor. Einkünfte und Bezüge des S waren im Februar ab diesem Tag taggenau zu berücksichtigen.
    Lfd Vergütung 25.2. – 28.2. = 601,93: 28 × 4 Tage = 85,99 EUR.
    Sonderzuwendungen:
    1.1. – 31.12. = 120,00 EUR – 24,25 (AN-Ant.SV) = 95,75 EUR : 12 × 10 Monate = 79,79 EUR
    1.1. – 31.12. = 581,35 EUR – 117,51 (AN-Ant.SV = 463,84 EUR: 12 × 10 Monate = 386,53 EUR.
    Wechselmonat Februar: 559,59 EUR (95,75 EUR + 463,84 EUR): 365 × 4 Tage = 6,13 EUR.
    Von den Einkünften des S sind gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG die Fahrtkosten zwischen seinem Lebensmittelpunkt in T. und der Ausbildungsstätte in W. als Werbungskosten abziehbar, und zwar, wie dargelegt, in tatsächlicher Höhe (mit 0,30 EUR je Fahrtkilometer als pauschalem Kilometersatz – BMF vom 20.8.2001,BStBl I S. 541): 34 Heimfahrten × 100 km × 2 × 0,30 EUR = 2.040,00 EUR. Weitere Werbungskosten waren nicht zu berücksichtigen. Aufwendungen für die auswärtige Unterbringung des S (Miete, Nebenkosten) gehören zu den Kosten der Lebensführung. Sie sind im Grenzbetrag berücksichtigt und nicht abziehbar (BFH-Urteile vom 14.11.2000 VI R 52/98, BStBl II 2001,489 und vom 25.7.2001 VI R 77/00, BStBl II 2002,12; Loschelder in Schmidt, EStG, 30. Aufl. § 32 Tz. 59). Eine doppelte Haushaltsführung des S i. S. d. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG lag nicht vor. Eine solche besteht nur dann, wenn der Steuerpflichtige am Beschäftigungsort wohnt und außerhalb dieses Beschäftigungsortes einen eigenen Hausstand unterhält, der der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen ist (Drenseck in Schmidt, EStG, 30. Aufl. § 9 Tz. 141). Die Antragsgegnerin hat zutreffend darauf hingewiesen, dass S in T. in den Haushalt der Antragstellerin aufgenommen war und nichts dafür spricht, dass er dort einen eigenen Hausstand unterhalten hat. Tatsachen hierzu wurden auch nicht vorgetragen. Tatsächlicher Aufwand des S für Kontoführung und für Arbeitsmittel wurde nicht belegt. Hierfür ist die Antragstellerin nachweispflichtig, sie trägt insoweit die Beweislast.
    Bezüge (BAB) :
    1.2. – 31.12. = 122,60 EUR × 10 Monate = 1.226,00 EUR – 150,00 EUR Kostenpauschale (10/12 von 180 EUR) = 1.076 EUR.
    Wechselmonat Februar: 122,60 EUR: 28 × 4 Tage = 17,51 EUR – 1,97 EUR Kostenpauschale (122,60 EUR: 28 × 4 Tage) = 15,54 EUR.
    Die Einkünfte und Bezüge des S betragen danach 5.861,58 EUR (601,96 EUR + 3.054,75 EUR + 2.594,92 EUR + 85,99 EUR + 79,79 EUR + 386,53 EUR+ 6,13 EUR = 6.810,04 EUR; abzgl. 2.040,00 EUR = 4.770,04 EUR; zzgl 1.076,00 EUR + 15,54 EUR).
    Der Grenzbetrag beträgt unter Berücksichtigung von § 32 Abs. 3 EStG (vgl. Loschelder in Schmidt, EStG, 30. Aufl. § 32 Tz.62) vorliegend 6.670,00 EUR (10/12 von 8004 EUR), § 32 Abs. 4 Satz 7 i. V. m Satz 6 und Satz 2 EStG. Die Einkünfte und Bezüge des S (5.861,58 EUR) überschreiten den Grenzbetrag folglich nicht, S wäre gem. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a) EStG für die Zeit von März – Dezember 2011 berücksichtigungsfähig.
    Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.
    Der Senat hat die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, § 128 Abs. 3 FGO i. V. m § 115 Abs. 2 FGO. Es erscheint klärungsbedürftig, ob die vom BFH entwickelte Rechtsauffassung, wonach eine Bildungseinrichtung nicht als regelmäßige Arbeitsstätte i. S. d. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG anzusehen ist, auch wenn diese vom Steuerpflichtigen häufig über einen längeren Zeitraum hinweg aufgesucht wird, auf Ausbildungsstätten im Rahmen einer betrieblichen Berufsausbildung anzuwenden ist.
    Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG).

    VorschriftenEStG § 9 Abs. 1 S. 1, EStG § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4, EStG § 32 Abs. 4 S. 3, EStG § 32 Abs. 4 S. 2, AO § 355 Abs. 1, AO § 350, BGB § 133, BGB § 157, FGO § 69 Abs. 2 S. 2, FGO § 69 Abs. 3 S. 1

    Karrierechancen

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