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  • 05.01.2010 · IWW-Abrufnummer 100021

    Bundesgerichtshof: Urteil vom 05.11.2009 – IX ZR 237/08

    Eine Zusatzgebühr nach RVG VV Nr. 4141 fällt nicht an, wenn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren durch die anwaltliche Mitwirkung eingestellt und die Sache zur Verfolgung der Tat als Ordnungswidrigkeit an die Verwaltungsbehörde abgegeben wird.


    Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
    auf die mündliche Verhandlung vom 5. November 2009
    durch
    den Vorsitzenden Richter Dr. Ganter,
    die Richter Raebel, Prof. Dr. Kayser,
    die Richterin Lohmann und
    den Richter Dr. Pape
    für Recht erkannt:
    Tenor:
    Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 13. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg vom 11. Juli 2008 aufgehoben.
    Die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Nordenham vom 28. März 2008 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
    Von Rechts wegen
    Tatbestand:
    Der Kläger beauftragte einen Rechtsanwalt, ihn in einem wegen eines Verkehrsunfalls gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren zu vertreten. Der Rechtsanwalt nahm gegenüber der Staatsanwaltschaft für den Kläger Stellung. Die Staatsanwaltschaft stellte das Strafverfahren ein und gab die Sache an die für die Verfolgung der dem Kläger vorgeworfenen Tat als Ordnungswidrigkeit zuständige Verwaltungsbehörde ab.
    Gegenüber dem beklagten Rechtsschutzversicherer des Klägers rechnete der Rechtsanwalt neben der Grundgebühr und der Verfahrensgebühr für das vorbereitende Verfahren auch eine zusätzliche Gebühr für die Erledigung des Verfahrens ohne Hauptverhandlung ab. Die Beklagte vertrat die Ansicht, diese Gebühr sei nicht angefallen.
    Im vorliegenden Rechtsstreit verlangt der Kläger Freistellung von der Zusatzgebühr nebst Umsatzsteuer (insgesamt 166,60 EUR). Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen; das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision will die Beklagte die Wiederherstellung des Urteils des Amtsgerichts erreichen.
    Entscheidungsgründe:
    Die Revision hat Erfolg.
    I.
    Das Berufungsgericht, dessen Urteil in BRAK-Mitt. 2009, 40 veröffentlicht ist, hat ausgeführt: Die zusätzliche Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG entstehe auch dann, wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO zur Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit an die Verwaltungsbehörde abgebe. Der in Nr. 4141 VV RVG verwandte Begriff "Verfahren" bezeichne ausschließlich das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, wie sich aus einer Gesamtschau des § 17 Nr. 10 RVG sowie der Vorschriften der Teile 4 und 5 des Vergütungsverzeichnisses ergebe. Straf- und Bußgeldverfahren stellten verschiedene Angelegenheiten dar, für die unterschiedliche Gebührentatbestände gälten. Hinzu komme die Kompensationsfunktion der zusätzlichen Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG. Ein Anwalt, der sowohl in der Hauptverhandlung im Strafverfahren als auch in einem sich anschließenden Bußgeldverfahren tätig werde, erhalte sowohl die im Straf- als auch die im Bußgeldverfahren anfallenden Gebühren; finde eine Hauptverhandlung im Strafverfahren nicht statt, müsse aus Gründen der Gleichbehandlung die Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG greifen. Eine Anrechnung der strafrechtlichen Erledigungsgebühr habe der Gesetzgeber - anders als hinsichtlich der Verfahrensgebühr in Nr. 5100 Abs. 2 VV RVG - gerade nicht vorgesehen.
    II.
    Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
    Die Gebühr nach Nr. 4141 des Vergütungsverzeichnisses zu § 2 Abs. 2 RVG (fortan: VV RVG) entsteht, wenn "das Verfahren nicht nur vorläufig eingestellt wird" (Abs. 1 Nr. 1 der Erläuterungen). Wie der Begriff des "Verfahrens" im hier vorliegenden Fall des Zusammentreffens eines Straf- und eines Bußgeldverfahrens zu verstehen ist, ob die Gebühr also auch dann verdient ist, wenn das strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingestellt wird und die Sache gemäß § 43 OWiG an die Verwaltungsbehörde abgegeben wird, ist im Gesetz nicht näher geregelt und in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur umstritten (dafür z.B. Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG 18. Aufl. VV 4141 Rn. 16; Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen 2. Aufl. Angelegenheiten Rn. 15; Uher in Bischof u.a., RVG 3. Aufl. VV 4141 Rn. 110; Schneider in AnwKommRVG, 4. Aufl. VV 4141 Rn. 19 ff; LG Osnabrück ZfSch 2008, 711 f; AG Nettetal AGS 2007, 404; AG Lemgo JurBüro 2009, 254; dagegen Hartmann, Kostengesetze 39. Aufl. VV 4141 Rn. 4; AG München JurBüro 2007, 84; AG Osnabrück, Urt. v. 4. Januar 2008 - 31 C 421/07, zit. nach [...].; AG Dortmund, Urt. v. 13. Oktober 2008 - 411 C 3253/08, n.v.).
    Der Wortlaut der Vorschrift der Nr. 4141 VV RVG gibt für die Beantwortung der Frage nichts her. Der Begriff "Verfahren" kann als Oberbegriff verstanden werden, der sowohl das strafrechtliche Ermittlungsverfahren als auch das Bußgeldverfahren umfasst; er kann aber auch nur das strafrechtliche Ermittlungsverfahren meinen. Die systematische Stellung der Vorschrift im Teil 4 des Vergütungsverzeichnisses zu § 2 Abs. 2 RVG, der mit "Strafsachen" überschrieben ist, könnte dafür sprechen, dass der Begriff "Verfahren" hier im Sinne von "Strafverfahren" unter Ausschluss der "Bußgeldverfahren" verwandt wird. Zwingend ist dies aber nicht. Die Vorschrift des § 17 Nr. 10 RVG, nach welcher das strafrechtliche Ermittlungsverfahren einerseits, ein nach dessen Einstellung sich anschließendes Bußgeldverfahren andererseits gebührenrechtlich verschiedene Angelegenheiten darstellen, hilft ebenfalls nicht weiter, weil Nr. 4141 VV RVG nicht auf den Abschluss der gebührenrechtlichen "Angelegenheit" abstellt, sondern eben auf die Einstellung "des Verfahrens". Die Gesetzesmaterialien zu Nr. 4141 VV RVG (BR-Drucks. 830/03, S. 286 f = BT-Drucks. 15/1971) und zu § 84 Abs. 2 BRAGO als der Vorgängervorschrift (BT-Drucks. 12/6962, S. 106) enthalten keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber das Problem erkannt hat und einer Lösung zuführen wollte. Gleiches gilt für die amtliche Begründung zu § 17 Nr. 10 RVG (BR-Drucks. 830/03, S. 237).
    Sinn und Zweck der Vorschrift verlangen jedoch eine endgültige Einstellung "des Verfahrens", also eine Erledigung der Sache ohne ein noch folgendes Bußgeldverfahren. Die Vorschrift des § 84 Abs. 2 BRAGO, der Vorgängervorschrift der Nr. 4141 VV RVG (vgl. BR-Drucks. 830/03, S. 286), ist eingeführt worden, um Tätigkeiten des Rechtsanwalts im Ermittlungsverfahren besser zu honorieren. Wörtlich heißt es in der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drucks. 12/6962, S. 106):
    "Bisher bieten die Gebührenkonstruktionen im Strafverfahren eher einen Anreiz, die Verteidigungsbemühungen auf die Hauptverhandlung zu konzentrieren. Eine intensive und zeitaufwendige Mitwirkung des Rechtsanwalts im Ermittlungsverfahren, die dazu führt, dass eine Hauptverhandlung entbehrlich wird, ist gebührenrechtlich wenig attraktiv. Im neuen Absatz 2 ... wird deshalb eine gebührenrechtliche Verbesserung entsprechender Tätigkeiten des Rechtsanwalts vorgeschlagen. Mit der Regelung sollen Fälle der Verfahrenseinstellung mit dem Ziel der Endgültigkeit der Einstellung erfasst werden... Wegen der einheitlich ein Verfahren abgeltenden Gebühren können Einstellungen im Ermittlungsverfahren nach §§ 153, 153a StPO nicht nach der hier vorgeschlagenen Vorschrift abgerechnet werden, wenn dieses Ermittlungsverfahren wegen anderer Taten weitergeführt und zur Anklagereife gebracht wird ... Die vorgeschlagene Regelung soll weiter dem Phänomen entgegenwirken, dass vielfach Einsprüche gegen den Strafbefehl nach Aufruf zur Sache zurückgenommen werden. Verbessert werden soll die Vergütung für denjenigen Verteidiger, dessen rechtzeitige Prüfung dazu führt, dass eine Hauptverhandlung und die damit verbundene Vorbereitung des Gerichts, aber auch gegebenenfalls der Zeugen und Sachverständigen entbehrlich werden".
    Die jetzt geltende Regelung der Nr. 4141 VV RVG hat den Grundgedanken des § 84 Abs. 2 BRAGO übernommen, nämlich intensive und zeitaufwändige Tätigkeiten des Verteidigers, die zu einer Vermeidung der Hauptverhandlung und damit beim Verteidiger zum Verlust der Hauptverhandlungsgebühr führten, gebührenrechtlich zu honorieren (BR-Drucks. 830/03, S. 286). Ziel der Regelung ist damit eine Verringerung der Arbeitsbelastung der Gerichte. Dieses Ziel soll durch eine adäquate Vergütung des Verteidigers bereits im Vorfeld der Hauptverhandlung erreicht werden. Kann die Tat, die Gegenstand des Ermittlungsverfahrens ist, nur als Straftat verfolgt werden, hat die nicht nur vorläufige Einstellung des Verfahrens zur Folge, dass keine Hauptverhandlung stattfindet.
    Der Verteidiger, der daran mitgewirkt hat, erhält die zusätzliche Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG. Wird das Verfahren nur wegen der Straftat eingestellt und die Sache dann an die Verwaltungsbehörde abgegeben werden, steht hingegen keineswegs fest, dass keine Hauptverhandlung stattfinden wird. Eine Abgabe findet nur statt, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass die Tat als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden kann (§ 43 Abs. 1 OWiG). Die Staatsanwaltschaft prüft also, ob konkrete Tatsachen den Verdacht einer Ordnungswidrigkeit begründen und keine Verfahrenshindernisse (etwa Verjährung) bestehen (Göhler/Gürtler, OWiG 15. Aufl. § 43 Rn. 5). Gibt sie das Verfahren ab, wird das Verfahren regelmäßig - jedenfalls nach der Vorstellung, die der Vorschrift des § 43 Abs. 1 OWiG zugrunde liegt - fortgesetzt. Staatliche Ressourcen werden weiterhin in Anspruch genommen. Dass ein Bußgeldbescheid, ein Einspruch und eine Hauptverhandlung folgen, ist nicht unwahrscheinlich. Das Gericht ist - anders als die Verwaltungsbehörde (§ 44 OWiG) - auch nicht an die Entschließung der Staatsanwaltschaft gebunden, ob eine Tat als Straftat verfolgt wird oder nicht. Es prüft vielmehr von Amts wegen erneut auch die Voraussetzungen der Straftatbestände, die durch die Tat verwirklicht sein können (§ 81 OWiG). Das Ziel, das Nr. 4141 VV RVG erreichen will, ist im Falle einer Abgabe an die Verwaltungsbehörde trotz Einstellung des wegen der Straftat geführten Ermittlungsverfahrens also noch nicht erreicht.
    Werden die Bemühungen des Verteidigers um eine Einstellung wegen der Straftat und Abgabe der Sache an die Verwaltungsbehörde nicht mit der Zusatzgebühr der Nr. 4141 VV RVG honoriert, verliert die Vorschrift dadurch nicht, wie in der Literatur vertreten wird, nahezu jede Funktion. Bei weitem nicht jede Tat im prozessualen Sinne kann sowohl als Straftat als auch als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden. In derartigen Fällen kommt eine Abgabe der Sache an die Verwaltungsbehörde von vornherein nicht in Betracht; mit der nicht nur vorläufigen Einstellung des Ermittlungsverfahrens hat der Verteidiger folglich die Zusatzgebühr verdient. Aber auch im Fall des sich an die Einstellung anschließenden Bußgeldverfahrens entfällt für den Verteidiger dadurch, dass er keine Zusatzgebühr des Nr. 4141 VV RVG verdient, nicht jegliche (gebührenrechtliche) Veranlassung, sich für seinen Mandanten um eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen der Straftat zu bemühen. Auch im Bußgeldverfahren fällt eine Zusatzgebühr in Höhe der jeweiligen Verfahrensgebühr an, wenn durch die anwaltliche Mitwirkung das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde erledigt oder die Hauptverhandlung entbehrlich wird (Nr. 5115 VV RVG). Wie der Senat bereits entschieden hat, kann das Tatbestandsmerkmal "Mitwirkung bei der Erledigung des Verfahrens" bereits durch eine Einlassung im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren erfüllt werden (BGH, Urt. v. 18. September 2008 - IX ZR 174/07, NJW 2009, 368, 369 Rn. 13); so war es auch im vorliegenden Fall. Die Zusatzgebühr nach Nr. 5115 VV RVG wird zwar regelmäßig geringer sein als diejenige nach Nr. 4141 VV RVG. Hinzu kommen jedoch noch die Gebühren des Bußgeldverfahrens selbst (VV RVG Teil 5). Die Grundgebühr für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall entsteht zwar nicht, wenn in einem vorangegangenen Strafverfahren für dieselbe Handlung oder Tat bereits die Gebühr 4100, also die Grundgebühr für das Strafverfahren, entstanden ist (Nr. 5100 VV RVG Abs. 2). Im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde verdient der Verteidiger zumindest eine weitere Verfahrensgebühr (Nr. 5101 ff VV RVG). Eine weitere Kompensation des Verlustes, der dem Verteidiger dadurch entsteht, dass im Strafverfahren keine Hauptverhandlung stattfindet, ist weder erforderlich noch sachlich angezeigt.
    Das Berufungsgericht hat für ausschlaggebend gehalten, dass ein Verteidiger nach durchgeführter Hauptverhandlung im Strafverfahren und einem sich anschließenden Bußgeldverfahren mehr an Gebühren erhält als im Falle eines Bußgeldverfahrens nach Einstellung des Strafverfahrens. Wie gezeigt, dient der Gebührentatbestand der Nr. 4141 VV RVG jedoch gerade nicht der Vermeidung gebührenrechtlich ungleicher Bewertung vergleichbarer anwaltlicher Tätigkeiten. Ein Verteidiger, der zunächst im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und dann im Bußgeldverfahren tätig wird, verdient - entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung - mehr als ein Verteidiger, der nur im Bußgeldverfahren tätig wird: Zwar wird die Grundgebühr der Nr. 4100 VV RVG auf diejenige der Nr. 5100 VV RVG angerechnet, nicht jedoch die Verfahrensgebühr.
    III.
    Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Aufhebung nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist, hat der Senat in der Sache selbst zu entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Berufung des Klägers gegen das zutreffende Urteil des Amtsgerichts Nordenham wird zurückgewiesen.

    RechtsgebieteRVG, OWiG, StPOVorschriftenRVG Anlage 1.4.1.5, RVG Anlage 1.5.1, RVG § 17, OWiG § 43 Abs. 1, StPO § 170 Abs. 2