Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • 09.11.2021 · IWW-Abrufnummer 225749

    Kammergericht Berlin: Urteil vom 12.08.2021 – 5 W 72/21

    Bei einem in einem Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV ergangenen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union handelt es sich nicht um ein die Gebührenermäßigung nach Nr. 1211 KV-GKG ausschließendes anderes Urteil.



    Tenor:

    Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30.12.2020 - 80 AR 130/20 - wie folgt abgeändert:

    Auf die Erinnerung der Klägerin wird der Kostenansatz der Kostenbeamtin des Landgerichts Berlin vom 13.08./14.10.2020 (Kassenzeichen #; Sollstellung zum 19.10.2020) dahingehend abgeändert, dass die Verfahrensgebühr lediglich mit 1,0 in Ansatz zu bringen ist (Nr. 1210 und 1211 KV-GKG) und der Endbetrag 109.761,00 Euro (109.736,00 Euro + 25,00 Euro) lautet.

    Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
    Gründe

    A.

    Die Klägerin hat mit ihrer am 14.12.2015 beim Landgericht Berlin eingereichten Klage insbesondere die Feststellung begehrt, dass die Beklagte ihr zum Schadensersatz verpflichtet sei. Mit Beschluss vom 09.05.2017 (Bl. III 111 d. A.) hat das Landgericht "den Rechtsstreit" ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) die in dem Beschluss näher bezeichneten Fragen zur Vorabentscheidung (Art. 267 Abs. 2 AEUV) vorgelegt. Über diese Vorlage hat der Gerichtshof mit Urteil vom 12.09.2019 - C-299/17 - entschieden. In der sodann anberaumten mündlichen Verhandlung vom 04.06.2020 vor dem Landgericht Berlin hat die Klägerin den Verzicht i. S. von § 306 ZPO (Bl. IV 88 d. A.) erklärt, woraufhin das Landgericht Berlin am selben Tage ein Verzichtsurteil verkündet hat, in welchem es die Kosten des Rechtsstreits der Klägerin auferlegt hat. Mit Beschluss vom 21.09.2020 (Bl. IV 100 d. A.) hat es den Streitwert auf 30.000.000,00 Euro festgesetzt.

    Unter dem 13.08./14.10.2020 hat das Landgericht die Schlusskostenrechnung (Kassenzeichen #) erstellt und unter anderem eine Verfahrensgebühr von 3,0 (Nr. 1210 KV-GKG) angesetzt. Mit Schriftsatz vom 04.11.2020 (Bl. IV 106 d. A.) hat die Klägerin gegen die Kostenrechnung Erinnerung eingelegt und "beantragt", die Gebühr gem. Nr. 1210 KV-GKG auf 1,0 zu ermäßigen und dieses Begehren unter Hinweis auf Nr. 1211 Nr. 2 KV-GKG begründet. Ferner hat die Klägerin sich gegen den in der Kostenrechnung ebenso enthaltenen Ansatz in Höhe von 25,00 Euro gem. Nr. 9014 KV-GKG gewendet.

    Zu der Erinnerung hat die Bezirksrevisorin bei dem Landgericht Berlin mit Schreiben vom 18.11.2020 (Bl. IV 112, 128 d. A.) Stellung genommen; auf dieses hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 18.12.2020 (Bl. IV 117 d. A.) erwidert.

    Mit Beschluss vom 30.12.2020 - 80 AR 130/20 - hat das Landgericht Berlin die Erinnerung der Klägerin zurückgewiesen.

    Gegen diesen - formlos übermittelten - Beschluss wendet die Klägerin sich mit ihrer am 31.03.2021 beim Landgericht eingegangenen - und sogleich mit einer Begründung versehenen - Beschwerde vom selben Tage (Bl. IV 165 d. A.) und rügt, dass die Verfahrensgebühr auf 1,0 ermäßigt sei; gegen den Kostenansatz zu Nr. 9014 KV-GKG wendet die Klägerin sich darin nicht mehr. Dieser Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 05.05.2021 nicht abgeholfen und die Sache dem Kammergericht zur Entscheidung vorgelegt.

    Mit Beschluss vom 11.08.2021 ist das Verfahren gem. § 66 Abs. 6. S. 2 GKG auf den Senat zur Entscheidung übertragen worden.

    B.

    Das Rechtsmittel hat Erfolg.

    I.

    Die Beschwerde der Klägerin ist gem. § 66 Abs. 2 S. 1 GKG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Klägerin als Entscheidungsschuldnerin i. S. von § 29 Nr. 1 GKG Kostenschuldnerin und damit erinnerungs- und beschwerdeberechtigt (vgl. Toussaint in: Toussaint, Kostenrecht, 51. Aufl. 2021, § 66 GKG Rn. 7, 35).

    II.

    Die Beschwerde ist begründet. Die Verfahrensgebühr (Nr. 1210 KV-GKG) hat sich gem. Nr. 1211 Nr. 2 KV-GKG auf 1,0 ermäßigt. Dies führt - ausgehend von dem festgesetzten Streitwert - zu einer Gebühr in der im Tenor genannten Höhe.

    1. Gemäß Nr. 1211 KV-GKG tritt eine Reduzierung der 3,0-Gebühr (Nr. 1210 KV-GKG) auf 1,0 unter anderem dann ein, wenn das gesamte Verfahren durch Verzichtsurteil beendet wird. Dies ist hier der Fall. Durch das Verzichtsurteil vom 04.06.2020 wurde der gesamte Rechtsstreit beendet.

    2. Die Gebührenreduzierung ist gem. Nr. 1211 a. E. KV-GKG ausgeschlossen, wenn dem Verzichtsurteil ein anderes als eines der in Nummer 2 genannten Urteile, eine Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer Sicherungsanordnung oder ein Musterentscheid nach dem KapMuG vorausgegangen ist.

    Daran fehlt es hier. Insbesondere handelt es sich bei dem Urteil des Gerichtshofes vom 12.09.2019 - C-299/17 - nicht um ein die Gebührenermäßigung ausschließendes anderes Urteil.

    a) Die Frage, ob auch Urteile des Gerichtshofes, die auf ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV ergehen, von Nr. 1211 a. E. KV-GKG erfasst werden, wird von dem Wortlaut der Vorschrift nicht ausdrücklich beantwortet. Vielmehr ist dort allgemein von einem anderen Urteil die Rede.

    b) Im Hinblick darauf, dass die Vorschrift nicht näher differenziert, spricht viel dafür, dass ihr, insbesondere in Bezug auf den Urteilsbegriff, diejenige Terminologe zugrunde liegt, die das GKG sowie das Kostenverzeichnis i. S. von § 3 Abs. 2 GKG (Anlage 1 des GKG) auch im Übrigen verwenden.

    aa) Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass der sachliche Geltungsbereich des Gesetzes in § 1 GKG festgelegt wird. Das GKG gilt - abgesehen von den hier nicht einschlägigen übrigen Regelungen in § 1 - gem. § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GKG insbesondere für Verfahren vor den ordentlichen Gerichten nach der ZPO. Soweit nichts anderes bestimmt ist, muss also bei der Antwort auf die Frage, welcher Wortsinn dem Merkmal "Urteil" zukommt, grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das GKG sowie das Kostenverzeichnis dann, wenn sie von einem "Urteil" sprechen, ein solches meinen, das in einem Verfahren ergangen ist, welches in dessen Anwendungsbereich fällt.

    bb) Auf ein Urteil des Gerichtshofes, das in einem Vorabentscheidungsverfahren ergeht, trifft dies nicht zu. Zwar ist das Vorabentscheidungsverfahren - worauf die Bezirksrevisorin bei dem Landgericht Berlin in ihrer Stellungnahme vom 04.08.2021 abstellt - für die Parteien ein Zwischenstreit innerhalb des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits, so dass auch die Kostenentscheidung Sache des vorlegenden Gerichts ist (EuGH, Urt. v. 25.02.2010 - C-381/08, BeckRS 2010, 90198 Rn. 63 - Car Trim GmbH/KeySafety Systems Srl; BGH, Beschl. v. 08.05.20212 - VIII ZB 3/11, NJW 2012, 2118 [BGH 08.05.2012 - VIII ZB 3/11] Rn. 13); vor diesem Hintergrund ist das Vorabentscheidungsverfahren dem Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht zuzurechnen. Das ändert aber nichts daran, dass die Gerichtskosten des Vorabentscheidungsverfahren keinen Regelungsgegenstand des GKG bilden. Insoweit bestimmt vielmehr Art. 143 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes (EuGHVfO), dass die vor diesem geführten Verfahren grundsätzlich kostenfrei sind. Auch in den Fällen, in denen gem. Art. 143 EuGHVfO ausnahmsweise gerichtliche Kosten von einer der Parteien zu tragen sind, wird deren Höhe durch das europäische Recht bestimmt und nicht durch das GKG. Bilden aber Verfahren vor dem Gerichtshof keinen Regelungsgegenstand des GKG, kann grundsätzlich nicht angenommen werden, dass das GKG oder das Kostenverzeichnis die diese Verfahren abschließenden Entscheidungen sprachlich einbeziehen, wenn sie - wie etwa in Nr. 1211 KV-GKG - auf ein "Urteil" abstellen.

    c) Auch der Sinn und Zweck von Nr. 1211 KV-GKG spricht dafür, ein Urteil des Gerichtshofes, das auf ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV ergeht, nicht als ein Urteil anzusehen, das der Gebührenreduzierung entgegensteht.

    aa) Mit der Differenzierung des Gebührensatzes in Nr. 1210 und Nr. 1211 KV-GKG verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, im Interesse der Kostengerechtigkeit die Gebührenhöhe, wenn auch grob typisierend, an dem jeweils entstandenen richterlichen Arbeitsaufwand auszurichten (vgl. BT-Drucks 12/6962, S. 69 f.; s. auch BVerwG, Beschl. v. 22.01.2010 - 9 KSt 18/09 -, Rn. 3, juris). Zugleich werden mit Nr. 1211 KV-GKG Anreize für eine unstreitige Verfahrensbeendigung geschaffen, was der Entlastung der Justiz dienen soll (vgl. zu dieser Zielsetzung BT-Drs. 12/6962, S. 69; BVerwG, Beschl. v. 22.01.2010 - 9 KSt 18/09 -, Rn. 3, juris; Kammergericht, Beschl. v. 29.11.2005 - 1 W 348/04 -, Rn. 8, juris; OLG Braunschweig, Beschl. v. 13.12.2017 - 2 W 152/17 -, Rn. 13, juris).

    bb) Diesem Sinn und Zweck von Nr. 1210 und Nr. 1211 KV-GKG entspricht es, auch im hiesigen Fall eine Gebührenreduzierung zu bejahen.

    (1) Kann die Partei auch dann noch in den Vorteil einer Gebührenreduzierung gelangen, wenn sie den Verzicht erst unter dem Eindruck des abgeschlossenen Vorabentscheidungsverfahrens erklärt, kann dies ihre Bereitschaft zur Abgabe einer solchen Erklärung erhöhen; in dem Verzicht liegt eine unstreitige Verfahrensbeendigung, die dem Gericht eine weiter gehende Begründung des Urteils erspart.

    (2) Es kann zwar nicht übersehen werden, dass das Absetzen eines Vorabentscheidungsersuchens i. S. von Art. 267 Abs. 2 AEUV für das Gericht einen nicht unerheblichen Arbeitsaufwand bedeuten kann, zumal hierfür die Prüfung erforderlich ist, ob die Rechtsfrage, die zum Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens gemacht wird, entscheidungserheblich ist (vgl. Middeke in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014, § 10 Rn. 47); dies erfordert regelmäßig eine Schlüssigkeitsprüfung. Aber auch dieser Gedanke steht der Gebührenreduzierung nicht entgegen.

    (a) Die Notwendigkeit, eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen, hat den Gesetzgeber zwar an anderer Stelle dazu bewogen, eine Reduzierung auszuschließen. So hat er insbesondere das gegen den Beklagten ergangene Versäumnisurteil nach § 331 Abs. 2 Hs. 1 ZPO aus dem Katalog der gem. Nr. 1211 KV-GKG privilegierten Urteile herausgenommen (BT-Drucks 12/6962, S. 70).

    (b) Das führt aber nicht dazu, auch im vorliegenden Fall eine Gebührenermäßigung zu versagen.

    (aa) Der Gesetzgeber hat seine Entscheidung, Versäumnisurteile nicht mehr zu privilegieren, maßgeblich auch darauf gestützt, dass diese die Instanz nicht unmittelbar abschließen (vgl. BT-Drucks 12/6962, S. 70). Jedenfalls dieser zusätzliche Gedanke spricht, da das Verzichtsurteil den Rechtsstreit insgesamt beendet hat, dafür, vorliegend keinen Ausschluss der Gebührenreduzierung anzunehmen.

    (bb) Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Schlüssigkeitsprüfung nicht dem Verzichtsurteil zugrunde liegt, sondern dem Vorlagebeschluss. Den Fall, dass dem Gericht im Zuge von Entscheidungen, die keine Urteile sind, ein Arbeitsaufwand entsteht, der eine Reduzierung ausschließt, hat der Gesetzgeber allerdings in Nr. 1211 a. E. KV-GKG bedacht. Dort werden die Entscheidungen über den Erlass einer Sicherungsanordnung und der Musterentscheid nach dem KapMuG als die Ermäßigung ausschließende Tatbestände herausgegriffen. Die auf die Sicherungsanordnung abstellende Ausnahme hat der Gesetzgeber damit begründet, dass das Gericht - etwa bei einem Anerkenntnis - zwar in der Hauptsache einen geringeren Aufwand habe, aber schon zuvor im Verfahren über den Erlass einer Sicherungsanordnung eine sachliche Prüfung des Streitstoffs habe vollziehen müssen (BT-Drs. 17/10485, S. 35). Das ist bei einem Vorlageersuchen nicht anders, dieser Fall wird aber in Nr. 1211 KV-GKG nicht aufgeführt. Im Umkehrschluss ist deshalb anzunehmen, dass der Aufwand für die Fertigung eines Vorabentscheidungsersuchens die Gebührenreduzierung nicht hindern soll.

    (cc) Auf den Arbeitsaufwand, den der Gerichtshof mit der Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen hatte, kann schon deshalb nicht abgestellt werden, weil es sich, wie oben ausgeführt, bei diesem Aufwand nicht um einen solchen handelt, der mit den Gebühren des GKG abgegolten werden soll.

    (dd) Zudem ist zu berücksichtigen, dass insbesondere die Regelung in Nr. 1211 a. E. KV-GKG mit Bezugnahme auf Nr. 2 der Regelung, wonach die dort bezeichneten privilegierten Urteile der Ermäßigung nicht entgegenstehen, vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass dem Gericht bei diesen Urteilen kein besonderer Aufwand entsteht und nicht eine der vorstehend in (bb) erörterten, enumerativ aufgezählten Entscheidungen vorangegangen ist. Das gilt aber erst recht, wenn - wie hier - eine Entscheidung eines anderen Gerichts vorangeht, für das eine besondere Kostenregelung besteht.

    III.

    Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet, § 66 Abs. 8 GKG.

    RechtsgebietKostenrechtVorschriftenArt. 267 AEUV, § 306 ZPO, Nr. 1210, Nr. 1211 KV GKG