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  • 16.05.2012 · IWW-Abrufnummer 121509

    Oberlandesgericht Düsseldorf: Beschluss vom 23.02.2012 – 10 W 97/11

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Oberlandesgericht Düsseldorf

    I-10 W 97/11

    Tenor:

    Auf die weitere Beschwerde des Antragstellers vom 26.07.2011 (Bl. 66ff PKH-Heft) wird der Beschluss des Landgerichts Mönchengladbach vom 15.07.2011 (Bl. 61ff) teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

    Die Beschwerde der Landeskasse vom 28.04.2011 (Bl. 47f) gegen den Beschluss des Amtsgerichts Erkelenz vom 21.04.2011 (Bl. 41ff) wird zurückgewiesen.

    Die Verfahren über die Beschwerde und die weitere Beschwerde sind gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet.

    I.

    Die weitere Beschwerde des Antragstellers vom 26.07.2011 gegen den Beschluss des Landgerichts Mönchengladbach vom 15.07.2011 ist gemäß § 56 Abs. 2, 33 Abs. 6 RVG kraft ausdrücklicher Zulassung zulässig und begründet. Mit Erfolg wendet sich die weitere Beschwerde gegen die im Ergebnis erfolgte Absetzung der zu Festsetzung angemeldeten Reisekosten des Antragstellers in Höhe von EUR 61,88. Diesbezüglich beruht die Entscheidung des Beschwerdegerichts auf einem Rechtsfehler.

    Der Vergütungsanspruch des Antragstellers folgt aus dem gemäß § 48 Abs. 1 RVG maßgeblichen Beiordnungsbeschluss vom 30.12.2009 (Bl. 7f), der keine Einschränkung der Beiordnung "zu den Bedingungen eines am Ort des hiesigen Gerichts niedergelassenen Rechtsanwalts" enthält. Der Vergütungsanspruch des beigeordneten Anwalts bestimmt sich gemäß § 48 RVG nach den Beschlüssen, durch die die Prozesskostenhilfe bewilligt und der Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Der Beiordnungs- und Bewilligungsbeschluss ist als Kostengrundentscheidung bindend und einer materiell-rechtlichen Überprüfung grundsätzlich entzogen (vgl. Zöller-Philippi, ZPO, 28. Aufl., § 121 Rn. 13a, 42).

    Grundsätzlich kann ein Anwalt auch im Rahmen der Prozesskostenhilfe diejenigen Mehrkosten erstattet verlangen, die dadurch entstehen, dass er seinen Wohnsitz oder seine Kanzlei nicht an dem Ort hat, an dem sich das Prozessgericht oder eine auswärtige Abteilung dieses Gerichts befindet; dies folgt aus dem Wegfall von § 126 Abs. 1 S. 2 BRAGO. Vorliegend sind die angegebenen Reisekosten auch für eine Geschäftsreise im Sinne der RVG VV-Vorbem. 7 Abs. 2 entstanden. Eine solche liegt nach dem Gesetz vor, wenn das Reiseziel außerhalb der Gemeinde liegt, in der sich die Kanzlei oder die Wohnung des Rechtsanwalts befindet.

    1.

    Die Beteiligten des vorliegenden Beschwerdeverfahrens haben insoweit unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich des Begriffs "oder". Der Antragsteller versteht dies alternativ, so dass eine Geschäftsreise dann vorliegt, wenn das Prozessgericht entweder außerhalb der Kanzleigemeinde oder außerhalb der Wohngemeinde liegt. Die Landeskasse und ihm folgend das Beschwerdegericht verstehen dies kumulativ und gelangen zu dem Ergebnis, dass eine Geschäftsreise nur dann vorliegt, wenn das Prozessgericht sowohl außerhalb der Kanzleigemeinde als auch außerhalb der Wohngemeinde liegt.

    a.

    Die Grundsätze der deutschen Grammatik sprechen für die vom Antragsteller vertretene Ansicht. Danach drückt "oder" aus, dass es zwei (oder mehr) Möglichkeiten, Alternativen geben kann. Kann nur eine der Alternativen zutreffen, spricht man vom ausschließenden (exclusiven) "oder", das Verb erscheint im Singular. Können alle angegebenen Möglichkeiten zutreffen, spricht man vom einschließenden (inclusiven) "oder" (vgl. Duden, Deutsche Grammatik, 4. Aufl., Rn. 439, 504). Eine Bedeutung dahingehend, dass alle angegebenen Möglichkeiten (kumulativ) zutreffen müssen, kann allenfalls im Falle einer verneinenden Oder-Verknüpfung in Betracht kommen (aus "nicht A oder nicht B" wird "nicht (A und B)"). Eine solche Verneinung liegt hier aber nicht vor, vielmehr ist RVG VV-Vorbem. 7 Abs. 2 positiv formuliert ("Gemeinde, in der sich die Kanzlei oder die Wohnung ..befindet"). Die Verwendung des Verbs im Singular ("befindet") indiziert, dass es sich um ein exclusives "oder" handelt, was damit im Einklang steht, dass der Rechtsanwalt logischerweise nur entweder von seiner Kanzlei oder von seiner Wohnung aus angereist sein kann.

    b.

    Aus der Entstehungsgeschichte lässt sich keine abweichende Bedeutung herleiten. Hier erfolgte eine Definition der Geschäftsreise erstmals in § 28 Abs. 1 S. 2 BRAGO in der ab 01.07.1994 geltenden Fassung (aufgrund Kostenrechtsänderungsgesetz 1994 v. 24.06.1994, BGBl I 1994, Nr. 38 v. 29.06.1994, S. 1325). Hierdurch sollte ausweislich der Gesetzesbegründung die in Rechtsprechung und Literatur zum Teil unterschiedlich beantwortete Frage, wann eine Geschäftsreise vorliegt, nunmehr eindeutig geregelt werden (vgl. Gesetzentwurf Bundesregierung v. 05.11.1993, Drucksache 769/93, S. 273). Bis dato war umstritten, ob für die Geschäftsreise allein die Zurücklegung einer größeren Entfernung zwischen Ausgangspunkt und Ziel bestimmen sein soll, oder ob unabhängig von der Entfernung entscheidend sein soll, dass der Rechtsanwalt sich an einen Ort begibt, der außerhalb der politischen Gemeindegrenzen seines Wohn- bzw. Kanzleisitzes gelegen ist, oder ob der Rechtsanwalt die Gemeindegrenzen seines Wohn- bzw. Kanzleisitz überschreiten, eine größere Entfernung zurücklegen und zwischen Ausgangspunkt und Ziel nach der Verkehrsauffassung eine Reise stattfinden muss (vgl. hierzu OLG Düsseldorf JurBüro 1990, 862 mwN).

    Aus dem Wegfall der Wohnsitzpflicht folgt ebenfalls keine abweichende Beurteilung. Die Pflicht des Rechtsanwalts, innerhalb des Oberlandesgerichtsbezirks, in dem er zugelassen ist, seinen Wohnsitz zu nehmen (§ 27 Abs. 1 BRAGO in der bis zum 09.09.1994 gültigen Fassung), ist aufgrund des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 02.09.1994 (BGBl Teil I 1994 Nr. 59 v. 08.09.1994, S. 2278) mit Wirkung zum 09.09.1994 entfallen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es für die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege entscheidend nur auf die Kanzleipflicht des § 27 Abs. 2 Satz 1 ankommen könne, angesichts der bestehenden Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten erscheine es nicht mehr zeitgemäß, dem Rechtsanwalt im Hinblick auf seinen Wohnsitz Vorschriften zu machen (vgl. Gesetzentwurf Bundesregierung v. 12.02.1993, Drucksache 93/93, S. 77f).

    c.

    Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen ebenfalls für die vom Antragsteller vertretene Ansicht. Als Auslagen können immer nur tatsächlich angefallene Kosten zur Festsetzung angemeldet werden, entsprechend als Reisekosten nur die Kosten für eine tatsächlich unternommene Reise. Damit kommt es maßgeblich auf den Ort der tatsächlichen Abreise an, namentlich darauf, ob der Rechtsanwalt eine Anreise von seinem Kanzleisitz aus oder von seinem Wohnsitz aus geltend macht. Ausgehend von den Angaben des Rechtsanwalts ist sodann durch den Kostenbeamten zu prüfen, ob der angegebene Ort der Abreise außerhalb der Gemeinde des Prozessgerichts liegt.

    Eine andere Betrachtungsweise würde den Kostenbeamten dazu verpflichten, stets zu prüfen, ob der Rechtsanwalt einer außerhalb des Gerichtsortes liegenden Kanzlei nicht innerhalb des Gerichtsortes seinen privaten Wohnsitz hat. Dies würde zumindest in großen Gerichtsorten (Städten) einen hohen Aufwand erfordern, der durch keine sachlichen Erwägungen gerechtfertigt wäre. Im Gegensatz zum Kanzleisitz ergibt sich der private Wohnsitz des Rechtsanwaltes regelmäßig nicht aus den bei den Akten befindlichen Unterlagen.

    Dem Einwand, der Rechtsanwalt habe ohne sachlichen Grund den längeren von zwei möglichen Anreisewegen gewählt, kann im Rahmen der Kostenfestsetzung hinreichend Rechnung getragen werden. § 46 Abs. 1 RVG begrenzt die Erstattungspflicht der Staatskasse für Auslagen auf die zur sachgemäßen Durchführung der Angelegenheit erforderlichen Reisekosten. § 91 Abs. 1 ZPO begrenzt die Erstattungspflicht des kostentragungspflichtigen Gegners auf die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung- bzw. –verteidigung notwendigen Kosten. Insoweit muss allerdings im Einzelfall begründet werden, dass die angemeldeten Reisekosten als nicht erforderlich bzw. notwendig angesehen werden, weil der Rechtsanwalt auch von dem in der Gemeinde des Prozessgerichts liegenden Kanzlei- oder Wohnsitz hätte anreisen können (vgl. auch Ebert in Mayer/Kroiß, RVG, 4. Aufl., Vorbemerkung 7 Rn. 10f).

    d.

    Die überwiegende Kommentarliteratur setzt sich nicht ausdrücklich mit der hier aufgeworfenen Fragestellung auseinander (vgl. Madert/Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl., VV 7003, 7004, Rn. 2ff; Fraunholz in Riedl/Sußbauer, RVG, 9. Aufl., VV Teil 7 Rn. 19f; Hartung in Hartung/Römermann/Schons, Praxiskommentar zum RVG, 2006, Vorbem. 7 VV Rn. 14f; Bräuer in Bischof/Jungbauer/Bräuer/Curkovic/
    Mathias/Uher, RVG, 4. Aufl., Vorbemerkung 7 VV, Rn. 9ff; Ebert in Mayer/Kroiß, RVG, 4. Aufl., Vorbemerkung 7 Rn. 6ff; Rehberg/Xanke in Göttlich/Mümmler, RVG, S. 789). Die Ausführungen bei Hartung (aaO) lassen aber erkennen, dass auch dieser darauf abstellt, von welchem Ort (Kanzleiort oder Wohnort) die Reise angetreten wurde; es ist die Rede von "Fahrtkosten von der Kanzlei oder Wohnung zum Oberlandesgericht und zurück" . Entsprechendes gilt für Rehberg/Xanke (aaO), wo die Rede ist von "Tätigkeit an jedem dieser Orte", die naturgemäß nur dort stattfinden kann, wo die Reise konkret angetreten wird. Ebert (aaO) stellt gleichermaßen auf den Ort ab, von dem aus die Reise angetreten wird. Unklar bleiben insoweit die Ausführungen bei Madert/Müller-Rabe (aaO, Rn. 15), die in ihrer Kommentierung offensichtlich von einer Fortgeltung der Wohnsitzpflicht gem. § 27 Abs. 1 BRAO in der bis 09.09.1994 gültigen Fassung ausgehen.

    Einzig Hartmann (Kostengesetze, 42. Aufl., VV 7003-7006, Rn. 3) geht ohne nähere Begründung davon aus, dass eine Geschäftsreise dann vorliegt, "wenn der Anwalt sowohl nach außerhalb der Gemeinde seines Büros als auch nach außerhalb der politischen Gemeinde seiner davon etwa verschiedenen Wohnung gereist ist". Dieser Auffassung vermag sich der Senat aus den bereits dargelegten Gründen nicht anzuschließen.

    2.

    Vorliegend hat der Antragsteller eine Anreise von seinem Kanzleisitz Hückelhoven zum Amtsgericht Erkelenz geltend gemacht. Die hierdurch entstandenen Kosten sind im Rahmen der Kostenfestsetzung nach § 55 RVG erstattungsfähig, weil es sich um eine Geschäftsreise im Sinne der RVG VV-Vorbemerkung 7 Abs. 2 handelt und keine Umstände ersichtlich sind, dass die Kosten zur sachgemäßen Durchführung der Angelegenheit nicht erforderlich gewesen wären. Vielmehr hat der Antragsteller auf Einwand der Staatskasse hin nachvollziehbar geltend gemacht, den Termin vor dem Amtsgericht Erkelenz von seiner Kanzlei aus wahrgenommen zu haben, weil er zuvor dort gearbeitet habe.

    Unter den gegebenen Umständen kommt es auf die Frage, ob ein auswärtiger Anwalt, der zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk niedergelassenen Anwalts beigeordnet worden ist, maximal Reisekosten für die Entfernung von dem am weitesten vom Prozessgericht entfernten Ort im Gerichtsbezirk bis zum Gerichtsort erstattet verlangen kann (vgl. hierzu Senatsbeschluss v. 07.07.2011, II-10 WF 3/11 - 12 F 33/10 AG Erkelenz) nicht an.

    II.

    Die Kostenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 Sätze 2, 3 RVG.

    RechtsgebietKostenfestsetzungVorschriftenVorbem. 7 Abs. 2 VV RVG