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  • 08.07.2025 · IWW-Abrufnummer 248982

    Finanzgericht Hamburg: Beschluss vom 07.03.2025 – 6 V 84/24

    1. Der auf einen Haftungsbescheid folgende Erlass eines Nachforderungsbescheids im Sinne des § 167 AO ist ohne ausdrückliche Aufhebungs-, Änderungs- oder Ersetzungsanordnung keine Änderung oder Aufhebung des Haftungsbescheids nach § 124 Abs. 2 i.V.m. §§ 129 bis 131 AO.

    2. Hat das Finanzamt einen Haftungsgegenstand bereits durch einen Haftungsbescheid geregelt, dürfte der ergänzenden Regelung durch einen erweiternden Haftungsbescheid - bei unveränderter Sach- und Rechtslage - der ursprüngliche Haftungsbescheid auch dann entgegenstehen, wenn dieser aufgrund eines fortdauernden Einspruchsverfahrens noch nicht bestandskräftig geworden ist und die ergänzende Regelung nicht im Einspruchsverfahren im Wege der Verböserung nach § 367 Abs. 2 AO erfolgt.

    3. Eine Haftung der Depotbank nach § 44 Abs. 5 EStG, als die Kapitalerträge auszahlende Stelle, für nicht einbehaltene Kapitalertragsteuer kommt grundsätzlich auch im Falle der Vorlage einer Nicht-Veranlagungsbescheinigung nach § 11 Abs. 2 Satz 4 InvStG 2004 a.F. in Betracht, wenn es sich bei der vorlegenden Stelle nicht um den Gläubiger der Kapitalerträge handelt.

    4. Die für die Annahme eines Missbrauchs rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO notwendigen Feststellungen zur Üblichkeit der relevanten Geschäfte und dem Verhältnis der Vertragspartner bei Beurteilung des Vorliegens eines Steuervorteils bei einem Dritten bleibt dem Hauptsachverfahren vorbehalten, wenn die relevanten vertraglichen Regelungen einem fremden Rechtsinstitut unterliegen und das geltende Recht dem Tatrichter unbekannt ist, §§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 293 ZPO.


    Finanzgericht Hamburg, Beschluss vom 07.03.2025, Az. 6 V 84/24

    Gründe
    I.

    Die Beteiligten streiten über die Haftungsinanspruchnahme der Antragstellerin als Depotbank für Kapitalertragsteuer nebst Solidaritätszuschlag betreffend Wertpapiertransaktionen in Form von sogenannten Cum/Cum-Geschäften.

    Die Antragstellerin ist ein Kreditinstitut mit Sitz in Hamburg. Alleingesellschafterin der Antragstellerin ist die A GmbH (A). Die Antragstellerin war in den Jahren 2012 bis 2014 unmittelbare bzw. ist nunmehr mittelbare Gesellschafterin der B Kapitalanlagegesellschaft mbH (B).

    Auf Initiative der C Bank (C) legte die B am ... 2012 ein Sondervermögen im Sinne des § 2 Abs. 2 des Investmentgesetzes (InvG) a.F. (aufgehoben durch Art. 2a, Gesetz vom 4. Juli 2013 (BGBl. I, S. 1981)) mit der Bezeichnung "... XXX" (XXX) auf. Die B diente als Kapitalverwaltungsgesellschaft. Anleger des XXX waren Gesellschaften der C-Bankgruppe, die D GmbH (D) mit Sitz in Deutschland und die E (...) mit Sitz in F. Das Portfoliomanagement wurde von der C durchgeführt. Die Antragstellerin fungierte als Depotbank des XXX.

    In den Jahren 2012 bis 2014 übertrugen Gesellschaften der C-Gruppe vor dem jeweiligen Hauptversammlungstermin im Rahmen von Wertpapierpensions- und Wertpapierleihgeschäften Aktien in das bei der Antragstellerin für den XXX geführte Wertpapierdepot. Die Emittentin der jeweiligen Aktien zahlte an die Depotbank des XXX, die Antragstellerin, die Dividenden brutto (ohne Abzug von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag) aus. Unter Vorlage der vom Antragsgegner nach § 11 Abs. 2 Satz 4 InvStG a.F. 2004 (vor der Neufassung durch Art. 1, Gesetz vom 19. Juli 2016, BGBl. I, S. 2676) ausgestellten Nichtveranlagungs-Bescheinigung (NV-Bescheinigung) vom ... 2012 für den XXX betreffend den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 31. Dezember 2014 behielt die Antragstellerin bei der Auszahlung der Dividenden an den XXX keine Kapitalertragsteuer ein. Kurz nach dem jeweiligen Hauptversammlungstag der jeweiligen Emittentin der Aktien wurden die Aktien an die entsprechende Gesellschaft des C-Konzerns zurückübertragen.

    Der Antragsgegner führte unter Mitwirkung des Bundeszentralamts für Steuern (BZSt) auf Basis einer Prüfungsanordnung vom ... 2018 bei dem XXX eine Außenprüfung für die Jahre 2013 bis 2015 durch. Mit Prüfungsvermerk Nr. YYY vom ... 2020 stellte die Betriebsprüferin des BZSt wie folgt fest:

    Im Geschäftsjahr des XXX vom 1. Dezember 2012 bis 30. November 2013 seien Wertpapierpensionsgeschäfte im Sinne von § 340b des Handelsgesetzbuchs (HGB) mit dem Anleger E durchgeführt worden. Vertragliche Grundlage sei ein zuvor am ... 2012 zwischen der B und der E abgeschlossenes "Global Master Repurchase Agreement" (GMRA) gewesen. Im Rahmen der einzelnen Wertpapierpensionsgeschäfte sei beim Kauf der Aktien ein Rückkaufkurs zu einem bestimmten Datum verbindlich vereinbart worden, wobei zwischen Ankauf- und Rückkaufkurs stets eine Differenz (Kursdifferenz) bestanden habe. In dieser Differenz sei eine Komponente für Finanzierungszinsen sowie ein Ausgleich für die Differenz zwischen der marktüblichen Dividende und einer festgelegten Kompensationszahlung in Höhe von ... der Bruttodividende enthalten gewesen. Die Kompensationszahlung sei getrennt von der Zahlung des Rückkaufkurses geleistet worden. Im Anschluss an die Leistung der Kompensationszahlung sei die Rücklieferung der Aktien an die E erfolgt. Im Jahr 2013 seien dem XXX aufgrund der Wertpapierpensionsgeschäfte Bruttodividenden in Höhe von EUR ... zugeflossen.

    Im Geschäftsjahr des XXX vom 1. Dezember 2013 bis zum 31. November 2014 seien sodann Wertpapierdarlehensgeschäfte im Sinne der §§ 607 f. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) mit der G (...) mit Sitz in ... durchgeführt worden. Vertragliche Grundlage sei ein zuvor am ... 2013 zwischen der B und der G abgeschlossenes "Global Master Securities Lending Agreement" (GMSLA) gewesen. Im Rahmen der einzelnen Wertpapierdarlehensgeschäfte sei beim ursprünglichen Kauf der Aktien ein Rückkaufkurs zu einem bestimmten Datum verbindlich vereinbart worden, wobei Ankauf- und Rückkaufkurs stets identisch gewesen seien. Nach Zufluss der Bruttodividende sei eine individuell vereinbarte Kompensationszahlung in Höhe von ... der jeweiligen Bruttodividende geleistet worden. Im Anschluss daran sei die Rücklieferung der Aktien an die G erfolgt. Darüber hinaus habe die G auch Finanzierungszinsen auf die erhaltenen Barsicherheiten an den XXX gezahlt. Insgesamt seien dem XXX aufgrund der Wertpapierdarlehensgeschäfte Bruttodividenden (ohne solche aus Einlagenrückgewähr im Sinne des § 27 des Körperschaftsteuergesetzes - KStG -) in Höhe von EUR ... gezahlt worden.

    Zwar sei aufgrund der vertraglichen Gestaltung sowie der Erfüllung der dinglichen Übertragung zivilrechtliches und wirtschaftliches Eigentum auf den XXX übergegangen, es liege allerdings ein Gestaltungsmissbrauch im Sinne des § 42 der Abgabenordnung (AO) vor. Durch die gewählte Cum/Cum-Gestaltung sei für die D in 2013 und die G in 2014 ein erheblicher Steuervorteil in Form von nicht einbehaltener Kapitalertragsteuer entstanden, da diese ansonsten gemäß § 50d in Verbindung mit § 49 Abs. 1 Nr. 5b, und § 44a Abs. 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sowie den entsprechenden Vorschriften des jeweils einschlägigen Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung als Steuerausländer jedenfalls mit einer (reduzierten) Kapitalertragsteuer in Höhe von 15 % der Bruttodividenden belastet gewesen wären. Es sei kein außersteuerlicher Grund ersichtlich, sodass davon auszugehen sei, dass das Umgehen der Definitivbelastung mit Kapitalertragsteuer das Ziel der Parteien gewesen sei.

    Unter Zugrundelegung des BMF-Schreibens vom 17. Juli 2017 sei daher der Betrag in Höhe von 3/5 der Kapitalertragsteuer zurückzufordern. Da der XXX zum ... 2015 aufgelöst und alle Vermögensgegenstände ausgekehrt worden seien, sei eine Nachforderung der nicht erhobenen Kapitalertragsteuer durch Haftungsinanspruchnahme bzw. Nachforderung bei der Antragstellerin durch das für die Antragstellerin zuständige Finanzamt zu prüfen.

    Unmittelbar nach Abschluss der Außenprüfung bei dem XXX kündigte der Antragsgegner der Antragstellerin mit einem an diese gerichteten Schreiben vom 17. November 2020 an, sie als Depotbank des XXX für Kapitalertragsteuer der Jahre 2013 und 2014 in Haftung nehmen zu wollen. Aufgrund der Auflösung des XXX am ... 2015 und der in diesem Zusammenhang erfolgten Auskehrung aller Vermögensgegenstände bzw. der vollständigen Rückgabe aller Anteile sei eine Nachforderung gegenüber dem XXX faktisch nicht mehr möglich. Die Antragstellerin erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 11. Dezember 2020.

    Mit an die Antragstellerin adressiertem Bescheid vom ... 2020 nahm der Antragsgegner die Antragstellerin als Depotbank für Kapitalertragsteuer des Jahres 2013 in Höhe von EUR ... und für 2014 in Höhe von EUR ... (Haftungsbescheid 2020) gem. § 11 Abs. 2 Satz 3 InvStG a.F. 2004 in Verbindung mit § 44 Abs. 5 und § 45a Abs. 7 EStG in Anspruch. Zur Begründung verwies der Antragsgegner darauf, dass die Antragstellerin nach dem BMF-Schreiben vom 17. Juli 2017 (BStBl. I 2017, 986) für den "steuerinduzierten" Teil (3/5 der Kapitalertragsteuer) in Haftung zu nehmen sei. Die Voraussetzungen eines Gestaltungsmissbrauchs im Sinne des § 42 AO seien erfüllt, da der erlangte Steuervorteil in Form der Vermeidung einer Definitivbelastung mit Kapitalertragsteuer durch die Zwischenschaltung des XXX bewirkt worden sei. Es sei bisher nichts dazu ausgeführt worden, dass die Antragstellerin keine Kenntnis über die einzelnen Geschäftsvorfälle und Vertragsabschlüsse des XXX gehabt habe, vielmehr sei die Antragstellerin aufgrund der eigenen Buchführung für den XXX in der Lage gewesen, die Cum/Cum-Gestaltung zu erkennen und Steuerschaden abzuwenden. Es sei zumindest von grober Fahrlässigkeit auszugehen. Die Inanspruchnahme der Antragstellerin sei daher ermessensgerecht. Ein Leistungsgebot enthielt der Haftungsbescheid 2020 nicht.

    Hiergegen legte die Antragstellerin im eigenen Namen mit Schreiben vom 20. Januar 2021 Einspruch ein, kündigte eine umfassende Einspruchsbegründung an und beantragte vor Erlass einer Einspruchsentscheidung die Erörterung des Sach- und Rechtsstands nach § 364a AO.

    Im Jahr 2021 erfolgte angabegemäß anlässlich der Erstellung der Steuerbilanz der Antragstellerin für das Jahr 2020 eine Prüfung der Auswirkungen der Kapitalertragsteuerrückforderungen durch die H Steuerberatungsgesellschaft mbH & Co. KG (H). Die Antragstellerin hatte H bereits zuvor mit einer Vertretung in Steuersachen beauftragt, insbesondere der Erstellung der laufenden Steuererklärungen. Zu diesem Zweck hatte die Antragstellerin H am 21. Oktober 2020 unter Verwendung des amtlichen Vordrucks des BMF (Schreiben vom 8. Juli 2019, BStBl. I 2019, 594) eine Vollmacht zur Vertretung in Steuersachen erteilt. Im Rahmen dieser Vollmachtsurkunde wurden die für eine Empfangsvollmacht und eine Berechtigung zur Erteilung von Untervollmachten vorgesehenen Felder nicht angekreuzt. Zudem wurde handschriftlich in dem Bereich für Ausnahmen ein zusätzliches Feld geschaffen, angekreuzt und mit der Beschreibung "Themenkomplex Cum-ex Verfahrensvollmacht K" ergänzt. Nach Kontaktaufnahme mit dem Antragsgegner verweigerte dieser zunächst eine Auskunft und verwies mit E-Mail vom 26. April 2021 an H darauf, dass die so vorgelegte Vollmacht vom 21. Oktober 2020 den "in Rede stehenden Sachverhalt explizit" ausnehme.

    Hierauf erteilte die Antragstellerin unter Verwendung des amtlichen Vordrucks des BMF am 25. Mai 2021 eine neue Vollmacht zur Vertretung in Steuersachen zugunsten von H. Im Rahmen dieser Vollmachtsurkunde wurde keines der vorgefertigten Felder für Ausnahmen, aber auch weder das Feld für eine Empfangsvollmacht noch das Feld für die Berechtigung zur Erteilung von Untervollmachten angekreuzt. Ein Vertreter von H übersandte daraufhin dem Antragsgegner mit E-Mail vom 31. Mai 2021 die Vollmacht vom 25. Mai 2021 als PDF im Anhang mit folgendem Anschreiben:

    "(...) anbei senden wir die von Ihnen benötigten Vollmachten.

    Bitte machen Sie von diesen Vollmachten lediglich für unsere Abstimmung der steuerbilanziellen Behandlung der Steuerrückforderungsbescheide wg. der KESt-Aberkennung Gebrauch.

    Insbesondere die Einspruchsverfahren werden nicht von uns geführt und der diesbezügliche Schriftverkehr sollte weiter mit der Kanzlei K erfolgen. (...)"

    Die E-Mail vom 31. Mai 2021 leitete die Sachbearbeiterin des Antragsgegners, Frau L, am selben Tag auch an die E-Mail-Adresse der Sachgebietsleiterin des Antragsgegners, Frau M, weiter.

    Mit Schreiben vom 10. Juni 2021 übersandte H dem Antragsgegner die Vollmacht vom 25. Mai 2021 zusätzlich in Papierform. Die Übersendung erfolgte ohne individuelles Anschreiben oder erläuterndes Begleitschreiben an den Antragsgegner mit dem Hinweis "Für Ihre Akten".

    Mit Schreiben vom 30. Juni 2021 begründete die Antragstellerin ihren Einspruch gegen den Haftungsbescheid 2020.

    Am 18. August 2021 erfolgte durch H eine Eintragung in der Vollmachtsdatenbank im Sinne des § 80a AO. Laut der Eintragung solle sich die Vollmacht der Antragstellerin für H auch auf die Entgegennahme von Steuerbescheiden und sonstigen Verwaltungsakten sowie Vollstreckungsankündigungen und Mahnungen erstrecken; darüber hinaus sei H auch berechtigt, Untervollmachten zu erteilen und zu widerrufen. Als Unterzeichnungsdatum ("Datum der Unterschrift") wurde der 25. Mai 2021 angegeben.

    Mit Schreiben vom 30. November 2021 kündigte der Antragsgegner unter Verweis auf das zwischenzeitlich veröffentlichte BMF-Schreiben vom 9. Juli 2021 (BStBl. I 2021, 995) eine Erweiterung der Haftungsinanspruchnahme für das Jahr 2014 bezogen auf den verbliebenen Teil der Kapitalertragsteuer (2/5 der Kapitalertragsteuer) sowie den Solidaritätszuschlag für das gesamte Jahr 2014 an. Die Antragstellerin erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 15. Dezember 2021. Dieses Schreiben adressierte und übermittelte der Antragsgegner an H, welches im Anschluss an die Antragstellerin weitergeleitet wurde.

    Hierauf nahm die Antragstellerin mit Schreiben vom 14. Dezember 2021 Stellung und führte insbesondere aus, dass sie aufgrund der vorgelegten NV-Bescheinigung des XXX zur Auszahlung der Bruttodividenden verpflichtet gewesen sei. Im Übrigen verwies sie auf ihre Ausführungen in der Begründung vom 30. Juni 2021 zum Einspruch gegen den Haftungsbescheid 2020. Schließlich bleibe weiterer Vortrag der späteren Einspruchsbegründung nach Ergehen des Bescheids vorbehalten.

    Mit Bescheid vom ... 2021 nahm der Antragsgegner sodann die Antragstellerin für das Jahr 2014 auf den verbliebenen Teil von 2/5 der Kapitalertragsteuer in Höhe von EUR ... samt Solidaritätszuschlag in Höhe von EUR ... für das gesamte Jahr 2014, also insgesamt EUR ..., in Haftung (Haftungsbescheid 2021). Zur Begründung verwies der Antragsgegner unter anderem auf den Haftungsbescheid 2020 sowie darauf, dass der dagegen eingelegte Einspruch noch nicht abschließend bearbeitet worden sei und daher die Haftungserweiterung um den restlichen Teil der Kapitalertragsteuer erfolge. Weiter führte der Antragsgegner aus, dass aufgrund des BMF-Schreibens vom 9. Juli 2021 die Haftung der Antragstellerin auf den restlichen Teil der Kapitalertragsteuer für 2014 sowie den Solidaritätszuschlag zu erweitern sei. Eine Inanspruchnahme der Antragstellerin als Haftungsschuldnerin sei insbesondere aufgrund der Höhe der Beträge, des Vorliegens einer rechtsmissbräuchlichen Cum/Cum-Gestaltung, der Kenntnis der Antragstellerin und des Umstands, dass die Antragstellerin "tiefergehend in deren Durchführung eingebunden" gewesen sei, gerechtfertigt. Die Antragstellerin sei nicht nur Depotbank, sondern auch alleinige Gesellschafterin der B gewesen. Es sei davon auszugehen, dass die Antragstellerin von der Ausgestaltung der auf Ebene des XXX durchgeführten Geschäfte gewusst habe. Dies werde auch durch den Untersuchungsbericht der Kanzlei K vom ... bestätigt. Den Haftungsbescheid 2021 adressierte und übermittelte der Antragsgegner per Fax am 20. Dezember 2021 an H, die den Bescheid nach Erhalt mit E-Mail vom 20. Dezember 2021 als PDF an die Antragstellerin weiterleitete.

    Auch gegen den Haftungsbescheid 2021 legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 20. Januar 2022 im eigenen Namen Einspruch ein, verwies auf die Begründung des Einspruchs gegen den Haftungsbescheid 2020 vom ... 2021, kündigte eine weitere Begründung an und beantragte vor Erlass einer Einspruchsentscheidung die Erörterung des Sach- und Rechtsstands nach § 364a AO.

    Wenige Tage zuvor hatte der Antragsgegner am 11. Januar 2022 Steuerbescheide betreffend die A für die Jahre 2017 und 2018 an H übermittelt, da die Muttergesellschaft der Antragstellerin H ebenfalls mit der Vertretung in Steuersachen mandatiert hatte. Am 28. Januar 2022 erfolgte hiergegen eine vorsorgliche Einspruchseinlegung durch H unter Verweis auf die noch nicht abgeschlossene Prüfung der Steuerbescheide. Mit Schreiben vom 4. Februar 2022, adressiert an H, forderte der Antragsgegner die A sodann zur Begründung der Einsprüche gegen die Bescheide für die Jahre 2017 und 2018 auf. Dem Schreiben waren vorformulierte Vordrucke zur Erklärung der Rücknahme der Einsprüche (betreffend die Steuerbescheide für 2017) beigefügt.

    Ebenfalls mit Schreiben vom 4. Februar 2022, adressiert an H, forderte der Antragsgegner die Antragstellerin zur Begründung "des Einspruchs" bis zum 24. Februar 2022 auf und teilte mit, dass nach Aktenlage keine Fehler in der Steuerfestsetzung erkennbar seien und andernfalls die Rücknahme mit beiliegendem Vordruck erklärt werden könne. Der Betreff des Schreibens lautete wie folgt:

    "Einspruch vom 19.01.2022 gegen den Bescheid über die Körperschaftsteuer für 2014 vom ... 2021 - Anlagen: 2 Rücknahmeerklärungen (1 Exemplar für Ihre Unterlagen)."

    Mit diesem Schreiben vom 4. Februar 2022 übersandte der Antragsgegner zudem zwei vorformulierte Vordrucke zur Erklärung der Rücknahme betreffend den "Bescheid über die Körperschaftsteuer für 2014 vom ... 2021".

    Mit weiterem Schreiben vom 9. Februar 2022, adressiert an H, forderte der Antragsgegner die Antragstellerin sodann zur Begründung des Einspruchs vom "19.01.2022 gegen den Haftungsbescheid für 2014 vom ... 2021" auf. Auch diesem Schreiben waren zwei vorformulierte Vordrucke zur Erklärung der Rücknahme, hier des Einspruchs gegen den "Haftungsbescheid für 2014 vom ... 2021" beigefügt.

    H leitete sämtliche Schreiben vom 4. Februar und 9. Februar 2022 an die Antragstellerin weiter.

    Hierauf nahm die Antragstellerin, vertreten durch deren Mitarbeiter N, Kontakt mit dem Antragsgegner per Telefon und mittels E-Mail vom 15. Februar 2022 (Betreff "(...) Ihr Schreiben vom 09.02.2022 / Einspruch vom 19.1.2022 gegen den Bescheid über KÖst für 2014 vom ... 21") auf und erkundigte sich nach dem Schreiben des Antragsgegners, da ein Bescheid über die Körperschaftsteuer 2014 nicht vorliege. Mit E-Mail vom 15. Februar 2022 erklärte der Antragsgegner, dass das Schreiben nicht hätte abgesandt werden sollen, da es sich "fälschlicher Weise auf die Körperschaftsteuer anstatt auf die Kapitalertragsteuer 20104" beziehe. Das "korrigierte Schreiben" müsse nunmehr vorliegen. Es werde darum gebeten, das "Schreiben mit dem falschen Bezug zu vernichten".

    Daraufhin wandte sich die Prozessbevollmächtigte, vertreten durch Herrn O, am 21. Februar 2022 an den Antragsgegner und bat bei der Sachgebietsleiterin Frau M um eine Verlängerung der Begründungsfrist für den Einspruch gegen den Haftungsbescheid 2021 bis Ende April 2022. Die beantragte Fristverlängerung gewährte der Antragsgegner telefonisch.

    Mit Schreiben vom 23. Februar 2022 übersandte H, unterzeichnet "i.A. P", sodann unter dem Betreff "Inhalt: Rücknahme Einsprüche für die A und für die [Antragstellerin]" ohne individuelles Anschreiben oder erläuterndes Begleitschreiben mit den Hinweisen "Für Ihre Akten" und "Mit der Bitte um Kenntnisnahme" die drei verschiedenen zuvor vom Antragsgegner übersandten Muster für die Erklärung der Rücknahme der Einsprüche, welche unter Beifügung des Firmenstempels von H mit "i.A. P" unterzeichnet waren. Die ausgefüllten Muster der Rücknahmeerklärungen betrafen die "Einsprüche vom 28.01.2022" der A sowie den "Einspruch vom 19.01.2022 gegen den Haftungsbescheid für 2014 vom ... 2021" und den "Einspruch vom 19.01.2022 gegen den Bescheid über die Körperschaftsteuer für 2014 vom ... 2021" der Antragstellerin. Das Schreiben ging am 2. März 2022 beim Antragsgegner ein. Am 31. März 2022 vermerkte der Antragsgegner handschriftlich auf dem Schreiben (bzw. einer Kopie) vom 23. Februar 2022, dass der "Einspruch gegen die Haftungserweiterung" als Rücknahme ausgetragen werde. Zudem vermerkte der Antragsgegner auf einer weiteren Kopie des Schreibens unter Verweis auf den E-Mailverkehr vom 15. Februar 2022, dass es den Einspruch der Antragstellerin gegen den Körperschaftsteuerbescheid 2014 nicht gegeben habe. Das Original-Schreiben nahm der Antragsgegner zu den Akten der A.

    Am 14. Juni 2022 erfolgte eine Übergabe des Prüfungsvermerks Nr. YYY vom ... 2022 in den Räumlichkeiten der Antragstellerin, in dessen Zuge von Seiten des Antragsgegners, sowohl in dem Prüfungsvermerk als auch mündlich, unter anderem ausgeführt wurde, dass die Antragstellerin den Einspruch vom 19. Januar 2022 zurückgenommen habe. Die für die Antragstellerin anwesenden Personen, unter Beteiligung der Prozessbevollmächtigten aber ohne Beteiligte von H, drückten daraufhin in dem Termin ihre Unkenntnis und Unverständnis über die Auffassung des Antragsgegners zu der Einspruchsrücknahme aus.

    In der Folge wies H mit Schreiben vom 24. Juni 2022 den Antragsgegner darauf hin, dass H nur beschränkt bevollmächtigt gewesen sei, es sich bei dem Schreiben vom 23. Februar 2022 nicht um eine wirksame Einspruchsrücknahme gehandelt habe und zudem vorsorglich die Anfechtung nach § 119 BGB erklärt werde. Nach einem Schriftverkehr mit dem Antragsgegner ergänzte H seine Stellungnahme nochmals mit Schreiben vom 28. November 2022.

    Mit Bescheid vom ... 2022 machte der Antragsgegner sodann gegenüber der Antragstellerin geltend, dass sie gem. § 44 Abs. 1 Satz 4 Nr. 3a in Verbindung mit § 43 Abs. 1 Nr. 1a EStG zur Einbehaltung und Abführung von Kapitalertragsteuer für die Zeiträume 2012 bis 2014 in Höhe von insgesamt EUR ... zzgl. Solidaritätszuschlag in Höhe von insgesamt EUR ... verpflichtetet gewesen sei und diese Ansprüche nunmehr gegenüber der Antragstellerin durch diesen Nachforderungsbescheid geltend zu machen seien (Nachforderungsbescheid 2022). Dieser Nachforderungsbescheid 2022 enthielt eine Aufforderung zur Zahlung in Höhe von EUR ... bis zum 16. August 2022. Den Nachforderungsbescheid 2022 adressierte und übermittelte der Antragsgegner an die Antragstellerin selbst. Hiergegen legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 21. Juli 2022 Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Der Antragsgegner gewährte in der Folge die beantragte AdV.

    Die Antragstellerin begründete ihren Einspruch gegen den Haftungsbescheid 2021 mit Schreiben vom 16. Februar 2023. Darin verwies die Antragstellerin auf die Unwirksamkeit der Einspruchsrücknahme und die in diesem Zusammenhang bereits eingereichten Schreiben von H vom 24. Juni 2022 und 28. November 2022. Zudem machte die Antragstellerin geltend, dass der Haftungsbescheid 2021 durch den Nachforderungsbescheid 2022 aufgehoben worden sei.

    Mit Einspruchsentscheidung vom ... 2023 verwarf der Antragsgegner den Einspruch der Antragstellerin vom 19. Januar 2022 gegen den Haftungsbescheid 2021 als unzulässig. Zur Begründung verwies der Antragsgegner darauf, dass die Antragstellerin, vertreten durch H, mit Schreiben vom 23. Februar 2022 die Rücknahme des Einspruchs erklärt habe. Hinsichtlich der Bevollmächtigung sei die am 18. August 2021 an die Vollmachtsdatenbank übermittelte Vollmacht maßgebend. Der Antragsgegner habe "keine Zweifel dahingehend, dass eine Rücknahme in Wahrheit nicht gewollt war" gehabt.

    Hiergegen erhob die Antragstellerin am 29. Dezember 2023 isoliert gegen die Einspruchsentscheidung Klage, die bei dem Finanzgericht Hamburg unter dem Aktenzeichen 6 K 155/23 anhängig war und über die mit Urteil vom 11. Februar 2025 entschieden wurde. Der Senat gab der Klage statt und hob die Einspruchsentscheidung auf, weil der Einspruch nicht wirksam zurückgenommen worden sei. Zur näheren Begründung wird auf das den Beteiligten bekannte Urteil vom 11. Februar 2025 verwiesen.

    Mit Zahlungsaufforderung nach § 219 AO vom 30. September 2024 nahm der Antragsgegner die Antragstellerin auf Grundlage des Haftungsbescheids 2021 auf Zahlung von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2014 in Höhe von EUR ... in Anspruch. Der Betrag sei bis zum 30. Oktober 2024 zu zahlen. Die Antragstellerin, als Verwahrstelle bzw. Depotbank, sei ihrer gesetzlichen Verpflichtung zum Einbehalt und zur Abführung der Kapitalertragsteuer nicht nachgekommen, sodass sie nach § 44 Abs. 5 EStG in Haftung genommen werden könne. Eine Inanspruchnahme des Gläubigers komme nur unter den in § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG genannten weiteren Voraussetzungen in Betracht. Die Inanspruchnahme der im Inland ansässigen Antragstellerin werde dem Zweck der Entrichtungspflicht gerecht, die Sicherung und Vereinfachung der Steuererhebung zu gewährleisten. Demgegenüber sei dem Antragsgegner die Person des Gläubigers der Kapitalerträge mangels Offenlegung "der Lieferketten" nicht bekannt.

    Mit Schreiben vom 14. Oktober 2024 beantragte die die Antragstellerin die AdV des Haftungsbescheids 2021, legte Einspruch gegen die Zahlungsaufforderung vom 30. September 2024 ein und beantragte auch diesbezüglich die AdV. Der Antragsgegner lehnte die Anträge auf AdV mit Entscheidungen vom ... 2024 ab. Zur Begründung der Ablehnung des Antrags auf AdV des Haftungsbescheids 2021 verwies der Antragsgegner auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vom ... 2023 sowie des damals noch anhängigen Klageverfahrens. Zur Begründung der Ablehnung des Antrags auf AdV der Zahlungsaufforderung verwies der Antragsgegner darauf, dass es keiner weiteren Begründung der Ermessensentscheidung bedürfe, wenn ein gegen den Steuerschuldner bzw. Gläubiger der Kapitalerträge zu richtender Nachforderungsbescheid im Ausland vollstreckt werden müsse oder die Person des Gläubigers dem Finanzamt nicht bekannt sei. Dem Antragsgegner sei der Gläubiger der Kapitalerträge, wie in der Zahlungsaufforderung aufgeführt, nicht bekannt. Selbst wenn das wirtschaftliche Eigentum, wie in dem Nachforderungsbescheid 2022 festgestellt, bei der G verblieben sei, wäre es ermessensgerecht, die Antragstellerin vorrangig in Anspruch zu nehmen. Gründe für die Annahme einer unbilligen Härte seien weder ersichtlich noch vorgetragen.

    Daraufhin hat die Antragstellerin am 12. November 2024 um vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht nachgesucht. Zur Begründung trägt die Antragstellerin im Wesentlichen wie folgt vor:

    Der Haftungsbescheid 2021 sei rechtswidrig und der hiergegen gerichtete Rechtsbehelf vom 19. Januar 2022 nicht wirksam zurückgenommen worden - diesbezüglich werde auf das Klagevorbringen im Verfahren 6 K 155/23 beim FG Hamburg verwiesen.

    Der Haftungsbescheid 2021 selbst sei zunächst formell rechtswidrig, da es ihm bereits an jeglicher Begründung mangele. Der Haftungsbescheid 2021 verweise lediglich auf das BMF-Schreiben vom 9. Juli 2021 sowie die ebenfalls nicht existente Begründung des Haftungsbescheids 2020. Es sei nicht erkennbar, inwieweit der Antragsgegner die in dem betreffenden BMF-Schreiben geforderte Prüfung überhaupt vorgenommen habe. Darüber hinaus sei der Haftungsbescheid 2021 aber auch deswegen formell rechtswidrig, da der Haftungsbescheid 2020 bezüglich der Inanspruchnahme für die Kapitalertragsteuer für das Jahr 2014 Sperrwirkung entfalte. Dies gelte trotz der fehlenden formellen Bestandskraft des Haftungsbescheids 2020. Beide Bescheide beträfen denselben Regelungsgegenstand und der Antragsgegner könne den Haftungsbescheid 2020 nicht mehr frei zum Nachteil der Antragstellerin ändern.

    Der Haftungsbescheid 2021 sei zudem materiell rechtswidrig. Eine Haftung der Antragstellerin nach § 45a Abs. 7 EStG scheide bereits deshalb aus, weil sie, die Antragstellerin, dem XXX keine Steuerbescheinigung nach § 45a Abs. 2 bis 5 EStG ausgestellt habe. Auch eine Haftung nach § 44 Abs. 5 EStG in Verbindung mit § 11 Abs. 2 InvStG a.F. 2004 scheide vorliegend aus. Sie, die Antragstellerin, sei aufgrund der vorgelegten NV-Bescheinigung nicht zum Einbehalt von Kapitalertragsteuer verpflichtet gewesen, zudem könne sie sich exkulpieren. Eine entsprechende Haftung setze tatbestandlich allerdings bereits eine Pflicht nach § 44 Abs. 1 EStG zum Einbehalt und Abführung der Kapitalertragsteuer voraus. Nach dem Wortlaut des § 44a Abs. 10 Satz 1 EStG ("hat") habe aufgrund der NV-Bescheinigung gerade keine Pflicht zum Einbehalt der Kapitalertragsteuer bestanden.

    Die Annahme des Antragsgegners, sie, die Antragstellerin, habe vom Steuerabzug Abstand nehmen müssen, da es sich bei den betreffenden Wertpapierdarlehensgeschäften zwischen G und XXX um einen Gestaltungsmissbrauch gem. § 42 AO gehandelt habe, gehe fehl. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung mache das Bestreben, Steuern zu sparen, für sich allein eine Gestaltung noch nicht unangemessen. Demgegenüber seien bei der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 42 AO die gesetzlichen Wertungen zu berücksichtigen. Zu Cum/Cum- und Cum/Ex-Gestaltungen habe der Gesetzgeber in Form der Einführung der speziellen Missbrauchsbestimmungen des § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 4 EStG mit dem Jahressteuergesetz 2007 reagiert und dadurch die Wertung zum Ausdruck gebracht, nur Cum/Ex-Gestaltungen seien als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Zudem sei gerade kein gesetzlich nicht vorgesehener Steuervorteil erlangt worden, da die vertraglichen Ausgleichszahlungen auf dem Vertragsverhältnis zwischen G und XXX beruhten. Bei den auf Basis von Standardverträgen von zahlreichen Banken durchgeführten Transaktionen habe es sich um branchenübliche Geschäfte gehandelt, die nicht als missbräuchlich zu qualifizieren seien. Schließlich sei auch das ungeschriebene Erfordernis eines subjektiven Elements beim Missbrauchstatbestand zu berücksichtigen, welches hier gerade nicht vorliege. Selbst für spezialisierte Fachprüfer seien vor Einführung des § 36a EStG keine Zweifel an der Legalität von Cum/Cum-Geschäften ersichtlich gewesen. Aus der späteren Einführung der §§ 36a und 50j EStG könne nicht auf die Erfüllung des allgemeinen Missbrauchstatbestands in vorhergehenden Veranlagungszeiträumen geschlossen werden.

    Ungeachtet der Annahme einer Einbehaltungspflicht der Depotbank scheide eine Haftung nach § 44 Abs. 5 EStG aber bereits mangels vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der Entrichtungspflicht aus. Sie, die Antragstellerin, sei aufgrund der bestehenden NV-Bescheinigung und dem eindeutigen Wortlaut von § 44a Abs. 10 EStG davon ausgegangen, dass überhaupt keine Einbehaltungspflicht bestanden habe. Sie, die Antragstellerin, habe weder erkennen können, dass die angeordnete Abstandnahme unter einem von ihr zu prüfenden Missbrauchsvorbehalt stand, noch, dass die Wertpapiergeschäfte als Gestaltungsmissbrauch im Sinne des § 42 AO zu qualifizieren seien. Die Prüfungspflichten einer Verwahrstelle, wie von der BaFin definiert, sähen keine Prüfung steuerlicher Vorschriften vor. Es bestünden insbesondere auch nicht genügend Anhaltspunkte, die Bedenken gegen die Angemessenheit der Geschäfte gerechtfertigt hätten - im Gegenteil habe etwa ein Gutachten der Kanzlei R vorgelegen. Eine spätere Änderung der steuerlichen Behandlung der Geschäfte könne ihr, der Antragstellerin, im Zeitpunkt der Auszahlung der Dividenden nicht zum Vorwurf gemacht werden. Eine spätere Kenntnis, etwa durch die betreffenden BMF-Schreiben sei insofern für den haftungsauslösenden Vorwurf des § 44 Abs. 5 EStG unerheblich.

    Selbst im Falle einer unterstellten Prüfungspflicht und einem unterstellten Gestaltungsmissbrauch sei fraglich, für wen sie, die Antragstellerin, die Steuer hätte einbehalten sollen. Nach der aus § 42 AO abgeleiteten Fiktionstheorie sei die Rechtsfolge in Zusammenhang mit der Einbehaltung und Abführung von Kapitalertragsteuer dahingehend zu verstehen, dass diese Erträge nicht von dem Kunden der Depotbank, sondern dessen Vertragspartner zu versteuern gewesen wären. Zu diesem habe sie, die Antragstellerin, aber überhaupt keine vertragliche Beziehung. Dadurch würde sie faktisch zur Depotbank eines Dritten, ohne irgendeine Kenntnis von dessen steuerlichen Verhältnissen zu haben. Eine solche Rechtsunsicherheit und das damit verbundene Haftungsrisiko seien einem Entrichtungspflichtigen, der lediglich als Organ der Steuererhebung gesetzlich in Dienst genommen werde, nicht zuzumuten.

    Der Haftungsbescheid 2021 sei auch durch den Nachforderungsbescheid 2022 aufgehoben worden. Der Antragsgegner könne nicht sowohl einen Haftungsals auch einen Nachforderungs- bzw. Nacherhebungsbescheid hinsichtlich desselben Regelungsgegenstands erlassen. Mit dem Nachforderungsbescheid 2022, bei dem es sich um einen Nacherhebungsbescheid im Sinne des § 167 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 AO handele, habe der Antragsgegner mit Blick auf 2/5 der Kapitalertragsteuer und den Solidaritätszuschlag für das Jahr 2014 unstreitig über denselben Regelungsgegenstand entschieden. Der Antragsgegner habe nach dem insoweit auszulegenden Nachforderungsbescheid 2022 den Haftungsbescheid 2021 aufgehoben, hierfür spreche der partiell identische Regelungsgegenstand und die Nicht-Berücksichtigung etwaiger Ermessenserwägungen.

    Schließlich sei auch die Zahlungsaufforderung vom 30. September 2024 rechtswidrig. Diese sei bereits deswegen ermessensfehlerhaft ergangen, da der Antragsgegner den Gläubiger der Kapitalerträge entgegen der dargelegten Begründung tatsächlich kenne. Es sei gerade nicht schlüssig, wenn der Antragsgegner im Nachforderungsbescheid 2022 darlege, dass die G wirtschaftliche Eigentümerin der Aktien gewesen sei, der Antragsgegner nunmehr aber behaupte, den Gläubiger der Kapitalerträge nicht zu kennen. Dies habe der Antragsgegner bei seiner Ermessenserwägung nicht berücksichtigt. Insofern sei eine Inanspruchnahme des Gläubigers der Kapitalerträge gem. § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG gerade nicht unmöglich gewesen. Deshalb sei es ermessensfehlerhaft, den Gläubiger nicht vorrangig in Anspruch zu nehmen. Abschließend habe der Antragsgegner unberücksichtigt gelassen, dass bei der Vollziehung der Zahlungsaufforderung ein gegenläufiger Erstattungsanspruch entstehe, weswegen an der Vollziehung kein öffentliches Interesse bestehe. Denn dem ausländischen Gläubiger der Kapitalerträge stehe im Vergleich zu ihr, der Antragstellerin, ein Anspruch auf Erstattung von 2/5 der Kapitalertragsteuer sowie des Solidaritätszuschlags gem. § 50c Abs. 3 EStG (zuvor § 50d Abs. 1 EStG a.F.) zu, da dieser nach dem betreffenden Abkommensrecht nur mit einem Steuersatz von höchstens 15 % des Bruttobetrags der Dividenden belastet werden dürfe.

    Die AdV sei nicht von einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen. Eine Gefahr, dass die Durchsetzung des Steueranspruchs im Falle der Aufhebung ohne Sicherheitsleistung gefährdet oder erschwert würde, bestehe vorliegend nicht. Von einer Sicherheitsleistung solle insbesondere dann abgesehen werden, wenn, wie hier, mit Gewissheit oder großer Wahrscheinlichkeit ein für den Steuerpflichtigen günstiger Prozessausgang zu erwarten sei, da in dieser Konstellation das öffentliche Interesse an der Vermeidung von Steuerausfällen entfalle.

    Die Antragstellerin beantragt,

    1.
    die Vollziehung des Haftungsbescheids über Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2014 vom ... 2021 ohne Sicherheitsleistung auszusetzen bzw. für den Fall, dass der Haftungsbescheid bereits vollzogen wurde, die Vollziehung ohne Sicherheitsleistung aufzuheben,

    2.
    die Vollziehung der Zahlungsaufforderung vom 30. September 2024 zum Haftungsbescheid über Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2014 vom ... 2021 ohne Sicherheitsleistung auszusetzen bzw. für den Fall, dass die Zahlungsaufforderung bereits vollzogen wurde, die Vollziehung ohne Sicherheitsleistung aufzuheben,

    3.
    eine etwaige Verwirkung von Säumniszuschlägen bis zum Ergehen der gerichtlichen Entscheidung über die Aussetzungsanträge aufzuheben.

    Der Antragsgegner beantragt,

    den Antrag abzuweisen.

    Zur Begründung trägt der Antragsgegner unter Verweis auf seine Ausführungen im Verfahren 6 K 155/23 beim FG Hamburg im Wesentlichen wie folgt vor:

    Die im Klageverfahren angegriffene Einspruchsentscheidung vom ... 2023 sei rechtmäßig, da die Antragstellerin den Einspruch mit Schreiben vom 23. Februar 2022 wirksam zurückgenommen habe. Unter Wiederholung seiner Ausführungen im Verfahren 6 K 155/23 beim FG Hamburg hat der Antragsgegner hierzu unter anderem darauf verwiesen, dass H wirksam ermächtigt worden sei, die Rücknahme des Einspruchs für die Antragstellerin zu erklären und die Erklärung der Rücknahme mit Schreiben vom 23. Februar 2022 auch nicht derart auslegungsfähig und auslegungsbedürftig sei, dass in Wahrheit keine Rücknahme gewollt gewesen sei.

    Da die Antragstellerin vorliegend ihren Einspruch gegen den Haftungsbescheid 2021 zurückgenommen habe, liege kein für die Gewährung von AdV notwendiger angefochtener Verwaltungsakt mehr vor. Die Zahlungsaufforderung sei rechtmäßig ergangen, insbesondere sei die zugrundeliegende Ermessensentscheidung nicht fehlerhaft. Insoweit werde auf die in der Zahlungsaufforderung dargelegte Begründung verwiesen. Darüber hinaus sei ein möglicher Erstattungsanspruch nach geltender Gesetzeslage beim BZSt geltend zu machen und im hiesigen Verfahren nicht berücksichtigungsfähig. Eine unbillige Härte bestehe für die Antragstellerin nicht, da sie sich lediglich an die gesetzlichen Vorschriften zu halten habe.

    Hinsichtlich einer etwaigen Sicherheitsleistung sei zu berücksichtigen, dass durch deren Anordnung Steuerausfälle bei einem ungünstigen Verfahrensausgang vermieden werden sollen. Die Gefahr eines Steuerausfalls sei schon mit Rücksicht auf die Höhe der Nachforderung zu bejahen. Zudem verschlechtere sich die wirtschaftliche Lage der Antragstellerin seit Jahren. Der vorläufige Jahresabschluss der Antragstellerin weise zum 31. Dezember 2024 eine Erhöhung von Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten in Höhe von über EUR ... aus. Die Antragstellerin könne auch durch Abtretung ihrer Ansprüche gegenüber der C aus dem Tax Indemnification Agreement vom ... 2021 Sicherheit leisten. Schließlich sei auch zu beachten, dass das OLG Frankfurt in einem vergleichbaren Fall die Anklage zugelassen und einen hinreichenden Tatverdacht wegen vorsätzlicher Steuerhinterziehung gegen die Angeschuldigten bejaht habe.

    ...

    II.

    1. Die Anträge zu 1. und 2. der Antragstellerin, die Vollziehung des Haftungsbescheids und der Zahlungsaufforderung zum Haftungsbescheid über "Körperschafteuer und Solidaritätszuschlag" auszusetzen, sind gem. §§ 133, 157 BGB dahingehend auszulegen, dass sich die Anträge auf den Haftungsbescheid 2021, der die Haftung für 2/5 der Kapitalertragsteuer 2014 betrifft, beziehen - und nicht auf eine etwaige "Körperschaftsteuer". Insofern handelt es sich um einen offensichtlichen Schreibfehler, der durch Auslegung der betreffenden Prozesserklärungen zu berichtigen ist.

    2. Der Antrag zu 1. ist zulässig (b)) und begründet (c)).

    a) Nach § 69 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen bzw. aufheben, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sind gegeben, wenn bei summarischer Prüfung neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zu Tage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen und/oder Unklarheiten in der Beurteilung einer Tatfrage bewirken (st. Rspr., vgl. nur BFH, Beschlüsse vom 18. Juli 2012, X S 19/12, BFH/NV 2012, 2008; vom 3. Februar 2005, I B 208/04, BStBl. II 2005, 351; vom 3. Februar 1993, I B 90/92, BStBl. II 1993, 426). Die Entscheidung ergeht bei der im vorläufigen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage sowie aufgrund von präsenten Beweismitteln (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 294 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO -) ergibt. Mittel der Glaubhaftmachung sind neben den präsenten Beweismitteln auch eine eidesstattliche Versicherung des Antragstellers und Dritter (BFH, Beschluss vom 12. November 1999, VI B 318/98, juris). Es ist Sache der Beteiligten, die entscheidungserheblichen Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen, soweit ihre Mitwirkungspflicht reicht (BFH, Beschluss vom 20. März 2002, IX S 27/00, BFH/NV 2002, 809 m.w.N.). Die im Hauptsacheverfahren geltenden Regeln zur Feststellungslast finden auch im Aussetzungsverfahren Anwendung.

    b) Die Zulässigkeit eines Antrags auf AdV setzt voraus, dass der Verwaltungsakt, dessen Aussetzung begehrt wird, angefochten ist, das heißt gegen ihn ein außergerichtlicher Rechtsbehelf eingelegt oder Klage erhoben worden ist (BFH, Beschluss vom 4. Dezember 1967, GrS 4/67, BStBl. II 1968, 199; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rn. 45 m.w.N., Stand Februar 2021). Der hiesige Antrag auf AdV ist nicht aufgrund einer Rücknahme des Einspruchsverfahrens gegen den Haftungsbescheid 2021 unzulässig. Die Antragstellerin hat den Einspruch vom 19. Januar 2022 gegen den Haftungsbescheid 2021 nicht mit Schreiben vom 23. Februar 2022 nach § 362 AO zurückgenommen. Zur Begründung wird auf das den Beteiligten bekannte Urteil vom 11. Februar 2025 im Verfahren 6 K 155/23 (...) verwiesen.

    c) Es bestehen nach summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheid 2021.

    aa) Bei dem Haftungsbescheid 2021 handelt es sich um einen weiteren - ergänzenden - Haftungsbescheid. Nach summarischer Prüfung stellt der Haftungsbescheid 2021 weder eine den Haftungsbescheid 2020 betreffende Änderung oder Ersetzung im Sinne des § 365 Abs. 3 AO dar (1), noch ist der Haftungsbescheid 2021 durch den Nachforderungsbescheid 2022 aufgehoben worden (2). Der Nachforderungsbescheid 2022 stellt zudem keine den Haftungsbescheid 2021 betreffende Änderung oder Ersetzung im Sinne des § 365 Abs. 3 AO dar (3).

    (1) Nach § 365 Abs. 3 AO wird für den Fall, dass der angefochtene Verwaltungsakt geändert oder ersetzt wird, der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Einspruchsverfahrens. Die in § 365 Abs. 3 Satz 1 AO verwendeten Begriffe Änderung und Ersetzung sind entsprechend dem Zweck der Vorschrift weit auszulegen (Cöster in Koenig, AO, 5. Auflage 2024, § 365 Rn. 24 m.w.N.). Änderung bedeutet, dass der Regelungsinhalt des angefochtenen Bescheids teilweise inhaltlich umgestaltet wird. Die Regelungsbereiche müssen teilweise identisch sein. Sie müssen denselben Steuerfall mit denselben Beteiligten über dieselbe Steuer- oder Abgabenart betreffen (vgl. BFH, Urteil vom 6. August 1996, VII R 77/95, BStBl. II 1997, 79; FG Köln, Urteil vom 14. August 2008, 13 K 2604/04, EFG 2009, 43; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 365 AO Rn. 172a, Stand August 2020). Die Ersetzung betrifft demgegenüber nicht den Inhalt, sondern die Wirksamkeit der angefochtenen Regelung (Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 365 AO Rn. 179b, Stand August 2020; Krumm in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 68 FGO Rn. 8b, Stand Mai 2023 mit Rechtsprechungsbeispielen zu der Zurücknahme eines Haftungsbescheids und seines Ersatzes durch einen inhaltlich anderen Haftungsbescheid). Keine Änderung im Sinne des § 365 Abs. 3 Satz 1 AO sind der Erlass eines Ergänzungsbescheids gemäß § 179 Abs. 3 AO sowie eine Teilrücknahme oder ein Teilwiderruf eines Verwaltungsakts gem. §§ 130, 131 AO, weil hier der ursprüngliche Verwaltungsakt in eingeschränktem Umfang wirksam und der Einspruch insoweit anhängig bleibt. Der geänderte Verwaltungsakt wird automatisch (aufgrund von Abs. 3 Satz 1) zum Gegenstand des Einspruchsverfahrens (vgl. nur BFH, Urteil vom 29. Mai 2001, VIII R 10/00, BStBl. II 2001, 747). Der Änderungs- oder Ersetzungsbescheid ist daher nicht selbstständig mit dem Rechtsbehelf angreifbar (vgl. für den Fall der Herabsetzung einer Haftungssumme BFH, Urteil vom 28. Januar 1982, V R 100/80, BStBl. II 1982, 292).

    Dem Wortlaut des Haftungsbescheids 2021 sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass der Haftungsbescheid 2020 geändert oder ersetzt werden sollte. Zwar hat der Antragsgegner im Haftungsbescheid 2021 auf den Haftungsbescheid 2020 verwiesen und auch den darin geforderten Betrag aufgelistet, allerdings hat der Antragsgegner im Haftungsbescheid 2021 gerade nicht die gesamte Haftungssumme (unter Einbeziehung der Haftungssumme aus dem Haftungsbescheid 2020) von der Antragstellerin gefordert, sondern nur den Betrag für den verbliebenen Teil der Kapitalertragsteuer 2014 und den Solidaritätszuschlag für das Jahr 2014 (diesbezüglich also insoweit sogar eine neue Steuerart). Damit hat der Antragsgegner weder den Regelungsinhalt des Haftungsbescheids 2020 in sich aufgenommen (vgl. für einen solchen Fall etwa BFH, Urteil vom 6. August 1996, VII R 77/95, BStBl. II 1997, 79) noch formell auf eine Änderung oder Ersetzung, etwa unter Anwendung der §§ 130, 131 AO, hingewiesen (vgl. für einen solchen Fall des § 68 FGO etwa Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 68 FGO Rn. 41 f., Stand November 2022). Gegen eine Änderung oder Ersetzung spricht auch, dass dem Erlass des Haftungsbescheids 2021 kein Verböserungshinweis im Sinne des § 367 Satz 2 AO vorausgegangen ist. Diesem Verständnis entsprechend gehen auch die Beteiligten vorliegend davon aus, dass der Haftungsbescheid 2020 unverändert weiter gelten sollte.

    (2) Der Haftungsbescheid 2021 ist auch nicht durch den Nachforderungsbescheid 2022 aufgehoben worden. Nach § 124 Abs. 2 AO bleibt ein Verwaltungsakt solange wirksam, als er nicht zurückgenommen, widerrufen oder anderweitig aufgehoben wird. Ob die Behörde einen bereits erlassenen Haftungsbescheid aufheben und durch den Erlass eines neuen Haftungsbescheids ersetzen will oder ob ein bereits existierender Haftungsbescheid lediglich ergänzt bzw. erweitert werden soll, ist im Einzelfall im Wege der Auslegung zu ermitteln. Der Wille, die erste Entscheidung aufzuheben, muss erkennbar sein (BFH, Urteil vom 25. Mai 2004, VII R 29/02, BStBl. II 2005, 3). Diese Rechtsprechungsgrundsätze sind entsprechend auf den vorliegenden Fall anzuwenden, da es nicht darauf ankommen kann, ob die Aufhebung durch einen weiteren Haftungsbescheid im Sinne des § 191 AO oder einen anderen Bescheid, wie etwa einen Steuerbescheid im Sinne des § 167 AO, erklärt wird - insbesondere wenn fraglich ist, ob ein Nacherhebungsbescheid im Sinne des § 167 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO vorliegt, mit dem materiell-rechtlich ein Haftungsanspruch geltend gemacht wird (vgl. BFH, Urteil vom 25. März 2021, VIII R 1/18, BStBl. II 2021, 655).

    Vorliegend hat der Antragsgegner durch den Erlass des Nachforderungsbescheids 2022 nicht den Willen erkennen lassen, den Haftungsbescheid 2021 aufheben zu wollen. Die betreffenden Haftungsbescheide werden im Nachforderungsbescheid 2022 nicht erwähnt. Daran ändert auch die Aufnahme der bereits den betreffenden Haftungsbescheiden zugrundeliegenden Haftungsbeträge - Kapitalertragsteuer 2014 und Solidaritätszuschlag 2014 - nichts. Ein Grundsatz, dass ein späterer Haftungsbescheid ohne ausdrückliche Aufhebungs-, Änderungs- oder Ersetzungsanordnung einen früheren Haftungsbescheid gegenstandslos macht, das heißt seinen Regelungsinhalt in sich aufnimmt oder ersetzt, lässt sich aus den für die Änderung oder Aufhebung eines Haftungsbescheides nach der AO allein in Betracht kommenden Vorschriften der §§ 129 bis 131 AO auch insoweit nicht ableiten, als die Haftungsgegenstände identisch sind (BFH, Urteil vom 25. Mai 2004, VII R 29/02, BStBl. II 2005, 3 m.w.N.). Denn dies setzt voraus, dass die Finanzbehörde an dem ursprünglichen Bescheid nicht mehr festhalten will und diesen deshalb zurückgenommen oder widerrufen und durch einen neuen Haftungsbescheid ersetzt hat - woran es hier im Streitfall fehlt (vgl. insoweit auch BFH, Urteil vom 25. Mai 2004, VII R 29/02, BStBl. II 2005, 3 m.w.N.). Im Gegenteil ist der Antragsgegner vorliegend für die Antragstellerin stets erkennbar davon ausgegangen, zum Erlass eines Nacherhebungsbescheids im Sinne des § 167 AO neben den Haftungsbescheiden 2020 und 2021 berechtigt gewesen zu sein.

    Für diese Auslegung sprechen auch die im Urteil des FG Rheinland-Pfalz dargestellten Grundsätze zum Verhältnis zwischen einem Haftungsbescheid und einem nachfolgenden Bescheid im Sinne des § 167 AO, wonach ein schützenswertes Vertrauen dahingehend begründet wird, dass die Finanzbehörde den von ihr gewählten Verfahrensweg weiterhin bestreiten und keinen Nachforderungsbescheid erlassen wird (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2020, 3 K 1985/17, EFG 2020, 785). Ohne ausdrückliche Aufhebung des Haftungsbescheids mag in diesen Fällen der nachfolgende Nachforderungsbescheid rechtswidrig sein, diese rechtliche Folge würde durch die Annahme einer stets zu berücksichtigenden gleichzeitigen Rücknahme des Haftungsbescheids in dem (Nachforderungs)Bescheid aber konterkariert, da im Falle der Rücknahme und erneuten Inanspruchnahme in derselben Verfügung jedenfalls die Zurücknahme kein schutzwürdiges Vertrauen begründen könnte (vgl. BFH, Urteil vom 22. Januar 1985, VII R 112/81, BStBl. II 1985, 562).

    (3) Der Nachforderungsbescheid 2022 ist auch keine den Haftungsbescheid 2021 betreffende Änderung oder Ersetzung im Sinne des § 365 Abs. 3 AO.

    § 167 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO begründet nach ständiger Rechtsprechung des BFH ein Wahlrecht der Finanzbehörde, den Entrichtungsschuldner der Kapitalertragsteuer entweder durch Haftungsbescheid gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG oder durch Steuerbescheid (Nacherhebungsbescheid) in Anspruch nehmen zu können, wenn er seine Anmeldepflicht nicht erfüllt; die Wahl des Verfahrens muss nicht begründet werden (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteil vom 21. September 2017, VIII R 59/14, BStBl. II 2018, 163, juris-Rn 36 m.w.N.). Der Erlass eines Nacherhebungsbescheids über Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag ist zwar eine Steuerfestsetzung. Dies ändert aber nichts daran, dass es sich materiell-rechtlich um die Geltendmachung eines Haftungsanspruchs handelt. Die Steuerfestsetzung gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO erfasst denjenigen, der die Steuer als Entrichtungssteuerschuldner nicht angemeldet hat, gerade in seiner Funktion als Haftungsschuldner (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteil vom 17. Mai 2022, VIII R 14/18, BStBl. II 2022, 1654, juris-Rn. 24 m.w.N.). Dies hat zur Folge, dass auch im Fall des Nacherhebungsbescheids die tatbestandlichen Erfordernisse des § 44 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 EStG zur Exkulpation zu beachten sind (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteile vom 21. September 2017, VIII R 59/14, BStBl. II 2018, 163, juris-Rn 38, m.w.N. und vom 13. September 2000, I R 61/99, BStBl. II 2001, 67, juris-Rn. 18).

    Der BFH hat vor diesem Hintergrund zu § 68 FGO unter Heranziehung allgemeiner Grundsätze in seinem Urteil vom 25. März 2021 (VIII R 1/18, BStBl. II 2021, 655) dargestellt, dass die dort streitrelevanten Bescheide nicht denselben Besteuerungsgegenstand betreffen, da der Nachforderungsbescheid als Steuerbescheid gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 AO der Festsetzung gegenüber dem Steuerschuldner diene und mit dem Haftungsbescheid der Haftungsschuldner für die Steuerschuld eines anderen in Anspruch genommen werde. Ein Änderungsbescheid im Sinne des § 68 FGO könne nur dann vorliegen, wenn der Nachforderungsbescheid als Nacherhebungsbescheid im Sinne des § 167 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO auszulegen wäre, weil der Entrichtungsschuldner in seiner Funktion als Haftungsschuldner in Anspruch genommen werde und es sich materiell-rechtlich um die Geltendmachung eines Haftungsanspruchs handele. Eine derartige Auslegung schied nach Ansicht des BFH in dem Streitfall aber bereits deswegen aus, weil das Finanzamt den Haftungsbescheid aufgehoben und damit zum Ausdruck gebracht habe, die Klägerin nicht mehr im Wege der Haftung in Anspruch nehmen zu wollen. Zudem sei die streitrelevante Anspruchsgrundlage des § 44 Abs. 6 Satz 5 EStG nicht auf laufende Gewinne eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs anzuwenden und der betreffende Nachforderungsbescheid auf § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG an die Gläubigerin der Kapitalerträge gerichtet worden statt, wie noch zuvor, an den Schuldner der Kapitalerträge (BFH, Urteil vom 25. März 2021, VIII R 1/18, BStBl. II 2021, 655, juris-Rn. 19).

    Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist zunächst festzuhalten, dass der Haftungsbescheid 2021 nicht im Sinne des § 124 AO durch den Erlass des Nachforderungsbescheid 2022 aufgehoben worden ist (siehe oben unter (2)). Wie in dem oben dargestellten Fall des BFH (Urteil vom 25. März 2021, VIII R 1/18, BStBl. II 2021, 655) hat der Antragsgegner hier zudem im Nachforderungsbescheid 2022 zum Ausdruck gebracht, die Antragsgegnerin gerade nicht im Wege der Haftung in Anspruch nehmen zu wollen. Zwar hat der Antragsgegner hier nicht den Haftungsbescheid selbst aufgehoben, allerdings hat der Antragsgegner im Nachforderungsbescheid 2022 gerade keine Ausführungen zu einem etwaigen Haftungsanspruch gemacht, sondern lediglich auf die (Verletzung der) Entrichtungspflicht verwiesen ("(...) hätte (...) abführen müssen." und "(...) nicht ordnungsgemäß einbehalten und abgeführt."). Dies ist insofern für die Einordnung relevant, da, um eine "Eingriffsverschärfung" zu vermeiden, gerade mit dem Nachforderungsbescheid materiell-rechtlich ein Haftungsanspruch geltend gemacht werden soll (vgl. BFH, Urteil vom 21. September 2017, VIII R 59/14, BStBl II 2018, 163, juris-Rn. 38; Beschluss vom 18. März 2009, I B 210/08, BFH/NV 2009, 1237, juris-Rn. 17). Den Ausführungen des Antragsgegners im Nachforderungsbescheid 2022 sind demgegenüber weder eine die Haftung begründende Norm noch verschuldensabhängige Ausführungen, etwa zu § 44 Abs. 5 EStG, zu entnehmen. Aus Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers lässt dies den Schluss, dass der Antragsgegner davon ausgeht, gegenüber der Entrichtungsschuldnerin (der Antragstellerin) wie gegenüber dem eigentlichen Steuerschuldner die Kapitalertragsteuer festsetzen zu können (zu einer solchen Heranziehung des Entrichtungspflichtigen auf der primären Leistungsebene Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 167 AO Rn. 14, Stand Januar 2025). Des Weiteren wäre bei der Anwendung von § 365 Abs. 3 AO das oben dargestellte Wahlrecht dadurch ausgehöhlt, dass die Finanzverwaltung vor Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens jederzeit - noch dazu ohne Einhaltung der Voraussetzungen der §§ 130, 131 AO - die (formale) Bescheidart wechseln könnte (hiergegen auch Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2020, 3 K 1985/17, EFG 2020, 785, juris-Rn. 41). Schließlich spricht auch der erkennbare Wille des Antragsgegners - den Haftungsbescheid 2021 und den Nachforderungsbescheid 2022 unabhängig voneinander zu behandeln - dafür, keine Änderung oder Ersetzung im Sinne des § 365 Abs. 3 AO anzunehmen. Dieser Wille war auch für die Antragstellerin erkennbar - darauf, dass die Antragstellerin in diesem Zusammenhang von einer Aufhebung des Haftungsbescheid 2021 ausgeht, kommt es insofern nicht an, da die Antragstellerin selbst schon nicht davon ausgeht, dass der Nachforderungsbescheid 2022 Gegenstand des hiesigen Verfahrens zum Haftungsbescheid 2021 geworden ist.

    bb) Es bestehen nach summarischer Prüfung ernstliche Zweifel daran, ob der Antragsgegner den hier streitgegenständlichen Haftungsbescheid 2021 hinsichtlich der Kapitalertragsteuer 2014 - ausgenommen den Solidaritätszuschlag für 2014 - aus verfahrensrechtlichen Gründen erlassen durfte.

    (1) Mangels Erlass einer Änderungs-, Ersetzungs- oder Aufhebungsanordnung unter vorheriger (teilweiser) Rücknahme bzw. Widerrufs des Haftungsbescheids 2020 nach Maßgabe der §§ 130, 131 AO bestehen bereits ernstliche Zweifel, ob der Haftungsbescheid 2021 neben dem Haftungsbescheid 2020 (soweit es die Kapitalertragsteuer 2014 betrifft) ergehen durfte.

    (aa) Nach dem Urteil des BFH vom 25. Mai 2004 (VII R 29/02, BStBl. II 2005, 3; bestätigt durch BFH, Urteil vom 15. Februar 2011, VII R 66/10, BStBl. II 2011, 534) steht ein bereits ergangener Haftungsbescheid dem Erlass eines weiteren Haftungsbescheids (nur) dann nicht entgegen, wenn dieser aufgrund eines anderen, bisher nicht berücksichtigten Sachverhalts ergeht, der Gegenstand eines selbstständigen, durch den ursprünglichen Haftungsbescheid nicht erfassten Haftungsanspruchs ist. Danach ist die Erhöhung der Haftungssumme durch einen weiteren Haftungsbescheid ohne Beschränkung durch einen diesem vorangegangen Haftungsbescheid in der Regel dann unproblematisch, wenn sie nur deshalb erfolgt, weil etwa für einen zusätzlichen, durch den ersten Haftungsbescheid nicht berücksichtigten, selbstständigen Steueranspruch gehaftet werden soll; auch wenn dieser Steueranspruch im Zeitpunkt der ersten Haftungsinanspruchnahme bereits entstanden war.

    Offen gelassen hat der BFH indes, ob eine Nachforderung von weiteren Haftungsbeträgen ohne vorherige Rücknahme oder Widerruf eines bereits ergangenen Haftungsbescheids nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes zulässig wäre, für die Fälle, in denen die Haftungsinanspruchnahme durch Erlass eines weiteren Bescheids veränderten Sachverhalts angepasst werden soll, so zum Beispiel bei einer Erhöhung der Steuerschuld, für die der Haftungsschuldner in Anspruch genommen worden ist, infolge des Bekanntwerdens neuer Tatsachen oder eines Rechtsbehelfsverfahrens. Ist der Haftungsschuldner jedoch wegen eines bestimmten Lebenssachverhaltes durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen worden, hält der BFH den Erlass eines ergänzenden, die Haftung erweiternden Haftungsbescheides ohne vorherige Aufhebung des vorangegangenen Haftungsbescheides und Prüfung der Frage des Vertrauensschutzes i.S. des § 130 Abs. 2 AO dann für unzulässig, wenn der erste Bescheid über denselben Sachverhalt entschieden hat wie auch der zweite und die Inanspruchnahme auf eine zu niedrige Haftungssumme auf einer rechtsirrtümlichen Beurteilung des Sachverhaltes oder einer fehlerhaften Ermessensentscheidung beruht. In diesem Fall steht der nochmaligen - verbösernden - Regelung des bereits beurteilten und abschließend geregelten Sachverhaltes die Bestandskraft eines vorangegangenen Haftungsbescheides entgegen, die zwar nach Maßgabe des § 130 Abs. 2 AO durchbrochen werden könnte, aber den Erlass eines zusätzlichen, neben den ursprünglichen Haftungsbescheid tretenden Haftungsbescheids verbietet (BFH, Urteil vom 25. Mai 2004, VII R 29/02, BStBl. II 2005, 3, juris-Rn. 16 und 17).

    In Rechtsprechung und Literatur wird zum Teil vertreten, dass es in diesen Fällen auf die Bestandskraft des ersten Haftungsbescheids gerade nicht ankommt (FG Münster, Urteil vom 26. November 2004, 9 K 5436/98 U, EFG 2005, 1009, juris-Rn. 187; so wohl auch von Wedelstädt in Gosch, AO/FGO, 130 AO Rn. 76, Stand Februar 2019).

    (bb) Unter Berücksichtigung der letztgenannten Ansicht, der sich der Senat im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anschließt, steht dem Erlass des Haftungsbescheids 2021 der Haftungsbescheid 2020 entgegen. Auf die letztgenannte Ansicht kommt es vorliegend auch an, da der Haftungsbescheid 2020 mit Einspruch vom 20. Januar 2021 angefochten und das betreffende Einspruchsverfahren auch noch nicht beendet ist. Der Haftungsbescheid 2021 ist mithin nicht bestandskräftig geworden. Nach Ansicht des FG Münster soll es nicht auf die Bestandskraft des vorangegangenen Bescheids ankommen, weil von einem einheitlichen Haftungsanspruch auszugehen sei, der verfahrensrechtlich (wie ein einheitlicher USt-Jahresanspruch) nicht auf mehrere (wirksame) Haftungsbescheide aufgeteilt werden dürfe (FG Münster, Urteil vom 26. November 2004, 9 K 5436 /98 U, EFG 2005, 1009, juris-Rn. 187). Dies ergebe sich auch aus den Entscheidungsgründen des Urteil des BFH vom 25. Mai 2004 (VII R 29/02, BStBl. II 2005, 3). Mit Blick auf die Kapitalertragsteuer liegt ein solcher einheitlicher Haftungsanspruch hier vor, da dem Haftungsbescheid 2021 erkennbar kein veränderter Sachverhalt zugrunde gelegt worden ist und sowohl der Haftungsanspruch als auch die Ausführungen des Antragsgegners im Vergleich zum Haftungsbescheid 2020 unverändert geblieben sind - der Antragsgegner macht lediglich den bisher noch nicht im Wege der Haftung geforderten Teil der Kapitalertragsteuer (und den Solidaritätszuschlag) geltend. Da es sich hier insoweit nicht um einen teilbaren Anspruch handelt, schließlich handelt es sich bei der Kapitalertragsteuer um eine Quellensteuer, die erst im Nachgang im Erstattungswege wirtschaftlich reduziert werden kann (etwa auf 15 %), kommt es hier lediglich darauf an, dass der Antragsteller einen entsprechenden Haftungsanspruch bereits festgesetzt hat und nunmehr - nach Änderung seiner rechtsirrtümlichen Beurteilung - auf Grundlage des unveränderten Sachverhalts einen weiteren Haftungsbetrag geltend machen will.

    (2) Unabhängig davon spricht viel dafür, dass der Haftungsbescheid 2021 aufgrund eines mit der Wertung des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO nicht zu vereinbarenden Verfahrensverstoßes aufgrund der beabsichtigten Verböserung während des Einspruchsverfahrens gegen den Haftungsbescheid 2020 rechtswidrig ist.

    (aa) Gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 AO kann ein Verwaltungsakt im Einspruchsverfahren auch zum Nachteil des Einspruchsführers geändert werden, wenn dieser auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich hierzu zu äußern. Aufgrund der im Einspruchsverfahren geltenden umfassenden Überprüfungsmöglichkeit nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO ist das Finanzamt nicht an die Voraussetzungen der Korrekturvorschriften §§ 130 f., 172 ff. AO gebunden (BFH, Urteil vom 10. März 2016, III R 2/15, BStBl. II 2016, 508). Gleichwohl kann das Finanzamt auch "außerhalb" des Verfahrens, also nicht durch Einspruchsentscheidung, sondern gem. § 132 AO mittels eines auf die §§ 130, 131 AO gestützten Verwaltungsakt entscheiden (Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 130 AO Rn. 40 f., Stand November 2022).

    (bb) Obwohl sowohl der Haftungsbescheid 2020 als auch der Haftungsbescheid 2021 denselben Sachverhalt betreffen (i), hat der Antragsgegner einen, wäre er als Änderungsbescheid im Einspruchsverfahren gegen den Haftungsbescheid 2020 ergangen, insofern verbösernden Verwaltungsakt erlassen, ohne einen Verböserungshinweis im Sinne des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO zu erteilen (ii). Dadurch hat der Antragsgegner jedenfalls das Schutzniveau des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO unterlaufen, welches durch den Einspruch gegen den Haftungsbescheid 2020 gezogen wurde (iii).

    (i) Der Haftungsbescheid 2020 und der Haftungsbescheid 2021 betreffen denselben Sachverhalt, da beide Verwaltungsakte die streitige Haftung der Antragstellerin für die Kapitalertragsteuer 2014 des XXX betreffen (vgl. auch oben unter (1) (bb)). Andere Tatsachen sind dem Haftungsbescheid 2021 erkennbar nicht zugrunde gelegt worden. Die beiden Haftungsbescheide unterscheiden sich insoweit lediglich in der Höhe, da der Antragsgegner mit dem Haftungsbescheid 2021 unter Verweis auf das BMF-Schreiben vom 9. Juli 2021 den verbliebenen Teil der Kapitalertragsteuer für 2014 (in Höhe von 2/5 der gesamten Kapitalertragsteuer) und damit einen noch nicht von dem Haftungsbescheid 2020 betroffenen Teil der Kapitalertragsteuer für das Jahr 2014 (den "nicht steuerinduzierten" Teil) geltend gemacht hat. Das BMF-Schreiben vom 9. Juli 2021 selbst stellt allerdings gerade keinen veränderten Sachverhalt dar, sondern bildet lediglich die Grundlage für die geänderte Rechtsansicht des Antragsgegners.

    (ii) Bei der Erweiterung der Haftung bezogen auf den verbliebenen Teil der Kapitalertragsteuer für 2014 handelt es sich grundsätzlich um eine Verböserung (vgl. für die Annahme einer Verböserung im Falle der Erweiterung der Haftung etwa Bartone in Gosch, AO/FGO, § 367 AO Rn. 35, Stand August 2019; Nacke in Nacke, Haftung für Steuerschulden, 5. Auflage 2022, Anhang 5 Korrektur von Haftungsbescheiden S. 445).

    Ein Verböserungshinweis im Sinne des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO ist demgegenüber mit Blick auf die Erweiterung der Haftung für den verbliebenen Teil der Kapitalertragsteuer 2014 nicht erteilt worden - und war nach dem vom Antragsgegner gewählten Verfahrensweg nach Ansicht des Antragsgegners entbehrlich. Das Erfordernis eines Verböserungshinweises verwirklicht den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 91 Abs. 1 AO) und soll dem Einspruchsführer ermöglichen, der Verböserung durch Einspruchsrücknahme zuvorzukommen (BFH, Urteil vom 10. November 1989, VI R 124/88, BStBl. II 1990, 414; Cöster in Koenig, AO, 5. Auflage 2024, § 367 Rn. 30). Ein Hinweis auf eine Verböserung ist nicht erteilt worden und wäre im Falle einer Änderung des Haftungsbescheids 2020 auch nicht ausnahmsweise entbehrlich gewesen. Insbesondere ist in der Anhörung vom 30. November 2021 zu dem Haftungsbescheid 2021 kein Verböserungshinweis zu sehen. Zwar hat der Antragsgegner in diesem Zusammenhang grundsätzlich rechtliches Gehör gewährt und sogar auf den Haftungsbescheid 2020 und das betreffende Einspruchsverfahren verwiesen. Durch den Verweis auf die ansonsten eintretende Verjährung hat der Antragsgegner allerdings klargestellt, gerade nicht durch eine Änderung im Rechtsbehelfsverfahren verbösern zu wollen, sondern außerhalb des Rechtsbehelfsverfahrens durch ein neues Verwaltungsverfahren tätig werden zu wollen. Dementsprechend hat der Antragsgegner auch den Haftungsbescheid 2021 erlassen, den er - wie den Nachforderungsbescheid 2022 - als zum Haftungsbescheid 2020 verfahrensrechtlich selbstständig betrachtet. Schließlich war ein Verböserungshinweis auch nicht ausnahmsweise mit Blick auf Treu und Glauben zugunsten des Antragsgegners entbehrlich. Zwar hat die Antragstellerin bis zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme durch den Haftungsbescheid 2021 stets zu erkennen gegeben, sich gegen eine entsprechende Festsetzung zur Wehr zu setzen. Die Antragstellerin hat sich aber gerade nicht - angesichts des vom Antragsgegner gewählten Verfahrenswegs mangels Gelegenheit - dazu positionieren können, ob sie im Falle einer Verböserung im Wege der Erweiterung der Haftung in dem betreffenden Verwaltungsverfahren weiterhin an dem Einspruch gegen den Haftungsbescheid 2020 festhalten würde. Insofern gibt es auch keine konkrete Äußerung der Antragstellerin (etwa durch ein Schreiben), auf das sich der Antragsgegner im Wege des Grundsatzes von Treu und Glauben berufen könnte. Die auf die Anhörung vom 30. November 2021 folgende Stellungnahme der Antragstellerin vom 14. Dezember 2021, die zudem noch angesichts der Fristsetzung sehr kurzfristig erfolgen musste, ist jedenfalls nicht dazu geeignet.

    (iii) Das Einspruchsverfahren zum Haftungsbescheid 2020 war zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids 2021 noch nicht beendet (siehe oben).

    Der Antragstellerin war durch die Erweiterung der Haftung durch Erlass des Haftungsbescheids 2021 außerhalb des Einspruchsverfahrens zum Haftungsbescheid 2020 die Möglichkeit genommen, der Erweiterung der Haftung durch Einspruchsrücknahme gegen den Haftungsbescheid 2020 zu begegnen. Denn hätte der Antragsgegner statt dem Hinweis auf die Einleitung eines neuen bzw. separat vom bisherigen Einspruchsverfahren zu behandelnden Verwaltungsverfahrens einen Verböserungshinweis im Sinne des § 367 Abs. 2 AO unter Bezugnahme auf eine Änderung im Einspruchsverfahren erteilt, hätte die Antragstellerin durch Rücknahme eines Einspruchs reagieren und die Bestandskraft des Haftungsbescheids 2020 herbeiführen können. Entsprechend den oben dargestellten Ausführungen zu der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BFH, Urteile vom 15. Februar 2011, VII R 66/10, BStBl. II 2011, 534 und vom 25. Mai 2004, VII R 29/02, BStBl. II 2005, 3) hätte dem Erlass eines erweiternden Haftungsbescheids zur Kapitalertragsteuer 2014 dann die Bestandskraft des Haftungsbescheids 2020 entgegengestanden.

    Der vorliegende Fall ist daher unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Vorschrift mit dem Fall vergleichbar, dass das Finanzamt ohne Erteilung eines Verböserungshinweises nach § 367 Abs. 2 AO einen verbösernden Änderungsbescheid vor Ergehen der Einspruchsentscheidung erlässt.

    Ist ein Hinweis auf die Verböserung unterlieben oder ist die Frist zur Äußerung unangemessen kurz gewesen, liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler in Form der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor, der die Einspruchsentscheidung rechtswidrig macht (BFH, Urteil vom 15. Mai 2013, VIII R 18/10, BStBl. II 2013, 669). Die Gerichte haben den Betroffenen so zu stellen, dass er durch das unrechtmäßige Verhalten keinen Schaden erleidet (BFH, Beschluss vom 3. Juli 2012, IX B 37/12, BFH/NV 2012, 1630). Vor diesem Hintergrund dürfte in dieser besonderen Gestaltung des Streitfalls davon auszugehen sein, dass der Haftungsbescheid 2021 hinsichtlich der (Haftungserweiterung für die) Kapitalertragsteuer 2014 rechtswidrig ist. Er dürfte, wie eine verbösernde Einspruchsentscheidung, die ohne Verböserungshinweis ergangen ist, in einem Hauptsacheverfahren aufzuheben sein, ohne dass § 127 AO einer solchen Entscheidung entgegenstünde (vgl. BFH, Beschluss vom 3. Juli 2012, IX B 37/12, BFH/NV 2012, 1630; BFH, Urteil vom 15. Mai 2013, VIII R 18/10, BStBl. II 2013, 669).

    Nicht betroffen ist hiervon gleichwohl die Haftungsinanspruchnahme wegen des Solidaritätszuschlags für 2014 durch den Haftungsbescheid 2021. Insoweit handelt es sich jedenfalls um eine andere Steuerart, für die die Antragstellerin nach den oben dargestellten Grundsätzen jedenfalls keinen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen kann.

    cc) Unabhängig davon bestehen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids 2021 und damit auch in Bezug auf die damit ebenfalls geltend gemachte Haftung für den Solidaritätszuschlag für die "gesamte nicht abgeführte KapSt des Jahres 2014" nach summarischer Prüfung bereits aus anderen Gründen ernstliche Zweifel. Die Haftungstatbestände des § 45a Abs. 7 (a.F.) und § 44 Abs. 5 EStG dürften nach summarischer Prüfung vorliegend nicht erfüllt sein.

    (1) Die Voraussetzungen des vom Antragsgegner geltend gemachten Haftungstatbestand des § 45a Abs. 7 Satz 1 EStG in der im Streitzeitraum geltenden Fassung liegen nicht vor. Danach haftet der Aussteller einer Bescheinigung, die den Absätzen 2 bis 5 nicht entspricht, für die auf Grund der Bescheinigung verkürzten oder zu Unrecht gewährten Steuervorteile ("Ausstellerhaftung"). Die Antragstellerin hat in Zusammenhang mit den an den XXX ausgezahlten Kapitalerträgen keine Steuerbescheinigung, weder im Sinne der § 45a Abs. 2 bis 5 EStG noch im Sinne des § 11 InvStG a.F., ausgestellt. Die NV-Bescheinigung vom ... 2012 wurde dem XXX vom Antragsgegner selbst ausgestellt. Die vom Antragsgegner insoweit dargelegte Begründung für eine Haftungsinanspruchnahme, dass die Antragstellerin für die abzuführende Kapitalertragsteuer eine Bescheinigung nach § 45a Abs. 2 EStG hätte erstellen müssen und deshalb in Haftung zu nehmen sei, stellt eine evident nicht mehr vom Wortlaut gedeckte und Rechtsstaatsgrundsätzen widersprechende Erweiterung des betreffenden Haftungstatbestands dar.

    (2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen des § 44 Abs. 5 EStG bestehen nach summarischer Prüfung ernstliche Zweifel.

    (aa) Gemäß § 44 Abs. 5 EStG haftet der Schuldner der Kapitalerträge, die den Verkaufsauftrag ausführende Stelle oder die die Kapitalerträge auszahlende Stelle für die Kapitalertragsteuer, die sie einzubehalten und abzuführen haben, es sei denn, sie weisen nach, dass sie die ihnen auferlegten Pflichten weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt haben. Das Finanzamt hat in einem ersten Schritt den Pflichtverstoß nachzuweisen. Es muss darlegen, dass Kapitalertragsteuer zu Unrecht nicht einbehalten und abgeführt wurde (Jachmann-Michel in Brandis/Heuermann, Ertragsteuerrecht, § 44 EStG Rn. 66, Stand November 2024; Herkenroth in Hermann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 44 EStG Rn. 103, Stand Juli 2023; Mann in BeckOK, EStG, 20. Edition, § 44 Rn. 159, Stand November 2024). Gelingt dieser Nachweis, wird ein Verschulden vermutet (BFH, Urteil vom 17. Mai 2022, VIII R 14/18, BStBl. 2022, 643).

    Eine Haftung nach § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG setzt damit zunächst tatbestandlich eine Pflicht nach § 44 Abs. 1 EStG zum Einbehalt und der Abführung von Kapitalertragsteuer voraus (Levedag in Schmidt, EStG, 43. Auflage 2024, § 44 Rn. 16; Gerschein in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG § 44 Rn. F4; vgl. auch BFH, Urteil vom 20. Dezember 2006, I R 13/06, BStBl. II 2007, 616, juris-Rn. 22 für die Auswirkung einer erst auf zweiter Stufe relevanten Freistellungsbescheinigung). Nach § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG n.F. ist der Steuerabzug unter Beachtung der im Bundessteuerblatt veröffentlichten Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung für Rechnung des Gläubigers der Kapitalerträge vorzunehmen (zur Frage, ob damit eine Erweiterung im Gegensatz zu der Fassung vor dem StÄndG 2015 vom 2. November 2015 verbunden ist - Herkenroth in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 44 EStG Rn. 10, Stand Juli 2023).

    (bb) Gemessen daran bestand, unter der nach summarischen Grundsätzen getroffenen Annahme, dass es sich bei dem XXX um den Gläubiger der Kapitalerträge handelt (vgl. hierzu unten unter (ii)), für die Antragstellerin nach § 44a Abs. 10 Satz 1 EStG als auszahlende Stelle grundsätzlich keine Pflicht, einen Steuerabzug vorzunehmen.

    (i) Werden gemäß § 44a Abs. 10 Satz 1 EStG Kapitalerträge im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a EStG gezahlt, hat die auszahlende Stelle keinen Steuerabzug vorzunehmen, wenn eine der aufgelisteten Bescheinigungen bzw. eine Nicht-Veranlagungsbescheinigung vorgelegt wird. Hier lag der Antragstellerin eine § 44a Abs. 10 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG entsprechende NV-Bescheinigung im Sinne des § 11 Abs. 2 InvStG a.F. für den XXX betreffend den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 31. Dezember 2014 vor. Bei dieser Bescheinigung handelt es sich gem. § 11 Abs. 2 Satz 4 InvStG a.F. um eine anstelle der nach dem Einkommensteuergesetz erforderlichen Nicht-Veranlagungsbescheinigung erforderliche Bestätigung, dass es sich bei dem Investmentfonds um ein steuerbefreites Zweckvermögen im Sinne des § 11 Abs. 1 InvStG a.F. handelt. Dass es sich dabei um eine Nicht-Veranlagungsbescheinigung im Sinne des § 44a Abs. 10 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG handelt, wird vom Antragsgegner nicht in Zweifel gezogen (vgl. hierzu auch Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main, 6. Juli 2015, S 1980 A-114-St 59, juris). Aufgrund der vorgelegten NV-Bescheinigung bestand damit vorliegend gemäß § 44a Abs. 10 EStG grundsätzlich keine Pflicht der Antragstellerin zum Einbehalt der Kapitalertragsteuer für die ausgezahlten Kapitalerträge (vgl. auch Behnes, RdF 2018, 40, 46; Helios/Lenz, DB 2017, 1738, 1743).

    (ii) Dies wäre nur dann anders zu beurteilen, wenn es sich bei dem XXX nicht um den Gläubiger der Kapitalerträge handeln würde. Denn die Entrichtungsverpflichtung im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG setzt sich aus drei wesentlichen Elementen zusammen: dem die Kapitalertragsteuer auslösenden Tatbestand gem. § 20 EStG, dem gemäß § 43 EStG daraus folgenden Steuerabzug und die sich aus einer auf den betreffenden Kapitalertrag bezogenen Aktivität einer Person, die sie gem. § 44 EStG zum Entrichtungspflichtigen werden lässt (Herkenroth in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 44 EStG Rn. 15, Stand Juli 2023; Gersch in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 44 EStG Rn. B35, Stand Januar 2012). Diesem Verständnis entsprechend könnte sich die Entrichtungspflicht der Antragstellerin gegebenenfalls dann anders darstellen, wenn es sich bei dem XXX nicht um den wirtschaftlichen Eigentümer der Kapitalerträge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 5 EStG handeln sollte, da auch der Gläubigerbegriff nicht in einem zivilrechtlichen, sondern in einem steuerrechtlichen Sinne zu verstehen ist (vgl. hierfür BFH, Urteil vom 22. August 1990, I R 69/89, HFR 1991, 148; für Cum/Cum Gestaltungen vgl. FG Hessen, Urteil vom 28. Januar 2020, 4 K 890/17, EFG 2020, 1160, juris-Rn. 180 ff.).

    Für die Annahme, dass es sich bei dem XXX vorliegend mangels wirtschaftlichen Eigentums im Sinne des § 39 AO nicht um den Gläubiger der Kapitalerträge handelt, bestehen nach summarischer Prüfung anhand der Aktenlage nicht genügend belastbare Anhaltspunkte. Dass es sich bei dem XXX nicht um den wirtschaftlichen Eigentümer der betreffenden Aktien gehandelt haben soll, wird seitens des Antragsgegners in diesem Verfahren zu dem betreffenden Haftungsbescheid 2021 bisher so noch nicht vertreten. Die erstmalig im Nachforderungsbescheid 2022 getroffene Annahme ist bisher gerade noch nicht Grundlage für die Inanspruchnahme der Antragstellerin im Haftungsbescheid 2021 geworden. Insofern ist für die summarische Prüfung zum Zeitpunkt dieser Entscheidung noch nicht geklärt, auf welcher tatsächlichen Grundlage eine anderweitige Annahme wirtschaftlichen Eigentums vorliegend überhaupt getroffen werden könnte - da nicht zuletzt auch der Nachforderungsbescheid 2022 insofern keine tatsächlichen Feststellungen trifft. Denn im Gegenteil, bisher hat der Antragsgegner für die Begründung des Haftungsbescheids 2021 stets auf den Prüfungsvermerk Nr. YYY des BZSt vom ... 2020 verwiesen, laut dem rechtliches und wirtschaftliches Eigentum gerade auf den XXX übergegangen sein soll, und diese Feststellungen gerade in dem Haftungsbescheid 2020 übernommen (auf den der Haftungsbescheid 2021 ebenfalls verweist).

    Eine anderweitige rechtliche Beurteilung ist dem Senat auf Grundlage der präsenten Beweismittel nicht möglich. Zwar hat der Antragsgegner das GMSLA zwischenzeitlich im Verfahren 6 K 155/23 vorgelegt, welches allerdings laut den betreffenden Bestimmungen unter Ziffer 24.1 dem Vertragsstatut "English Law" unterliegt und bisher lediglich in englischer Sprache vorliegt. Nach der Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 7. Dezember 2017, IV R 23/14, BStBl. II 2018, 444; vom 7. Dezember 2017, IV R 37/16, BFH/NV 2018, 440) ist ein Vertrag nach jenem ausländischen Recht auszulegen, dessen ausländischem Recht er unterliegt. Denn nach Art. 32 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 Satz 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB a.F.) ist das auf einen Vertrag anzuwendende Recht (das Vertragsstatut) maßgebend für die Vertragsauslegung. Die bei der Vertragsauslegung anzuwendenden Auslegungsmethoden sind danach dem ausländischen Recht zu entnehmen und nicht den Auslegungsregeln des deutschen Rechts gemäß §§ 133, 157 BGB. Den von den Vertragsparteien im Vertragstext verwendeten Rechtsbegriffen ist die Bedeutung beizumessen, die ihnen nach der ausländischen Rechtsordnung zukommt. Das deutsche Gericht hat das ausländische Recht so anzuwenden, wie es die Gerichte des ausländischen Staates auslegen und anwenden. Es gehört damit zu den Aufgaben des Finanzgerichts als Tatsacheninstanz, das einschlägige ausländische Recht gem. § 155 Satz 1 FGO in Verbindung mit § 293 ZPO festzustellen. Diese Tatsachenfeststellung obliegt dem Tatrichter, der das ausländische Recht nach seinem tatrichterlichen Ermessen zu ermitteln hat, wofür mangels ausreichender eigener Kenntnisse amtliche Auskünfte und sogar die Einholung eines Sachverständigengutachtens in Betracht kommen (vgl. BFH, Urteile vom 7. Dezember 2017, IV R 23/14, BStBl. II 2018, 444; vom 7. Dezember 2017, IV R 37/16, BFH/NV 2018, 440; vgl. dazu auch Loschelder in Rechtsschutz und Rechtsfortbildung, 75 Jahre Finanzgericht Hamburg 2024, S. 21 ff.). Diese Tatsachenfeststellungen bleiben daher vorliegend einem etwaigen Hauptsacheverfahren vorbehalten.

    (cc) Nach summarischer Prüfung liegen anhand der Aktenlage zudem ernstliche Zweifel vor, dass es sich vorliegend um einen Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO handelt.

    Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts das Steuergesetz nicht umgangen werden. Ist der Tatbestand der Regelung in einem Einzelsteuergesetz erfüllt, die der Verhinderung von Steuerumgehungen dient, so bestimmen sich die Rechtsfolgen nach jener Vorschrift (§ 42 Abs. 1 Satz 2 AO). Andernfalls entsteht nach § 42 Abs. 1 Satz 3 AO der Steueranspruch beim Vorliegen eines Missbrauchs im Sinne des § 42 Abs. 2 AO so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht. Ein Missbrauch liegt vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt (§ 42 Abs. 2 Satz 1 AO). Dies gilt nicht, wenn der Steuerpflichtige für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind (§ 42 Abs. 2 Satz 2 AO).

    Das Motiv, Steuern zu sparen, macht eine Gestaltung noch nicht unangemessen (BFH, Beschluss vom 29. November 1982, GrS 1/81, BStBl. II 1983, 272 und BFH, Urteile vom 29. September 2021, I R 40/17, BStBl. II 2023, 127; vom 12. Juni 2018, VIII R 32/16, BStBl. II 2019, 221; vom 29. Mai 2008, IX R 77/06, BStBl. II 2008, 789). Der Steuerpflichtige darf seine Verhältnisse grundsätzlich so gestalten, dass keine oder möglichst geringe Steuern anfallen (BFH, Urteil vom 19. Januar 2017, IV R 10/14, BStBl. II 2017, 466) und dabei zivilrechtliche Gestaltungen, die vom Gesetz vorgesehen sind, frei verwenden (BFH, Urteil vom 22. Juni 2017, IV R 42/13, BFH/NV 2018, 265). Eine rechtliche Gestaltung ist erst dann unangemessen, wenn der Steuerpflichtige nicht die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Gestaltung zum Erreichen eines bestimmten wirtschaftlichen Ziels gebraucht, sondern dafür einen ungewöhnlichen Weg wählt, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel nicht erreichbar sein soll. Eine Gestaltung, die überhaupt keinen erkennbaren wirtschaftlichen Zweck hat, kann der Besteuerung nicht zugrunde gelegt werden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn durch mehrere Geschäfte, die sich wirtschaftlich gegenseitig neutralisieren, lediglich ein steuerlicher Vorteil erzielt werden soll oder wenn die Gestaltung in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung durch eine gegenläufige Gestaltung kompensiert wird und sich deshalb im Ergebnis lediglich als formale Maßnahme erweist (BFH, Urteil vom 8. März 2017, IX R 5/16, BStBl. II 2017, 930).

    Ob es sich vor diesem Hintergrund (nach Aktenlage) um eine rechtlich unangemessene Gestaltung handelt, kann im einstweiligen Verfahrensweg nicht abschließend beantwortet werden. Gegen eine rechtlich unangemessene Gestaltung spricht vorliegend, dass das im Streitzeitraum Kapitalertragsteuer auslösende Rechtsgeschäft, die Wertpapierleihe, ein Standardgeschäft im Bereich der Kreditwirtschaft ist, welches zwischen institutionellen Anlegern nicht unüblich ist (vgl. hierzu allgemein BFH, Urteil vom 29. September 2021, I R 40/17, BStBl. II 2023, 127, juris-Rn. 54; Jachmann-Michel, BB 2022, 2711, 2719). Zwar ist mit guten Gründen durchaus in Zweifel zu ziehen, ob die "Üblichkeit/Unüblichkeit" eines Rechtsgeschäfts überhaupt ein geeignetes Differenzierungsmerkmal im Sinne des § 42 AO darstellen kann (vgl. auch Lotzgeselle, DB 2024, 279, 281), da es ansonsten dem Steuerpflichtigen möglich wäre, gesetzlich festgelegte bzw. zumindest angelegte Bewertungskriterien faktisch zu überlagern. Die vom Senat in diesem Zusammenhang allerdings zu treffende Feststellung, ob es sich im hier zu beurteilenden Einzelfall überhaupt um ein "branchenübliches" Rechtsgeschäft bzw. eine "übliche" Wertpapierleihe handelt, ist nicht zuletzt von einer genaueren Bewertung der hier zugrunde liegenden Wertpapierleihe bzw. des betreffenden GMSLA abhängig. Angesichts des gewählten Rechtsstatuts ist es dem Senat allerdings derzeit nicht möglich, entsprechende Feststellungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu treffen (vgl. oben). In diesem Zusammenhang ist unabhängig davon das Verhältnis zwischen dem XXX bzw. seiner Anleger und der G aufklärungsbedürftig. Denn die wohl herrschende Ansicht in der Literatur verlangt für das Vorliegen eines Steuervorteils bei einem Dritten, unabhängig davon ob man darin ein eigenes Tatbestandsmerkmal des § 42 AO oder einen Bestandteil der Frage der Angemessenheit der Gestaltung erkennt, dass ein Näheverhältnis zum Steuerpflichtigen vorliegt (Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 42 AO Rn. 25; Ratschow in Klein, AO, 18. Auflage 2024, § 42 Rn. 66; Stöber in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rn. 78; Jachmann-Michel, DB 2024, 817, 824; AEAO Nr. 2.3 zu § 42 AO; wohl offener Koenig in Koenig, AO, 5. Auflage 2024, § 42 Rn. 22 ("weder wirtschaftliche noch persönliche Beziehungen"); jedenfalls a.A. Lotzgeselle, DB 2024, 279, 287; Wingler, Ubg 2023, 412, 419). Die Gegenpartei der Wertpapiergeschäfte, die G, war gerade kein Anleger des XXX, sondern wohl "Teil der C Gruppe". Welche Beziehung im Einzelnen zu den Anlegern des XXX oder der Antragstellerin selbst vorlag und ob diese Beziehung für die Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs nach § 42 AO ausreichend ist, kann nach Aktenlage hingegen nicht beurteilt werden. Hierzu müssten gegebenenfalls weitere Aufklärungsmaßnahmen in einem sich eventuell anschließenden Hauptsacheverfahren erfolgen.

    3. Der Antrag zu 2., welcher - unter Berücksichtigung des auch auf eine Aufhebung der Vollziehung des Haftungstatbestands 2021 gerichteten Antrags zu 1. - als Antrag auf Aufhebung der Zahlungsaufforderung als Vollzugsfolge auszulegen ist, ist darüber hinaus ebenfalls zulässig und begründet, sodass die Zahlungsaufforderung aufzuheben ist (siehe hierfür unten unter 4.).

    Dies ergibt sich vorliegend bereits daraus, dass die AdV des Haftungsbescheids auch die Zahlungsaufforderung erfasst (vgl. insoweit wohl auch Werth in Klein, AO, 18. Auflage 2024, Rn. 11). Zwar hat der BFH entschieden, dass die Aussetzung der Vollziehung des zugrundeliegenden Verwaltungsakts nicht die Anpassung eines bereits ergangenen Leistungsgebots gebietet und es damit insbesondere nicht als solches in einem isoliert dagegen anhängigen Anfechtungsverfahren aufzuheben ist (BFH, Beschluss vom 16. März 1995, VII S 39/92, BFH/NV 1995, 950). Damit ist gleichwohl noch keine Aussage dazu getroffen, inwiefern (wie hier) sich die AdV des Haftungsbescheids auf die ebenfalls beantragte AdV der Zahlungsaufforderung auswirkt. Die Zahlungsaufforderung ist vielmehr als Vollziehung des Haftungsbescheids anzusehen (vgl. BFH, Beschluss vom 16. März 1995, VII S 39/92, BFH/NV 1995, 950). Konsequenterweise ist sie somit aufzuheben, wenn gegen den Bescheid - wie hier - (rückwirkend) AdV gewährt wird.

    Unabhängig davon ist die der Zahlungsaufforderung zugrundeliegende Ermessensausübung darüber hinaus bei summarischer Prüfung aber auch fehlerhaft. Die Entscheidung des Finanzamts ist nach § 102 FGO gerichtlich darauf zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. § 5 AO).

    Die Haftungsinanspruchnahme wie auch die Zahlungsaufforderung sind Ermessenentscheidungen, die nach den Vorgaben des § 5 AO erfolgen müssen. Die fehlerfreie Ermessensausübung setzt einen umfassend und einwandfrei ermittelten Sachverhalt voraus (vgl. BFH, Urteile vom 12. Dezember 1996, VII R 53/96, BFH/NV 1997, 938; vom 15. Juni 1983, I R 76/82, BStBl. II 1983, 672; FG Hamburg, Urteil vom 2. November 2010, 1 K 82/08, EFG 2011, 598; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 5 AO Rn. 59, Stand August 2023). Insofern besteht im Verhältnis zwischen Haftungsbescheid im Sinne des § 191 AO und Zahlungsaufforderung im Sinne des § 219 AO die Besonderheit, dass die Ermessensausübung durch den Erlass des Haftungsbescheids vorgeprägt ist (Werth in Klein, AO, 18. Auflage 2024, § 219 Rn. 2; Intemann in Koenig, AO, 5. Auflage 2024, § 219 Rn. 22). Die Pflicht zur fehlerfreien Ermessensausübung gilt auch in den Fällen des § 219 Satz 2 AO, in denen der Haftende ohne vorherige Vollstreckungsversuche bei dem Steuerschuldner in Anspruch genommen werden darf. Die Subsidiarität der Inanspruchnahme des Haftenden ist gerade nicht aufgehoben, sondern im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung zu berücksichtigen. Die Finanzbehörde hat daher auch in den Fällen des § 219 Satz 2 AO zu prüfen und darzutun, ob und warum sie den Haftungsschuldner vor dem Erstschuldner in Anspruch nimmt (vgl. AEAO zu § 219 Nr. 2; BFH, Urteil vom 18. November 2021, V R 24/20, BFH/NV 2022, 624; Kruse, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 219 AO Rn. 13, Stand November 2022).

    Die mit der Zahlungsaufforderung getroffene Ermessensentscheidung kann vor diesem Hintergrund bereits deswegen nicht als rechtmäßig angesehen werden, weil der Antragsgegner den mit einem Leistungsgebot versehenen Nachforderungsbescheid 2022 und damit einen wesentlichen Umstand bei seiner Ermessensentscheidung nicht berücksichtigt hat. Der Antragsgegner hat damit die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten (Ermessensverletzung in Form der Ermessensunterschreitung). Eine Ermessensunterschreitung ist gegeben, wenn die Finanzbehörde die Ermessensbefugnis verkennt oder ihren Ermessensrahmen nicht ausschöpft, weil ihr das zugestandene Ermessen oder seine Reichweite nicht bewusst ist, weil sie die Ermächtigungsnorm falsch ausgelegt oder wenn sie nicht alle gebotenen Erwägungen anstellt (Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rn. 40 m.w.N., Stand März 2024). Zwar hat der Antragsgegner jedenfalls in der Ablehnung des Antrags auf AdV der Zahlungsaufforderung darauf hingewiesen, dass die Entscheidung zur Inanspruchnahme der Antragstellerin ermessensfehlerfrei sei, da dem Antragsgegner die "Lieferketten" nicht offengelegt worden seien und selbst für den Fall, dass es sich bei der G um die Gläubigerin der Kapitalerträge handele (wie im Nachforderungsbescheid 2022 festgestellt), bei einer Vollstreckung im Ausland die Ermessensentscheidung keiner weiteren Begründung bedürfe. Allerdings hat der Antragsgegner nicht berücksichtigt, dass er die Antragstellerin zuvor durch den Erlass des Nachforderungsbescheids 2022, dem auch ein Leistungsgebot beigefügt war, in Anspruch genommen hat. Im Kern hat der Antragsgegner damit die Antragstellerin zur Leistung desselben (Teil-)Betrags zwei Mal aufgefordert. Unabhängig davon, ob dies im Ergebnis möglich ist, hätte der Antragsgegner dies bei der Ermessensentscheidung zum Erlass der Zahlungsaufforderung Berücksichtigung finden müssen. Denn nach höchstrichterlicher Rechtsprechung sind auch Tatsachen und Umstände des Einzelfalls, die nicht zum Tatbestand der Ermessensnorm gehören, als ermessensrelevant anzusehen (BFH, Urteil vom 27. Oktober 2009, VII R 51/08, BStBl. II 2010, 382; Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rn. 38, Stand März 2024). Dies gebietet sich vorliegend umso mehr, als das Verhältnis von Nachforderungsbescheid und Haftungsbescheid mangels gesetzlicher Vorgaben in der Literatur kritisch betrachtet und klarstellende Rechtsprechung nur in beschränktem Umfang zur Verfügung steht.

    Kein Ermessensfehler dürfte hier darin liegen, dass der Antragsgegner mit der Zahlungsaufforderung lediglich eine Haftungsschuld in Höhe von EUR ... (statt EUR ...) geltend gemacht hat. Denkbar wäre insoweit ein den oben dargestellten Grundsätzen entsprechender Fehler bei der Sachverhaltsermittlung zur Ermessensentscheidung oder ein anderweitiger Ermessensfehler, etwa mangels Ermessenserwägungen bei der Geltendmachung eines Teilbetrags. Allerdings dürfte es sich hierbei, angesichts des erkennbaren Rechenfehlers bei der Addition der (ansonsten korrekt dargestellten) Teil-Beträge, allenfalls um eine offenbare Unrichtigkeit handeln.

    4. Da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids 2021 bestehen, ist die Aussetzung der Vollziehung entsprechend dem Antrag zu 3. mit der Maßgabe auszusprechen, dass die bis zum Ergehen dieses Beschlusses angefallenen Säumniszuschläge und die Zahlungsaufforderung aufgehoben werden. Vollziehung im Sinne des § 69 FGO ist jedes Gebrauchmachen von den Wirkungen eines Verwaltungsaktes (BFH, Urteil vom 11. April 1989, VIII R 219/84, BFH/NV 1989, 755, juris-Rn. 14). Als Vollziehung im Sinne des § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO gilt auch der Anfall von Säumniszuschlägen und die Zahlungsaufforderung als Leistungsgebot und damit Grundlage der Vollstreckung (§ 254 Abs. 1 AO). Daher kann die Verwirkung von Säumniszuschlägen rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Fälligkeit der Steuerschuld aufgehoben werden, wenn der Steuerbescheid angefochten und nachträglich ernstliche Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit von Anfang an festgestellt werden (BFH, Beschluss vom 10. Dezember 1986, I B 121/86, BStBl. II 1987, 389, juris; FG Hessen, Beschluss vom 6. Mai 2013, 1 V 566/13, juris). Die Ausübung von Druck ist dann nicht berechtigt (BFH, Beschluss vom 10. Dezember 1986, I B 121/86, BStBl. II 1987, 389, juris).

    Hier bestehen solche ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides von Anfang an, d.h. ab Wirksamwerden des Haftungsbescheides.

    5. Die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung wird teilweise gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 3 FGO in Verbindung mit § 155 FGO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 ZPO von einer betragsmäßig beschränkten Sicherheitsleistung in Höhe von EUR ... abhängig gemacht, soweit es die Aussetzung und Aufhebung der Vollziehung des Haftungsbescheids 2021 in Höhe des auf den geltend gemachten Haftungsanspruch wegen Solidaritätszuschlag 2014 in Höhe von EUR ... betrifft. Dies gilt insoweit auch für die Zahlungsaufforderung und die Säumniszuschläge.

    a) Die Anordnung einer Sicherheitsleistung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dient der Vermeidung von Steuerausfällen. Solche Ausfälle können vor allem dadurch entstehen, dass der Steuerpflichtige im Hauptsacheverfahren letztlich unterliegt und zu diesem Zeitpunkt die Durchsetzung der Steuerforderung gefährdet oder erschwert ist. Die unwidersprochene Darstellung des Finanzamts, wonach sich die Vermögenslage des Antragstellers jährlich verschlechtere, kann auf eine Gefährdung des Steueranspruchs schließen lassen (BFH, Beschluss vom 26. September 2014, XI S 14/14, BFH/NV 2015, 158, juris-Rn. 47 m.w.N.; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler: AO/FGO, § 69 FGO Rn. 387, Stand Mai 2019). Die Höhe des Steueranspruchs allein ist nicht dazu geeignet, das Erfordernis der Anordnung einer Sicherheitsleistung zu begründen (vgl. BFH, Beschluss vom 7. Mai 2008, IX S 26/07, BFH/NV 2008, 1498). Das öffentliche Interesse an der Vermeidung von Steuerausfällen entfällt gleichwohl, wenn mit Gewissheit oder großer Wahrscheinlichkeit ein für den Steuerpflichtigen günstiger Prozessausgang zu erwarten ist (BFH, Beschluss vom 26. September 2014, XI S 14/14, BFH/NV 2015, 158, juris-Rn. 48 m.w.N).

    Die Anordnung einer Sicherheitsleistung darf aber nicht erfolgen, wenn sie mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen eine unbillige Härte für ihn bedeuten würde. Allerdings obliegt es dem Antragsteller auch insoweit, die Umstände substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen, dass ein Sicherungsbedürfnis der Finanzbehörde unangemessen oder unverhältnismäßig ist (vgl. z.B. BFH, Beschluss vom 25. November 2014, V B 62/14, BFH/NV 2015, 342, juris-Rn 8 m.w.N.). Die wirtschaftliche Lage der Haftungsschuldnerin erfordert kein Absehen von der Leistung der Sicherheit, wenn diese Rückgriff bei ihrem Vertragspartner nehmen kann (BFH, Beschluss vom 17. Mai 2005, I B 109/04, BFH/NV 2005, 1782, juris-Rn. 21).

    b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Ausübung richterlichen Ermessens hält es der Senat für sachgerecht und geboten, die AdV teilweise von der Erbringung einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen.

    Vorliegend ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ein für die Antragstellerin - soweit es die mit dem Haftungsbescheid 2021 geltend gemachte Kapitalertragsteuer für das Jahr 2014 betrifft - günstiger Prozessausgang zu erwarten ist (vgl. oben), sodass diesbezüglich ein öffentliches Interesse an der Vermeidung von Steuerausfällen entfällt. Demgegenüber ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens mit Blick auf den mit dem Haftungsbescheid 2021 geltend gemachten Solidaritätszuschlag offen, da die mit Blick auf die Fragen des wirtschaftlichen Eigentums und der Anwendung des § 42 AO notwendigen tatrichterlichen Feststellungen vom Hauptsacheverfahren abhängig sind. Insoweit ist hierfür auch zu beachten, dass der Darstellung des Antragsgegners, wonach sich die Vermögenslage der Antragstellerin jährlich verschlechtere ..., von Seiten der Antragstellerin nicht widersprochen worden ist. Eine mit der Anordnung der Sicherheitsleistung für die Antragstellerin eintretende unbillige Härte hat die Antragstellerin demgegenüber nicht dargelegt. Vor diesem Hintergrund erscheint es ermessensgerecht, die AdV bzw. Aufhebung der Vollziehung, soweit es die Haftungsinanspruchnahme wegen des Solidaritätszuschlags 2014 durch den Haftungsbescheid 2021 betrifft, von einer hierauf beschränkten Sicherheitsleistung abhängig zu machen und die AdV bzw. Aufhebung der Vollziehung im Übrigen ohne Sicherheitsleistung anzuordnen. Demgegenüber erscheint es unter Zugrundelegung der dargestellten Erfolgsaussichten nicht ermessensgerecht, die AdV bzw. Aufhebung der Vollziehung in Gänze von einer teilweisen Sicherheitsleistung abhängig zu machen.

    c) Die Höhe der Sicherheitsleistung ergibt sich aus dem durch die Aufhebung der Vollziehung entsprechenden Erstattungsbetrag, soweit er den mit dem Haftungsbescheid 2021 geltend gemachten Solidaritätszuschlag für das Jahr 2014 betrifft (EUR ...), zuzüglich geschätzter Zinsen für die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 237 AO (vgl. dazu BFH, Beschluss vom 3. Februar 1993, I B 90/92, BStBl. II 1993, 426, juris-Rn. 38). Für die Höhe der Zinsen legt der Senat nur einen Zeitraum von einem halben Jahr zugrunde, das angesichts der bisher nicht eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde in der Sache 6 K 155/23 bis zum voraussichtlichen Abschluss des Einspruchsverfahrens ablaufen wird.

    d) Die Art der Sicherheitsleistung steht gem. § 155 FGO i.V.m. § 108 Abs. 1 Satz 1 ZPO im Ermessen des Gerichts. Vorliegend hält es das Gericht für ermessensgerecht, dass die Sicherheitsleistung entweder durch Bankbürgschaft, gem. § 108 Abs. 1 Satz 2 ZPO oder aber durch Sicherungsabtretung von Ansprüchen aus dem Tax Indemnification Agreement vom ... 2013 gegenüber dem Antragsgegner (in der zuvor genannten Höhe) erbracht werden kann. Nachdem der Antragsgegner selbst angeregt hat, dass die Sicherheitsleistung durch (Sicherungs-)Abtretung von Ansprüchen der Antragstellerin aus dem Tax Indemnification Agreement vom ... 2013 erfolgen könne, hält es das Gericht vorliegend für ermessensgerecht, dass die Antragstellerin neben den Regelsicherheiten des § 108 Abs. 1 Satz 2 ZPO auch durch eine entsprechende Sicherungsabtretung in der betreffenden Höhe Sicherheit leisten kann.

    e) Zur Klarstellung werden die Beteiligten darauf hingewiesen, dass die Sicherheitsleistung eine auflösende Bedingung der Aussetzung und Aufhebung der Vollziehung in Höhe von EUR ... darstellt. Der Wegfall der Aussetzung und Aufhebung der Vollziehung hängt von dem zukünftigen ungewissen Ereignis ab, dass die Antragstellerin die verlangte Sicherheitsleistung bis zu dem vom Gericht vorgegebenen Zeitpunkt erbringt. Wenn bis zum 30. April 2025 keine Sicherheit geleistet wird, ist der angefochtene Haftungsbescheid in Höhe von EUR ... vollziehbar. Im Übrigen bleibt die Aussetzung und Aufhebung der Vollziehung des Haftungsbescheids 2021 bestehen.

    6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Dass die Antragstellerin mit ihrem Begehren, von einer Sicherheitsleistung freigestellt zu werden, unterlegen ist, wirkt sich kostenmäßig nicht aus (vgl. BFH, Beschluss vom 26. Mai 1988, V B 26/86, BFH/NV 1989, 403).

    7. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis beruht auf § 151 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 151 Abs. 3 FGO analog, § 155 FGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO (vgl. Finanzgericht Hamburg, Beschluss vom 10. Januar 2012, 4 V 288/11, EFG 2012, 955, juris-Rn.30).

    8. Die Beschwerde ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, § 128 Abs. 3 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.

    VorschriftenAO § 5, AO § 39, AO § 42, AO § 124 Abs. 2, AO § 130, AO § 131, AO § 167, AO § 191, AO § 219, AO § 365 Abs. 3, AO § 367 Abs. 2, EStG § 20, EStG § 43, EStG § 44 Abs. 1, EStG § 44 Abs. 5, EStG § 44a Abs. 10, EStG § 45a Abs. 2, EStG § 45a Abs. 7, FGO § 69 Abs. 2, FGO § 69 Abs. 3, InvStG 2004 § 11, ZPO § 108 Abs. 1