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  • 21.01.2022 · IWW-Abrufnummer 227059

    Hessisches Finanzgericht: Urteil vom 02.06.2021 – 4 K 107/18

    Diese Entscheidung enhält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Tenor

        Der Haftungsbescheid wird dahingehend geändert, dass der Haftungsbetrag für Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag insoweit reduziert wird, als die geschätzten Mehrerlöse zum Zwecke der Berechnung der Körperschaftsteuer statt mit XXX € mit XXX € anzusetzen sind.

        Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

        Dem Beklagten wird die Berechnung des Haftungsbetrages aufgegeben.

        Die Kosten des Verfahrens haben der Kläger zu 90 % und der Beklagte zu 10 % zu tragen.

        Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.

        Das Urteil ist hinsichtlich der erstattungsfähigen Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.

    Tatbestand

        Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids.
        Der Kläger (A) war seit Gründung der A-GmbH am
        XX.XX.1988 ihr Geschäftsführer und Gesellschafter zu 50 %. Die anderen 50 % entfielen auf Herrn B. Das Amt des Geschäftsführers endete im Zusammenhang mit der Übertragung der Gesellschaftsanteile an der A-GmbH auf Herrn B, der anschließend Geschäftsführer wurde, am XX.XX.2007, was am XX.XX.2007 im Handelsregister eingetragen wurde.

        Unternehmensgegenstand der A-GmbH war der Betrieb eines italienischen Restaurants in C-Stadt.

        Die Steuererklärung für die A-GmbH betreffend Körperschaftsteuer 2004 gab der Kläger am 24. Oktober 2005 ab. Die antragsgemäße Veranlagung erfolgte unter dem Vorbehalt der Nachprüfung am 14. September 2006. Danach belief sich der Gesamtbetrag der Einkünfte auf ‒ XXX €. Die Körperschaftsteuer wurde auf 0 € festgesetzt.

        Unter dem Datum des 01. November 2005 mit Erweiterung vom 27. November 2006 wurde eine Betriebsprüfung angeordnet (Bl. 250 Fall-Heft Bd. III). Sie betraf die Jahre 2000 bis 2004. Die Betriebsprüfung gelangte in ihrem Bericht vom 18. Juni 2007 zu der Feststellung, dass die Kassenführung ‒ insbesondere wegen fehlender Tagesendsummenbons ‒ nicht ordnungsgemäß, die Buchführung zu verwerfen und eine Nachkalkulation durchzuführen sei, weil Tageseinnahmen „schwarz“ aus der Kasse entnommen und das Geld privat verwendet worden sein müsse. Die Mehrerlösschätzung der Betriebsprüfung belief sich für 2004 auf XXX €, wobei der Wareneinsatz dieses Jahres XXX € betrug und darauf ein Rohgewinnaufschlagsatz von 387 % angewendet wurde, was zu einer Erhöhung des erklärten Erlöses von XXX € auf den kalkulierten Erlös von XXX € führte. Ähnliche Mehrerlösschätzungen nahm die Betriebsprüfung für die Jahre 2000 bis 2003 vor, für die die A-GmbH ebenfalls weitgehend Verluste bei ähnlichem Wareneinsatz erklärt hatte. Diese Mehrerlöse wurden von der Betriebsprüfung als verdeckte Gewinnausschüttungen behandelt. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Bericht der Betriebsprüfung vom 18. Juni 2007 Bezug genommen (Bl. 250ff. Fall-Heft Bd. III).

        Der Innendienst folgte den Feststellungen der Betriebsprüfung und änderte den Körperschaftsteuerbescheid 2004 mit Bescheid vom 16. Juli 2007 (Bl. 101 Körperschaftsteuerakte). Darin wurde der Gesamtbetrag der Einkünfte mit XXX € beziffert und die Körperschaftsteuer auf XXX € festgesetzt. Insoweit wird im Bescheid von einem Steuerbilanzverlust von XXX € und einer verdeckten Gewinnausschüttung i.H.v. XXX € ausgegangen. Der Solidaritätszuschlag wurde dementsprechend auf XXX € festgesetzt. Gegen den Änderungsbescheid legte die A-GmbH Einspruch ein. Im Rahmen eines AdV-Beschlusses des Hessischen Finanzgerichts vom 25. April 2008 wurden die den Hinzuschätzungen zugrundegelegten Mehreinnahmen um 10 % gekürzt (Bl. 72 Fall-Heft Bd. III). Danach ging das Gericht für das Jahr 2004 von einem Mehrerlös von XXX € (statt XXX €) aus. In der Folge unternahm das für die Vollstreckung zuständige Finanzamt Maßnahmen zur Ermittlung der Liquidität der A-GmbH und erließ Pfändungs- und Einziehungsverfügungen (vgl. dazu Bl. 17 Haftung Bd. II). Der Vollziehungsbeamte erstellte ein Fruchtlosprotokoll (Bl. 22 Haftung Bd. I). Der Bericht des Liquidationsprüfers konnte keine nennenswerte Liquidität feststellen und empfahl, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu beantragen (Bl. 100 Fall-Heft Bd. III). Durch Beschluss des Amtsgerichts C-Stadt wurde über das Vermögen der A-GmbH das Insolvenzverfahren am XX.XX.2010 eröffnet und am XX.XX.2011 nach der Schlussverteilung aufgehoben. An der Höhe der Steuerschulden änderte sich dadurch nichts (Bl. 79 Haftung Bd. I und Bl. 72 Haftung Bd. II). Am XX.XX.2012 wurde die A-GmbH wegen Vermögenslosigkeit aus dem Handelsregister gelöscht (Bl. 100f. Handakte A). Das gegen den Kläger geführte Steuerstrafverfahren wurde durch den Beschluss des Landgerichts C-Stadt vom 20. August 2014 nach Zahlung von XXX € gemäß § 153a Abs. 2 StPO eingestellt (Bl. 74, 90 Prozessakte). Das Einspruchsverfahren der A-GmbH wurde wegen der Löschung aus dem Handelsregister nicht fortgeführt.

        Nach anfänglichen Ermittlungen des Beklagten hinsichtlich einer Haftungsinanspruchnahme beendete der Beklagte die Haftungsprüfung von Herrn B, weil dieser bei Steuerrückständen von rund XXX € und einem Bruttolohn von XXX € nicht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zur Realisierung der Haftungsschuld habe sowie später laut Auskunft des Bürgerbüros D-Stadt unbekannt nach Israel verzogen sei und trotz eines gestellten internationalen Auskunftsersuchens an die israelischen Finanzbehörden über seinen genauen Aufenthaltsort eine Beitreibung der Haftungsschuld in Israel nicht möglich sei (Bl. 122 Haftung Bd I). Hinsichtlich des Klägers stellte der Beklagte fest, dass dieser unbekannt nach Italien verzogen sei. Durch ein internationales Auskunftsersuchen konnte der Wohnsitz des Klägers in Italien ermittelt werden. Auf das Auskunftsersuchen zur Haftungsinanspruchnahme vom 25. Februar 2015 meldete sich beim Beklagten für den Kläger der Prozessbevollmächtigte. Auskünfte erteilte der Kläger nicht.

        Mit Bescheid vom 19. September 2016 nahm der Beklagte den Kläger i.H.v. XXX € für Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer für die Jahre 2000 bis 2004 einschließlich steuerlicher Nebenleistungen in Haftung. Dabei stützte sich der Beklagte auf die Geschäftsführerhaftung nach § 191 AO i.V.m. §§ 34, 69 AO (Bl. 136 Haftung Bd. I). Gegen den Haftungsbescheid legte der Kläger vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten mit beim Beklagten am 26. September 2016 eingegangenem Schreiben Einspruch ein (Bl. 1 Haftung Bd. II). Mit Bescheid vom 13. September 2017 reduzierte der Beklagte die Haftungssumme auf XXX € (Bl. 60 Haftung Bd. II). Die Haftung wurde nunmehr nur noch auf die Körperschaftsteuer und den Solidaritätszuschlag für das Jahr 2004 samt Zinsen nach § 233a AO und Säumniszuschläge erstreckt. Der Beklagte stützte sich in seinem Änderungsbescheid vom 13. September 2017 nunmehr auf die Haftung des Steuerhinterziehers nach § 191 AO i.V.m. § 71 AO. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 16. Oktober 2017 reduzierte der Beklagte den Haftungsbetrag erneut, indem er die steuerlichen Nebenleistungen aus der Haftungssumme herausnahm, so dass der Kläger nunmehr nur noch wegen Körperschaftsteuer samt Solidaritätszuschlag für 2004 i.H.v. XXX € in Haftung genommen ist (Bl. 75 Haftung Bd. II). Es handelt sich um den im Bescheid vom 16. Juli 2007 ausgewiesenen Betrag aus der Summe der festgesetzten Körperschaftsteuer und des festgesetzten Solidaritätszuschlags.

        Mit Einspruchsentscheidung vom 11. Januar 2018 wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen (Bl. 80 Haftung Bd. II). Der Kläger hafte aus § 71 AO wegen einer Steuerhinterziehung nach § 370 AO für die Körperschaftsteuer 2004 samt Solidaritätszuschlag. Es habe keine ordnungsgemäße Buchführung vorgelegen. Vorsätzliches Handeln des Klägers sei zu bejahen, weil er wissentlich und willentlich eine fehlerhafte bzw. unvollständige Körperschaftsteuererklärung 2004 abgegeben habe. Der Austausch der Haftungsnorm sei zulässig. Die Haftungsinanspruchnahme sei auch ermessensgerecht, weil Herr B im Zeitpunkt der Abgabe der Körperschaftsteuererklärung für 2004 nicht der Geschäftsführer der A-GmbH gewesen sei. Zudem habe seine Adresse nicht ermittelt werden können. Auch sei die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen, weil Herr B nicht wegen Steuerhinterziehung in Haftung habe genommen werden können.

        Dagegen richtet sich die bei Gericht am 19. Januar 2018 eingegangene Klage.

        Der Kläger meint, dass die Festsetzungsfrist für den Erlass des Haftungsbescheids bereits abgelaufen gewesen sei. Denn der im Jahr 2016 erlassene Bescheid sei nicht auf § 71 AO, sondern auf § 69 AO gestützt worden. Eine Umdeutung scheide nach dem Urteil des Finanzgerichts Münster vom 23. Mai 2012 (11 K 2525/09 K) aus. Im Jahr 2017, als die Haftung im Änderungsbescheid auf § 71 AO gestützt worden sei, sei bereits auch bei Annahme einer zehnjährigen Verjährungsfrist Festsetzungsverjährung eingetreten. Außerdem sei die Berufung auf § 71 AO deshalb nicht zulässig, weil dem Kläger allenfalls Fahrlässigkeit vorgeworfen werden könne. Die Haftungsinanspruchnahme des Klägers sei auch ermessensfehlerhaft. Herr B sei der faktische Geschäftsführer der A-GmbH gewesen. Er habe mehreren Bediensteten die Kündigung ausgesprochen, wovon der Kläger nichts gewusst habe. Er habe dem Küchenpersonal Weisungen erteilt und sei während eines Umbaus im Jahr 2000 im Lokal anwesend gewesen. Für all das werde Zeugenbeweis angeboten. Der Beklagte habe auch keine ausreichenden Ermittlungen hinsichtlich des Aufenthaltsortes des Herrn B angestellt. So ergebe sich aus Internetauszügen, dass er zum Stiftungsrat der "E-Foundation" gehöre und dort mit einer inländischen Adresse in C-Stadt hinterlegt sei.

        Der Kläger beantragt,

        den Haftungsbescheid vom 19. September 2016 ‒ geändert durch die Bescheide vom 13. September 2017 und 16. Oktober 2017 ‒ in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Januar 2018 aufzuheben,

        die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären,

        hilfsweise, die Revision zuzulassen.

        Der Beklagte beantragt,

        die Klage abzuweisen.

        Der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung sei erfüllt, weil es aufgrund der Unvollständigkeit der Kassenführung naheliegend sei, dass der Kläger als Gesellschafter-Geschäftsführer oder eine diesem nahestehende Person wie die Ehefrau des Klägers zusammen mit Herrn B als dem anderen Gesellschafter die Entnahmen aus der Kasse getätigt und das Geld privat verwendet habe. Schwarzeinnahmen seien nicht erklärt worden. Ein Dritter sei nicht in der Lage gewesen, die Manipulationen an der Buchführung vorzunehmen, ohne dass dies dem Kläger aufgefallen wäre. Für Vorsatz des Klägers spreche, dass der Kläger Kenntnis von der Art der Kassenführung und den Mängeln daran gehabt habe und diese Mängel billigend in Kauf genommen habe. Er habe während der Betriebsprüfung so wenig exakte Angaben wie möglich gemacht. Zudem habe es ein Darlehen einer Schweizer Bank i.H.v. XXX € gegeben, was nahelege, dass die Schwarzeinnahmen zur Absicherung des Darlehens in die Schweiz transferiert worden seien. Letztlich sei die Einstellung des Steuerstrafverfahrens nach § 153a StPO ein Indiz für eine Steuerhinterziehung. Auch das Hessische Finanzgericht sei in seinem AdV-Beschluss vom 25. April 2008 von einer größtenteils gerechtfertigten Hinzuschätzung ausgegangen. Die Ermessensausübung sei im Falle des § 71 AO vorgeprägt. Aufgrund der Löschung der A-GmbH seien Vollstreckungsmöglichkeiten gegen diese nicht mehr möglich gewesen. Der andere Geschäftsführer, Herr B, habe seinen Wohnsitz nach Israel verlegt. Sein genauer Wohnort dort sei nicht bekannt, zumal dort eine Vollstreckung nach internationalem Recht nicht möglich sei. Das Einwohnermeldeamt habe einen Aufenthaltsort in C-Stadt nicht bestätigen können, weshalb der Verweis auf einen Bezug zum Inland des Herrn B mit Blick auf eine Tätigkeit in einem Stiftungsrat fehlgehe. Der Austausch der Haftungsnorm sei zulässig, weil dadurch der tatsächliche Vorgang, der die Grundlage der auf Schadensersatz gerichteten Haftung sei, nicht geändert werde. Es liege auch der Haftungsnorm des § 71 AO derselbe Lebenssachverhalt zugrunde. Denn es gehe vorliegend um die angesetzten verdeckten Gewinnausschüttungen wegen der Nichterklärung von Schwarzeinnahmen.

        Dem Gericht haben die Körperschaftsteuerakte und die Umsatzsteuerakte der A-GmbH sowie zwei Sonderbände „Haftung“, vier Bände Fall-Heft und eine (BuStra-)Handakte A vorgelegen; ihr Inhalt zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden. Die strafrechtliche Ermittlungsakte konnte nicht beigezogen werden, weil sie nach Mitteilung der zuständigen Staatsanwaltschaft bereits vernichtet ist.

    Entscheidungsgründe

        Die Klage hat nur in geringem Umfang Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber weitgehend unbegründet.

        I. Der Haftungsbescheid vom 19. September 2016 ‒ geändert durch die Bescheide vom 13. September 2017 und 16. Oktober 2017 ‒ in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Januar 2018 ist in geringem Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten.

        1. Der hier angefochtene Haftungsbescheid (in Gestalt der Einspruchsentscheidung) begegnet aus formeller Sicht keinen Bedenken. Er ist unter Beachtung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen, was hier auch deshalb bedeutsam ist, weil § 127 AO auf Ermessensbescheide keine Anwendung findet. Für den Erlass eines Haftungsbescheids ist nach § 24 AO die Behörde zuständig, die für die Besteuerung des Steuerschuldners zuständig ist (Rätke in: Klein, AO, 15. Aufl., 2020, § 24, Rn. 2). Das ist hier der Beklagte.

        2. Der hier streitgegenständliche Haftungsbescheid (in Gestalt der Einspruchsentscheidung) begegnet aus materiell-rechtlicher Sicht dem Grunde nach keinen, jedoch der Höhe nach Bedenken.

        a) Eine Steuerhinterziehung liegt dem Grunde nach, jedoch nicht in der vom Beklagten angenommen Höhe vor. Es ist in Anlehnung an den Beschluss des Hessischen Finanzgerichts vom 25. April 2008 ein Abschlag von 10 % der von der Betriebsprüfung ermittelten Mehreinnahmen vorzunehmen.

        Gemäß § 71 AO haftet derjenige für verkürzte Steuern, der eine Steuerhinterziehung begeht. Dies setzt voraus, dass der Tatbestand des § 370 AO in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt ist (Boeker in: H/H/Sp, AO/FGO, 261. Lieferung, § 71 AO, Rn. 10). Steuerhinterziehung im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO begeht, wer über steuerlich erhebliche Tatsachen vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben gegenüber der Finanzbehörde macht und dadurch Steuern verkürzt. Im Falle von Veranlagungssteuern ist die Tat vollendet, wenn ein Bescheid ergeht, der die Steuern objektiv zu niedrig festsetzt (Boeker in: H/H/Sp, AO/FGO, 261. Lieferung, § 71 AO, Rn. 14). Für die Haftung nach § 71 AO kommt es darauf an, dass die Tat vollendet ist (Boeker in: H/H/Sp, AO/FGO, 261. Lieferung, § 71 AO, Rn. 12). Dies setzt im Hinblick auf Veranlagungssteuern voraus, dass es tatsächlich zu einer Festsetzung gekommen ist. Im Haftungsverfahren ist auch zu prüfen, ob die Steuer rechtmäßig festgesetzt worden ist, es sei denn, der Haftungsschuldner muss die Festsetzung gemäß § 166 AO gegen sich gelten lassen, weil er in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid als dessen Vertreter anzufechten.

        Die Voraussetzungen des § 71 AO sind hier erfüllt.

        aa) Es sind Steuern zu niedrig erklärt und anschließend zu niedrig festgesetzt worden.

        aaa) Der Kläger muss die Steuerfestsetzung gegenüber der A-GmbH nicht gemäß § 166 AO gegen sich gelten lassen. Denn zu dem Zeitpunkt der Steuerfestsetzung im Juli 2007 war dieser nicht mehr Geschäftsführer der A-GmbH. Denn er hatte seinen Posten als Geschäftsführer bereits im Mai 2007 abgegeben.

        bbb) Die Körperschaftsteuer für das Jahr 2004 ist vorliegend zu niedrig festgesetzt worden. Das Gericht macht von seiner Schätzungsbefugnis nach § 96 FGO i.V.m. § 162 AO Gebrauch.

        (a) Eine Schätzungsbefugnis liegt vor. Denn die Buchführung ist nicht ordnungsgemäß. Sie weist formelle und materielle Mängel auf. Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Einkünfte zu niedrig erklärt und unzutreffend festgesetzt worden sind.

        (aa) Eine Schätzung nach § 162 AO ist immer dann zulässig, wenn die Buchführung wesentliche Mängel aufweist, wozu auch die fehlende Dokumentation der Kassenführung gehört (Märtens in: Gosch, AO/FGO, 159. Lieferung, § 146 AO, Rn. 30.3). Vorliegend war eine Registrierkasse vorhanden, ohne dass die Tagesendsummenbons chronologisch erfasst und aufbewahrt worden sind, weshalb die Buchführung einen Verstoß gegen § 146 AO und damit wesentliche Mängel aufweist, zumal auch sonstige Buchführungsunterlagen nicht vollständig vorgelegt worden sind (vgl. Bl. 66, 135 Fall-Heft Bd. III). Das wird vom Kläger auch nicht bestritten.

        (bb) Neben diesen formellen Mängeln der Buchführung kommt zum anderen als materieller Mangel hinzu, dass das von der A-GmbH erklärte Ergebnis einem inneren Betriebsvergleich nicht standhält. So passen nach den insoweit nachvollziehbaren Darlegungen der Betriebsprüfung für 2002 die Menge der eingekauften Waren nicht zu dem erklärten Erlös, weil die Preise der Speisekarte und der Wareneinsatz einen Erlös erwarten lassen müssen, der deutlich über den erklärten Zahlen liegt. Es ergeben sich für 2002 auf der Grundlage des Wareneinkaufs nach der insoweit plausiblen Kalkulation Bruttoerlöse für Getränke von XXX € und für Speisen von XXX €. Die Differenz zwischen den so ermittelten Bruttoerlösen und den erklärten Bruttoerlösen beläuft sich danach auf XXX €. Für das Jahr 2004 ist von grundsätzlich vergleichbaren Verhältnissen auszugehen, weil die A-GmbH auch für das Jahr 2004 ähnliche Umsätze und Verluste erklärte. Der im Jahr 2004 erklärte Verlust widerspricht jedenfalls der Richtsatzsammlung. Gegen die Richtigkeit der von der A-GmbH erklärten Einkünfte spricht, dass der nach der Richtsatzsammlung zu erwartende Gewinn von im Mittel 16 % des Umsatzes nicht erzielt wird. Die erklärten Werte halten insofern einem äußeren Betriebsvergleich nicht stand. Denn es werden nach den Steuererklärungen über einen mehrere Jahre andauernden Zeitraum fast ausnahmslos Verluste erzielt. Zwar liegen die von der A-GmbH erklärten Umsätze innerhalb der Grenzen der Richtsatzsammlung. Doch sind diese angesichts des internen Betriebsvergleichs nicht plausibel. Sie sind auch deshalb nicht plausibel, weil es sich bei der A-GmbH um einen Restaurantbetrieb in bester Lage von C-Stadt handelt, die Speisen dem Wareneingang zufolge in erheblicher Menge durch die Kundschaft zu gehobenen Preisen abgenommen werden und kein außergewöhnlicher Aufwand ersichtlich ist, der die anhaltende Verlustsituation erklären könnte. Letztlich hat der Kläger auch eingeräumt, dass die erklärten Einkünfte unzutreffend sind und die Steuer zu niedrig festgesetzt worden ist. Soweit sich nämlich den Akten entnehmen lässt, dass nach den Angaben des Klägers angeblich ein Kellner für „Schwarzumsätze“ zu seinen Gunsten verantwortlich sein soll, wird damit eingeräumt, dass die Buchführung unzutreffend ist.

        Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass ein vom Kläger (und Herrn B) aufgenommenes Darlehen bei der A-GmbH passiviert worden ist, was ebenfalls einen materiellen Fehler der Buchführung darstellt (vgl. Bl. 35 Haftung Bd. IV).

        (b) Das Gericht geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass die erklärten Zahlen zu niedrig sind. Es verwirft die Buchführung der A-GmbH und nimmt eine eigenständige Schätzung vor.

        Für die vorzunehmende Schätzung knüpft das Gericht an die Erkenntnisse der Betriebsprüfung an. Ermittelt man auf der Basis der Feststellungen der Betriebsprüfung den Rohgewinnaufschlagsatz und nimmt in Anlehnung des Beschlusses des Hessischen Finanzgerichts vom 25. April 2008 einen Abschlag von 10 % für unentgeltlich servierte Waren (wie zum Beispiel ergänzend gereichtes Brot und zum Espresso gereichtes Gebäck) vor, so ergibt sich ein kalkulierter Erlös von XXX € (statt XXX €) und damit ein Mehrerlös von XXX € sowie ein Rohgewinnaufschlagsatz von 374 % (statt 387 %). Dieser Rohgewinnaufschlagsatz liegt innerhalb der Grenzen der Richtsatzsammlung für 2004, die zwischen 194 % und 400 % (und für 2002 zwischen 223 % und 376 %) liegen. Das auf dieser Grundlage ermittelte wirtschaftliche Ergebnis (Jahresfehlbetrag von XXX € zuzüglich XXX €) beläuft sich auf XXX € und liegt mit 18 % im mittleren Bereich des nach der Richtsatzsammlung üblichen Gewinns, der zwischen 7 % und 28 % und im Mittel bei 16 % liegt. Danach hält das hier ermittelte Zuschätzungsergebnis einem äußeren Betriebsvergleich stand. Letztlich lassen sich auch die Ergebnisse des inneren Betriebsvergleichs für 2002 im Grundsatz auf 2004 unter Berücksichtigung des Abschlags von 10 % übertragen, woraus sich ergibt, dass die hier vorgenommene Schätzung zutreffend ist. Das so ermittelte Schätzungsergebnis ist wirtschaftlich vernünftig und möglich.

        Der hinzugeschätzte Mehrerlös ist daher mit XXX € (statt mit XXX €) für 2004 anzusetzen und die verdeckten Gewinnausschüttungen sind entsprechend zu reduzieren. Dies ist im Körperschaftsteuerbescheid 2004 vom 16. Juli 2007 nicht berücksichtigt worden. Dementsprechend sind die Körperschaftsteuer und der Solidaritätszuschlag zu reduzieren, was sich mindernd auf die im Haftungsbescheid ausgewiesenen Haftungsbeträge auswirkt.

        bb) Es steht auch zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger vorsätzlich handelte. Vorsatz bedeutet, dass der Kläger um die Tatbestandsverwirklichung wusste und sie wollte oder sie zumindest für möglich hielt und billigend in Kauf genommen hat.

        aaa) Für das Vorliegen eines Vorsatzes spricht hier, dass der Kläger als Geschäftsführer eine fast durchgängig bestehende Verlustsituation der A-GmbH akzeptiert hat, ohne ersichtliche Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Dass der Kläger, obgleich er als Gesellschafter ein wirtschaftliches Interesse am wirtschaftlichen Erfolg der A-GmbH gehabt hat, nichts gegen die anhaltende und ihm ‒ wegen der von ihm unterzeichneten Steuererklärungen ‒ bekannte Verlustsituation unternommen hat, lässt das Gericht zu der Überzeugung gelangen, dass der Kläger mit der tatsächlichen wirtschaftlichen Leistung der A-GmbH, die durch die hier vorgenommene Schätzung widergespiegelt wird, zufrieden war und dass aus seiner Sicht deshalb gar keine Gegenmaßnahmen erforderlich waren, er also im Ergebnis sehr wohl über die tatsächliche Einnahmesituation Kenntnis hatte und diese gegenüber dem Beklagten im Rahmen der Steuererklärungen verschwiegen hat.

        bbb) Soweit der Kläger meint, die „Schwarzumsätze“ seien von einem Kellner zu dessen Gunsten erzielt worden, ist dies nicht glaubhaft. Denn „Schwarzumsätze“ in dem hier ermittelten Umfang sind ‒ das steht zur Überzeugung des Gerichts fest ‒ angesichts ihrer Auswirkungen auch der Geschäftsführung aufgefallen, zumal das Wareneinkaufsverhalten unverändert fortgeführt worden ist. Hinzu kommt, dass im Lokal sechs Servicekräfte beschäftigt waren und nicht nachvollziehbar ist, wie es diesen und dem Geschäftsführer entgangen sein soll, dass ein Kellner rund ein Viertel des tatsächlichen Umsatzes hinterzieht.

        ccc) Der Vorsatz entfällt auch nicht dadurch, dass Herr B ‒ wie der Kläger behauptet ‒ oftmals im Restaurant die Rolle als eine Art Restaurantleitung übernommen habe und sich sogar wohl auch angeschickt habe, als faktischer Geschäftsführer zu agieren. Denn gesetzlicher Vertreter der A-GmbH war der Kläger und er hat die Steuererklärungen unterschrieben. Es ist angesichts der Umstände, wonach er eine Beteiligung von 50 % an der A-GmbH bereits über viele Jahre seit ihrer Gründung hielt und seitdem auch ihr Geschäftsführer war und nach außen ‒ zum Beispiel gegenüber dem Finanzamt ‒ als solcher aufgetreten ist, zur Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass der Kläger ‒ unabhängig von den Kenntnissen des Herrn B und seinem Auftreten ‒ die tatsächliche wirtschaftliche Situation der A-GmbH und die davon abweichende Steuerdeklaration kannte. Soweit der Prozessbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung pauschal vorgetragen hat, der Kläger habe sich seinen Hobbies gewidmet und um die A-GmbH nicht gekümmert, wird dies als unsubstantiierte Schutzbehauptung gewertet.

        b) Der mit dem hier angefochtenen Bescheid geltend gemachte Haftungsanspruch ist auch nicht verjährt.

        aa) Die Festsetzungsfrist für den Erlass eines Haftungsbescheides begann hier mit Ablauf des Jahres 2006.

        Gemäß § 191 Abs. 3 Satz 3 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft. Dabei ist im Rahmen des § 71 AO darauf abzustellen, wann der Bescheid ergangen ist, durch den die Steuer zu niedrig festgesetzt worden ist (Boeker in: H/H/Sp, AO/FGO, 261. Lieferung, § 71 AO, Rn. 12, 14). Denn erst in dem Zeitpunkt ist die Tat der Steuerhinterziehung vollendet, auch wenn der Haftungsschuldner keinen Einfluss auf den Festsetzungszeitpunkt hat.

        Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist hier davon auszugehen, dass die Verjährung mit dem Ablauf des Jahres 2006 begann. Denn der Bescheid, durch den die Steuer zu niedrig festgesetzt worden ist, erging im Jahr 2006, auch wenn der Kläger die Steuererklärung für die A-GmbH bereits im Jahr 2005 abgegeben hat.

        bb) Die Festsetzungsfrist beträgt zehn Jahre und endet damit mit Ablauf des Jahres 2016, in dem der hier angefochtene Haftungsbescheid erlassen worden ist.

        aaa) Grundsätzlich beträgt die Festsetzungsfrist für Haftungsbescheide vier Jahre, jedoch in den Fällen des § 71 AO zehn Jahre. Hier stützt sich der Beklagte auf die Vorschrift des § 71 AO, so dass die zehnjährige Verjährungsfrist eingreift. Die Voraussetzungen des § 71 AO sind vorliegend ‒ wie bereits dargelegt ‒ erfüllt.

        bbb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Beklagte hier zunächst einen auf § 69 AO gestützten Haftungsbescheid erlassen hat und erst im Jahr 2017 im Rahmen des Einspruchsverfahrens zur Begründung des Haftungsanspruchs auf § 71 AO abgestellt hat.

        Grundsätzlich lässt es der BFH zu, dass das Finanzamt im Rechtsbehelfsverfahren den Haftungsanspruch nicht mehr auf die Geschäftsführerhaftung, sondern auf die Haftung aus Steuerhinterziehung stützt (BFH, Urteil vom 08. November 2011, VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657; a.A. Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 06. Februar 1990, 5 K 1190/89, EFG 1991, 4). Die Literatur scheint dem zu folgen (Boeker in: H/H/Sp, AO/FGO, 261. Lieferung, § 71 AO, Rn. 55; Jatzke in: Gosch, AO/FGO, 159. Lieferung, § 191 AO, Rn. 36). Allerdings ist nicht ersichtlich, dass sich der vom BFH entschiedene Sachverhalt auf eine Konstellation bezieht, in der die Auswechslung der Haftungsnorm zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem die Verjährungsfrist für die Haftung nach § 71 AO schon abgelaufen war.

        Zwar wäre hier ein erstmals im Jahr 2017 erlassener Haftungsbescheid auch unter Berufung auf § 71 AO verjährt gewesen. Doch wurde nicht erstmals im Jahr 2017 ein Haftungsbescheid erlassen, sondern bereits im Jahr 2016. Dass dieser erstmals erlassene Haftungsbescheid sich wegen des Ablaufs der Verjährungsfrist zu Unrecht auf § 69 AO gestützt hat, steht einer Auswechslung der Haftungsnorm im Rechtsbehelfsverfahren nicht entgegen. Denn es macht keinen Unterschied, ob zum Zeitpunkt der Auswechselung der Haftungsnorm bereits Festsetzungsverjährung für den nunmehr herangezogenen Haftungsanspruch gegebenen ist. Es kommt auf den Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Haftungsbescheids an.

        (a) Es ist Sinn des Rechtsbehelfsverfahrens, den ursprünglichen Bescheid zu überprüfen und gegebenenfalls nachzubessern. Hier war der Tenor des Bescheids bereits im Jahr 2016 wirksam durch die Bekanntgabe. Die Begründung, wozu auch die Haftungsnorm gehört, konnte im Einspruchsverfahren ausgewechselt werden (BFH, Urteil vom 08. November 2011, VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657). Das muss jedenfalls dann gelten, wenn der Sachverhalt, auf den die jeweilige Haftungsnorm bezogen wird, weitgehend identisch ist (BFH, Urteil vom 08. November 2011, VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657). Das ist hier der Fall. Der Beklagte beruft sich in der Einspruchsentscheidung im Wesentlichen nicht auf andere Umstände als im Ausgangsbescheid.

        (b) Soweit der Kläger auf ein Urteil des Finanzgerichts Münster vom 23. Mai 2012 (11 K 2525/09 K, juris) Bezug nimmt, ist insoweit darauf hinzuweisen, dass dieses Urteil einen anderen Sachverhalt erfasst. Anders als in dem dortigen Fall fand die Auswechslung der Haftungsnorm hier bereits im Rechtsbehelfsverfahren und nicht erst im Klageverfahren statt. Dies stellt auch insofern einen Unterschied dar, weil das Finanzamt ‒ wie dargelegt ‒ im Rechtsbehelfsverfahren ‒ auch zur Selbstkontrolle ‒ eine erneute vollständige Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitsüberprüfung des angefochtenen Bescheids durchführt (BFH, Urteil vom 08. November 2011, VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657). Bis zum Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens ist es ihm daher erlaubt, jegliche Änderungen, die die Rechtmäßigkeit oder die Ermessensausübung betreffen, vorzunehmen.

        (c) Gegen die Auswechselung der Haftungsnorm spricht auch nicht, dass im Rechtsbehelfsverfahren eine Verböserung nur in Betracht kommt, wenn zuvor ein Verböserungshinweis ergangen ist. Eine Verböserung liegt nämlich nur dann vor, wenn der Tenor des Ausgangsbescheids (in materieller oder verfahrensrechtlicher Hinsicht) zum Nachteil des Einspruchsführers abgeändert wird (Bartone in: Gosch, AO/FGO, 159. Lieferung, § 367 AO, Rn. 35). Das ist hier nicht der Fall. Die Auswechslung der Haftungsnorm betrifft nicht den Tenor.

        (d) Es kann vorliegend auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Bescheid, in dem sich der Beklagte auf § 71 AO stützt, als Ausgangsbescheid anzusehen ist. Denn der Beklagte bezieht sich in seinem Bescheid ausdrücklich auf den im Jahre 2016 ergangenen Ausgangsbescheid, der durch die im Jahr 2017 erlassenen Bescheide lediglich abgeändert wird.

        ccc) Auch aus § 191 Abs. 3 Satz 4 2. HS AO kann nicht geschlossen werden, dass die Verjährung bereits früher eingetreten wäre. Zwar verweist § 191 Abs. 3 Satz 4 2. HS AO auf § 171 Abs. 10 AO, woraus vereinzelt der Schluss gezogen wird, dem Finanzamt stehe nach Ergehen des Steuerbescheids nur eine zweijährige Frist zu, um einen Haftungsbescheid zu erlassen (Hild, DStR 2018, 2620). Diese Auffassung teilt der erkennende Senat nicht. Denn § 191 Abs. 3 S. 4 AO erfasst lediglich die Fälle, in denen eine Ablaufhemmung eingreifen soll. Es ist durch die Vorschrift nicht intendiert, die Verjährungsfristen zum Erlass von Haftungsbescheiden abzukürzen (Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom
        17. Dezember 2019 4 K 4241/16, EFG 2020, 1029).

        3. Ermessensfehler liegen nicht vor.

        Die Haftungsinanspruchnahme liegt nach §§ 5, 191 Abs. 1 Satz 1 AO im pflichtgemäßen Ermessen des Finanzamts, dessen Ausübung vom Gericht im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 102 Satz 1 FGO nur auf eine Überschreitung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens zu überprüfen ist. Prüfungsgegenstand ist dabei die letzte Verwaltungsentscheidung, d.h. in der Regel die Einspruchsentscheidung (BFH, Urteil vom 06. März 1996, II R 102/93, BStBl II 1996, 396). Das Finanzamt muss alle Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigen, die nach dem Zweck der Ermessensvorschrift für die Ermessensausübung von Bedeutung sind (BFH, Urteil vom 25. Juli 1989, VII R 54/86, BStBl II 1990, 284). Die in der Verwaltungsentscheidung zu gebende Begründung muss gewährleisten, dass dem Gericht eine nachzuvollziehende Überprüfung ermöglicht und der Steuerpflichtige in die Lage versetzt wird, seine Rechte wirksam wahrzunehmen (BFH, Urteil vom 11. März 2004, VII R 52/02, BStBl II 2004, 579). Dem Finanzamt kommt bei der Haftungsinanspruchnahme ein Entschließungs- sowie bei mehreren in Betracht kommenden Haftungsschuldnern auch ein Auswahlermessen zu (BFH-Urteil vom 08. November 1988, VII R 78/85, BStBl II 1989, 118; BFH, Urteil vom 09. August 2002, VI R 41/96, BStBl II 2003, 160). Im Hinblick auf die dem Steuergläubiger im öffentlichen Interesse obliegende Aufgaben, die geschuldeten Abgaben gemäß § 85 Satz 1 AO nach Möglichkeit zu erheben, ist im Rahmen des Entschließungsermessens der Erlass eines Haftungsbescheids mit dem alleinigen Hinweis auf die Uneinbringlichkeit der Erstschuld in der Regel nicht ermessensfehlerhaft (BFH, Urteil vom 29. September 1987, VII R 54/84, BStBl II 1988, 176).

        Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Beklagte das Entschließungs- und Auswahlermessen ermessensfehlerfrei ausgeübt.

        a) Der Beklagte hat nämlich in seiner Einspruchsentscheidung mit Blick auf das Entschließungsermessen dargelegt, dass die A-GmbH aufgrund der Löschung im Handelsregister nicht mehr zur Steuerzahlung herangezogen werden konnte. Er hat auch dargelegt, dass es nach der BFH-Rechtsprechung regelmäßig recht und billig ist, die Täter oder Teilnehmer einer Steuerhinterziehung ‒ hier also den Kläger ‒ als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen. Hinsichtlich des Entschließungsermessens sind vor diesem Hintergrund keine Ermessensfehler ersichtlich.

        b) Mit Blick auf das Auswahlermessen führte der Beklagte aus, dass Herr B im Zeitpunkt der Abgabe der Körperschaftsteuererklärung am 24. Oktober 2005 nicht für die Kassen- und Buchführung der A-GmbH verantwortlich war und somit nicht als Täter für die begangene Steuerhinterziehung in Betracht kommt. Abgesehen davon weist der Beklagte in seinen Ermessenserwägungen zu Recht darauf hin, dass er nicht gehindert ist, denjenigen in Anspruch zu nehmen, bei dem sich der Anspruch am leichtesten und sichersten durchsetzen lässt. Insoweit wird darauf hingewiesen, dass die Adresse des Klägers, nicht aber die Adresse des Herrn B bekannt war. Auch diese Ermessenserwägungen sind nicht zu beanstanden. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob Herr B durch die Tätigkeit in einem Stiftungsrat Bezüge zum Inland hat.

        4. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Haftungsbescheid dem Grunde nach rechtmäßig, jedoch der Höhe nach rechtswidrig ist. Er ist insoweit zu kürzen, als dem Körperschaftsteuerbescheid für 2004 vom 16. Juli 2007 die Schätzungen der Betriebsprüfung ungekürzt zugrundegelegt worden sind. Die ermittelten Mehrerlöse der Betriebsprüfung sind ‒ wie dargelegt ‒ um 10 % zu kürzen. Dies wirkt sich auch auf den Haftungsbescheid aus, dessen Haftungsbetrag entsprechend zu reduzieren ist.

        II. Die Sache ist auch spruchreif. Die vom Kläger beantragten Zeugenvernehmungen sind nicht durchzuführen. Es ist unerheblich, ob und wie häufig der Kläger und Herr B im Lokal anwesend waren. Es kommt für die hier entscheidende Frage der Steuerhinterziehung darauf an, ob die Steuern vom Kläger vorsätzlich zu niedrig erklärt und vom Finanzamt zu niedrig festgesetzt worden sind. Das ist hier ‒ wie dargelegt ‒ der Fall. Die Anwesenheitszeiten im Lokal haben insoweit keine Aussagekraft. Es ist auch unerheblich, ob Herr B Kündigungen ausgesprochen hat, weil damit ‒ selbst wenn es so wäre ‒ nicht widerlegt werden kann, dass der Kläger ‒ wie hier festgestellt ‒ als Geschäftsführer Kenntnis über die tatsächliche und die davon abweichende und von ihm selbst erklärte Einnahmesituation der A-GmbH hatte. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger eine mangelnde Sachaufklärung auch nicht in der mündlichen Verhandlung gemäß § 295 ZPO i.V.m. § 155 S. 1 FGO gerügt hat.

        III. Die Berechnung der Haftungsbeträge nach Maßgabe der Ausführungen in diesem Urteil werden gemäß § 100 Abs. 2 S. 2 FGO dem Beklagten übertragen.

        IV. Die Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren ergeht nach § 139 Abs. 3 S. 3 FGO.

        V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 S. 1 FGO.

        VI. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der Kosten beruht auf § 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 und 711 ZPO.

        VII. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben. Das Gericht erachtet auch die hier aufgeworfene Frage der Auswechslung der Haftungsgrundlage als durch das Gesetz und die Rechtsprechung des BFH als ausreichend vorgezeichnet.