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  • 15.12.2015 · IWW-Abrufnummer 146019

    Finanzgericht München: Urteil vom 03.11.2014 – 7 K 2169/13

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht München

    Urt. v. 03.11.2014

    Az.: 7 K 2169/13

    In der Streitsache
    wegen
    Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 2002-2004
    Hinterziehungszinsen zur Umsatzsteuer 2002-2006
    hat der 7. Senat des Finanzgerichts München durch
    auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 3. November 2014
    für Recht erkannt:
    Tenor:

    1.

    Die Klage wird abgewiesen.
    2.

    Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

    Gründe

    I.

    Streitig ist die Festsetzung von Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 2002 bis 2004 und zur Umsatzsteuer 2002 bis 2006.

    Die Klägerin betrieb in den Jahren 2002 bis 2006 einen Gewerbebetrieb (Kurierdienste) und war insoweit auch unternehmerisch i.S. des § 2 Umsatzsteuergesetz (UStG) tätig.

    Im Rahmen einer betriebsnahen Veranlagung und einer Steuerfahndungsprüfung im Zeitraum 5. Dezember 2006 bis 10. Mai 2007, die die Einkommensteuer 2002 bis 2004 und die Umsatzsteuer 2002 bis September 2006 umfasste, stellte das Finanzamt fest, dass die Klägerin Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs bezogen und seit dem Jahr 2000 einen Kurierdienst unter mindestens fünf verschiedenen Firmen ausländischer Rechtsformen betrieben hatte (Bericht der betriebsnahen Veranlagung vom 10. Mai 2007 und der Steuerfahndungsprüfung vom 8. Oktober 2007). Die jeweiligen Zahlungseingänge erfolgten auch auf ein von der Klägerin für ihre damals zwölfjährige Tochter eingerichtetes Konto bei der Sparkasse. Im Zeitraum vom 28. Juli 2005 bis zum 23. Februar 2006 handelte es sich um Zahlungseingänge in Höhe von insgesamt 90.000 € von der Firma A GmbH & Co. KG. Die Klägerin, die über das Bankkonto ihrer Tochter verfügungsberechtigt war, brachte einen Teil der auf dem Konto aufgelaufenen Guthaben (44.000 €) aufgrund wiederholter Barabhebungen in ihren Verfügungsbereich.

    In ihren für die Jahre 2002 und 2003 abgegebenen Einkommensteuererklärungen hatte die Klägerin keine Angaben zu einer gewerblichen Tätigkeit gemacht. Für die Jahre ab 2004 waren weder Einkommensteuer- noch Umsatzsteuererklärungen abgegeben worden. Das Finanzamt ging daher davon aus, dass die Klägerin vorsätzlich Steuern hinterzogen hatte.

    Die Klägerin hatte am 8. März 2007 Rechtsanwalt E und Rechtsanwältin R mit ihrer rechtlichen Vertretung gegenüber Finanzämtern und Finanzgerichten bevollmächtigt. Am 2. Juli 2007 beschränkte sie die Vollmacht ausschließlich auf Rechtsanwalt E. Nachdem die Sachverhalte im Zusammenhang mit den Einkünften nicht oder nur unter verhältnismäßig hohem Aufwand feststellbar gewesen wären, einigten sich das Finanzamt und die damalige steuerliche Vertreterin der Klägerin, Rechtsanwältin R, am 10. Mai 2007 im Rahmen einer so genannten tatsächlichen Verständigung auf die Höhe der im Rahmen der Veranlagung der Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer für die Jahre 2002 bis 2006 anzusetzenden Einkünfte aus Gewerbebetrieb (vgl. BNV-Bericht vom 10. Mai 2007, Anlage 1 zum Fahndungsbericht vom 8. Oktober 2007).

    Mit Steuerbescheid jeweils vom 30. Mai 2007 setzte das Finanzamt die Einkommen- und Umsatzsteuern für die Jahre 2002 bis 2006 entsprechend der Vereinbarung fest. Die dagegen eingelegten Einsprüche wurden nicht begründet und mit Einspruchsentscheidung vom 18. Oktober 2007 als unbegründet zurückgewiesen. Der gegen den Antrag vom 27. Dezember 2011 auf Änderung der Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2006 gerichtete Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 3. September 2012 abgelehnt. Die Klägerin hat keine Klagen gegen die Einspruchsentscheidungen vom 18. Oktober 2007 und 3. September 2012 erhoben. Mit Urteil vom 10. Dezember 2010 des Landgerichts wurde die Klägerin unter anderem wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt.

    Mit Bescheid vom 22. November 2011 setzte das Finanzamt Hinterziehungszinsen nach § 235 Abgabenordnung (AO) für die in den Jahren 2002 bis 2004 hinterzogenen Einkommensteuern und für die in den Jahren 2002 bis 2005 sowie in den Monaten Januar bis September 2006 hinterzogenen Umsatzsteuern anhand der von der Buß- und Strafsachenstelle des Finanzamts übermittelten Beträge fest. Im dagegen gerichteten Einspruchsverfahren trug die Klägerin unter anderem vor, dass ihr aufgrund der tatsächlichen Verständigung zu Unrecht Einkünfte anderer Firmen und angebliche Gelder in der Schweiz zugerechnet worden seien. Außerdem habe ihre damalige Rechtsanwältin R im Zeitpunkt der tatsächlichen Verständigung keine Zulassung mehr als Rechtsanwältin gehabt und sei bereits in mehreren Fällen strafrechtlich verurteilt worden.

    Das Finanzamt nahm im Einspruchsverfahren eine inhaltliche Überprüfung der Bemessungsgrundlage für die Hinterziehungszinsen vor. Nach vorheriger Ankündigung (Schreiben vom 2. Mai 2013) erhöhte das Finanzamt mit Einspruchsentscheidung vom 25. Juni 2013 die Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer für 2002 auf 12 €, für 2003 auf 288 € und für 2004 auf 48 € bzw. setzte die Hinterziehungszinsen zur Umsatzsteuer 2002 auf 176 €, für 2003 auf 704 €, für 2004 auf 891 €, für 2005 auf 1.130 € und für 2006 auf 112 € herab. Im Übrigen wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen.

    Mit ihrer Klage wendet sich die Klägerin gegen die Festsetzung der Hinterziehungszinsen. Sie trägt im Wesentlichen vor, dass die Festsetzung von Hinterziehungszinsen voraussetze, dass tatsächlich eine Steuerschuld besteht. Dies sei im Streitfall zweifelhaft, da die Steuerfestsetzungen auf einer unwirksamen tatsächlichen Verständigung beruhten. Sie habe die ihrem damaligen steuerlichen Vertreter erteilte Vollmacht mit Schreiben vom 8. März 2013 wegen arglistiger Täuschung angefochten. Zwischenzeitlich habe sie die Erstellung von Gewinn- und Verlustrechnungen für den Zeitraum 2002 bis 2006 in Auftrag gegeben. Aus den bereits vorliegenden Buchungen ergäben sich keine Steuerschulden, so dass Hinterziehungszinsen keinesfalls erhoben werden könnten. Das Finanzamt müsse die aufgrund der unwirksamen tatsächlichen Verständigung ergangenen Steuerbescheide und Zinsbescheide aufheben und die Steuerlast neu festsetzen.

    Die Klägerin beantragt,

    den Bescheid vom 22. November 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25. Juni 2013 aufzuheben.

    Das Finanzamt beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Zur Begründung verweist es auf die Einspruchsentscheidung.

    Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Finanzamts-Akten, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

    II.

    Die Klage ist unbegründet. Es bestehen keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Zinsbescheids vom 22. November 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25. Juni 2013.

    Nach § 235 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung (AO) sind hinterzogene Steuern zu verzinsen. Ein Steuerpflichtiger begeht eine Steuerhinterziehung insbesondere dann, wenn er die Finanzbehörde pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO). Steuern sind namentlich dann verkürzt, wenn sie nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden (§ 370 Abs. 4 Satz 1 AO). Die Steuerhinterziehung muss vorsätzlich begangen werden. Vorsatz bedeutet das Wissen und Wollen der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale. Der Steuerpflichtige muss das Bewusstsein haben, dass sein Verhalten steuerunehrlich ist und zu einer Beeinträchtigung des staatlichen Steueranspruchs führt. Er muss eine steuerliche Verpflichtung und den konkreten Steueranspruch des Staates kennen. Zum Inhalt des Vorsatzes gehört, dass der Steuerpflichtige den nach Grund und Höhe bestimmten Steueranspruch kennt oder wenigstens für möglich hält und ihn auch verkürzen will. Der Steuerpflichtige muss insbesondere wissen, dass die Angaben, die er gemacht hat, unrichtig oder unvollständig sind und dass dadurch eine Steuerverkürzung eintreten kann. Vorsätzlich handelt auch, wer es für möglich hält, dass er den Tatbestand verwirklicht und das billigt oder doch in Kauf nimmt (bedingter Vorsatz).

    Hängt die Rechtmäßigkeit eines Zinsbescheids davon ab, dass Steuern hinterzogen worden sind, so müssen zur Bejahung der Rechtmäßigkeit des Bescheids die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung vorliegen. Das Finanzamt trägt insoweit die Feststellungslast.

    Obwohl auch im finanzgerichtlichen Verfahren der strafverfahrensrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo" zu beachten ist, ist das Vorliegen dieser Tatbestandsmerkmale nicht nach der Strafprozessordnung, sondern nach den Vorschriften der Abgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung zu prüfen. Für die Feststellung der Steuerhinterziehung, die nach § 76 Abs. 1 Sätze 1 und 5 FGO von Amts wegen zu treffen ist, ist kein höherer Grad von Gewissheit notwendig als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das Finanzamt die Feststellungslast trägt. Eine strafrechtliche Verurteilung des Täters ist nicht erforderlich (BFH-Urteil vom 19.03.1998 V R 54/97, BStBl II 1998, 466). Das Gericht muss über die Steuerhinterziehung nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) entscheiden (vgl. BFH-Urteil vom 14.08.1991 X R 86/88, BStBl II 1992, 128).

    Im Streitfall liegt die für die Erhebung von Hinterziehungszinsen (§ 235 Abs. 1 Satz 1 AO) erforderliche Voraussetzung einer vollendeten Steuerhinterziehung (§ 370 AO) durch die Klägerin vor.

    Der objektive Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO ist dadurch erfüllt, dass die Klägerin entgegen ihrer gesetzlichen Verpflichtung nach den §§ 149, 150 AO, 25 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG), 56, 60 Einkommensteuerdurchführungsverordnung (EStDV) bzw. § 18 Abs. 3 Umsatzsteuergesetz (UStG) - in den Einkommen- und Umsatzsteuersteuererklärungen für die Jahre 2002 bis 2003 ihre jeweiligen Einkünfte und Umsätze nicht vollständig, d.h. einschließlich der Einkünfte aus Gewerbebetrieb (Kurierdienst), bzw. für die Jahre ab 2004 überhaupt nicht erklärt hat. Hierdurch hat sie die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen und bewirkt, dass die ihr im Hinblick auf diese Einkünfte festzusetzende Einkommen- und Umsatzsteuer nicht rechtzeitig festgesetzt wurde (§ 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 AO).

    Der Senat ist außerdem davon überzeugt, dass die Klägerin die fraglichen Hinterziehungstatbestände auch in subjektiver Hinsicht verwirklicht hat. Ihr war bewusst, dass die Angaben, die sie in ihren Steuererklärungen gemacht hat, unrichtig oder unvollständig sind und dass dadurch eine Steuerverkürzung eintreten kann. Insbesondere der Umstand, dass die Klägerin den Zahlungseingang ihrer Auftraggeber auf das Konto ihrer Tochter angewiesen hat, zeigt, dass sie die erwirtschafteten Umsätze verschleiern wollte.

    Im Streitfall sind keine Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe, welche die Entstehung des Hinterziehungszinsanspruches hindern könnten (vgl. BFH-Urteil vom 27. August 1991 VIII R 84/89, BStBl II 1992, 9) ersichtlich.

    Die Klägerin kann nicht zu ihren Gunsten einwenden, dass die den Hinterziehungszinsen zugrunde liegenden Steuerbescheide rechtswidrig seien, da die tatsächliche Verständigung vom 10. Mai 2007 unwirksam sei, weil ihre damalige Rechtsanwältin R zum damaligen Zeitpunkt keine Zulassung mehr als Rechtsanwältin gehabt habe.

    Die Voraussetzungen für die Festsetzung der hinterzogenen Steuer sind zwar dem Grunde und der Höhe nach unabhängig von einem bereits ergangenen Steuerbescheid zu prüfen. Die - im Streitfall bestandskräftigen - Festsetzungsbescheide entfalten keine Bindungswirkung für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen nach § 235 AO. Weder diese noch eine andere Vorschrift sieht insoweit eine Bindungswirkung vor. Die Festsetzung von Hinterziehungszinsen richtet sich nicht akzessorisch nach dem festgesetzten, sondern nach dem tatsächlich hinterzogenen Steuerbetrag (BFH-Urteil vom 28. März 2012 II R 39/10, BStBl II 2012, 712, Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 235 AO Rz 22). Dies ergibt sich aus § 235 Abs. 3 Satz 3 AO, da nach dieser Vorschrift eine nach Ende des Zinslaufs erfolgende Aufhebung, Änderung oder Berichtigung des Steuerbescheids die bis dahin entstandenen Zinsen unberührt lässt.

    Es bestehen jedoch im Streitfall keine Bedenken daran, dass die Verständigung wirksam, die Klägerin nach den Grundsätzen von Treu und Glauben an sie gebunden ist und die Steuerfestsetzungsbescheide daher rechtmäßig sind.

    Nach ständiger Rechtsprechung des BFH folgt aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, dass sich die Beteiligten an einer zulässigen und wirksamen tatsächlichen Verständigung festhalten lassen müssen (BFH-Urteile vom 6. Februar 1991 I R 13/86, BStBl II 1991, 673, vom 12. August 1999 XI R 27/98, BFH/NV 2000, 537 und vom 7. Juli 2004 X R 24/03, BStBl II 2004, 975). Die Bindungswirkung einer derartigen Vereinbarung setzt voraus, dass sie sich auf Sachverhaltsfragen - nicht aber auf Rechtsfragen - bezieht, der Sachverhalt die Vergangenheit betrifft, die Sachverhaltsermittlung erschwert ist, auf Seiten der Finanzbehörde ein für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträger beteiligt ist und die tatsächliche Verständigung nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt (BFH-Urteil vom 31. Juli 1996 XI R 78/95, BStBl II 1996, 625).

    Die am 10. Mai 2007 zwischen der Klägerin und dem Finanzamt getroffene tatsächliche Verständigung betrifft allein die Höhe der von der Klägerin in den Streitjahren erzielten Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Hierbei handelt es sich um Besteuerungsgrundlagen und damit um Sachverhaltsfragen. Es geht in der Verständigung dagegen nicht um die Klärung von Rechtsfragen, wie es etwa der Fall wäre bei Klärung der Frage, ob bestimmte Aufwendungen als Betriebsausgaben oder Sonderausgaben zu berücksichtigen wären. Dadurch, dass die vereinbarten Gewinne abgeschlossene Veranlagungszeiträume betreffen, liegt der durch die Verständigung geklärte Sachverhalt in der Vergangenheit. Dem Prüfer war die Sachverhaltsermittlung, nämlich die Ermittlung der tatsächlichen Gewinne der Klägerin deshalb erschwert, weil diese ihren steuerlichen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen war und für die Jahre 2002 und 2004 unrichtige bzw. für die Jahre ab 2004 überhaupt keine Einkommensteuer- bzw. Umsatzsteuererklärung abgegeben hat.

    Die tatsächliche Verständigung führt im Streitfall auch nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn die getroffene Verständigung gegen die Regelungen des Grundgesetzes (GG) über die Finanzverfassung oder systemprägende Grundsätze des materiellen Steuerrechts verstoßen würde (BFH-Urteil in BStBl II 2004, 975 [BFH 07.07.2004 - X R 24/03]).

    Nach diesen Maßstäben führen die Gewinne, auf die sich die Beteiligten am 10. Mai 2007 verständigt haben, nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis. Anhaltspunkte für einen Verfassungsverstoß liegen ebenso wenig vor wie eine gravierende Verletzung des materiellen Steuerrechts. Es liegt in der Natur einer tatsächlichen Verständigung, dass deren Gegenstand nicht bis ins Einzelne als richtig bestätigte Besteuerungsgrundlagen sind. Denn Voraussetzung für eine tatsächliche Verständigung ist gerade, dass eine Ermittlung des genauen Sachverhalts erschwert und damit kaum möglich ist. Damit dient die tatsächliche Verständigung der Behebung eines Beweisnotstandes des Steuerpflichtigen anstelle einer andernfalls nach § 162 Abs. 1 Satz 1 AO regelmäßig gebotenen Schätzung der Besteuerungsgrundlagen (BFH-Urteil vom 1. September 2009 VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593).

    Anders als die Klägerin meint, war sie bei Abschluss der tatsächlichen Verständigung auch wirksam durch Frau R vertreten (§ 80 AO); die Vollmachtserteilung vom 8. März 2007 gegenüber Rechtsanwalt E und Rechtsanwältin R war zu diesem Zeitpunkt nicht widerrufen worden. Die von Frau R abgegebene und unterzeichnete Erklärung wirkt für und gegen die Klägerin (§ 164 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB - ). Es kommt dabei nicht darauf an,

    ob die von der Klägerin Bevollmächtigte den Inhalt und die Folgen der Verständigung mit der Klägerin erörtert oder ob die Klägerin dem Abschluss der Verständigung gegenüber dem Bevollmächtigten ausdrücklich zugestimmt hat (vgl. BFH-Urteil in BStBl II 1991, 673 [BFH 06.02.1991 - I R 13/86]).

    Die tatsächliche Verständigung ist auch nicht infolge einer Anfechtung der Klägerin als von Anfang an als nichtig anzusehen (vgl. § 142 Abs. 1 BGB). Nach der Rechtsprechung des BFH sind die Anfechtungsvorschriften der §§ 119, 123 BGB auf tatsächliche Verständigungen im Steuerverfahren zwar grundsätzlich anwendbar (BFH-Urteil in BFH/NV 2010, 593, [BFH 01.09.2009 - VIII R 78/06] m. w. N.). Soweit die Klägerin vorträgt, dass Frau R über keine Zulassung als Rechtsanwältin verfügt und sie die ihr erteilte Vollmacht deswegen wegen eines Irrtums über eine wesentliche Eigenschaft einer Person angefochten habe (§ 119 Abs. 2 BGB), ist ihr entgegenzuhalten, dass die Anfechtung einer nach außen kundgegebenen Innenvollmacht nach Abschluss des Vertretergeschäfts grundsätzlich keine Rückwirkung entfaltet (Münchner Kommentar zum BGB/Schramm BGB § 167 Rn. 112).

    Im Übrigen liegen auch die Voraussetzungen für eine Anfechtbarkeit der Vollmacht wegen arglistiger Täuschung i.S.d. § 123 BGB nicht vor. Diese ist nach der Vornahme des Vertretergeschäfts davon abhängig, ob der Geschäftsgegner - vorliegend das Finanzamt - die Täuschung verübt oder gekannt hat oder sie hätte kennen müssen (MüKoBGB/Schramm BGB § 167 Rn. 113). Im Streitfall kann davon keine Rede sein.

    Selbst wenn die tatsächliche Verständigung - entgegen der vom erkennenden Senat vertretenen Auffassung - unwirksam wäre, hätte die Klage in der Sache keinen Erfolg. Denn die Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit, die das Finanzamt der Einkommensteuer- und Umsatzsteuerfestsetzung für die Streitjahre zugrunde gelegt hat, wären auch dann nicht zu beanstanden, wenn sie nicht Gegenstand einer tatsächlichen Verständigung wären.

    Da die Klägerin ihre steuerlichen Mitwirkungspflichten nicht erfüllt hatte, hätten die Besteuerungsgrundlagen - sofern hierüber keine Verständigung erfolgt wäre - nach § 162 AO im Schätzungswege ermittelt werden müssen. Wäre die Verständigung unwirksam, müsste das Finanzgericht nach § 96 Abs. 1 FGO eine eigene Schätzung vornehmen (vgl. Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 162 Rz 58b, m. w. N.). Es bestehen keine Bedenken, die im Rahmen der tatsächlichen Verständigung festgelegte Höhe der Einkünfte aus Gewerbebetrieb bzw. die Höhe der Umsätze zu übernehmen. Die dabei zugrunde gelegten Besteuerungsgrundlagen ergeben sich aus dem Prüfungsbericht vom 10. Mai 2007, auf den die tatsächliche Verständigung Bezug nimmt. Die Prüfungsfeststellungen sind in sich schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig. Nach Ansicht des Senats hat das Finanzamt alle entscheidenden Umstände berücksichtigt (vgl. § 162 Abs. 1 Satz 2 AO) und aufgrund der inhaltlichen Überprüfung der Bemessungsgrundlage im Einspruchsverfahren für die Hinterziehungszinsen eine zutreffende Korrektur vorgenommen. Im Ergebnis hätte die Schätzung des Finanzgerichts daher zu keinen anderen Ergebnissen als den vom Finanzamt für die Streitjahre ermittelten Einkünften geführt.

    Im Übrigen hat auch die steuerliche Vertreterin der Klägerin in der mündlichen Verhandlung keine substantiierten Einwendungen gegen die Höhe der Schätzung vorgetragen. Die Bezugnahme auf die telefonische Mitteilung der Klägerin, dass sie aufgrund der nunmehr erstellten Steuererklärungen Steuern in Höhe von 120.000 € zahlen müsse, ist insoweit nicht geeignet, zumal in der Klageschrift noch angegeben wurde, dass sich aus den bereits vorliegenden Buchungen überhaupt keine Steuerschulden ergäben.

    Soweit der im Einspruchsverfahren vorgetragene Einwand, der Klägerin seien bei der Steuerfestsetzung zu Unrecht Einkünfte anderer Firmen und angebliche Gelder in der Schweiz zugerechnet worden, noch aufrecht erhalten wird, ist der Klägerin entgegenzuhalten, dass bei der Festsetzung der Einkommen- und Umsatzsteuern, auf denen der Zinsbescheid beruht, ausschließlich die Einkünfte berücksichtigt worden sind, die Gegenstand der tatsächlichen Verständigung gewesen sind. Dies ergibt sich insbesondere auch aus dem Bericht der betriebsnahen Veranlagung vom 10. Mai 2007 sowie den unzähligen Schreiben des Finanzamts in dieser Angelegenheit.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

    RechtsgebieteAO, UStGVorschriften§ 235 AO; § 2 UStG

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