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  • · Fachbeitrag · Nutzungswunsch

    Gegenwärtig noch nicht absehbarer Nutzungswunsch begründet noch keinen Eigenbedarf

    von RiOLG a. D. Günther Geldmacher, Düsseldorf

    | Kündigt der Vermieter die Wohnung des Mieters wegen Eigenbedarf für einen Familienangehörigen und schließen die Parteien im Räumungsprozess einen Räumungsvergleich, liegt die Vermutung nahe, dass kein Eigenbedarf im Zeitpunkt der Kündigung vorgelegen hat, wenn die Eigenbedarfsperson die vom Mieter geräumte Wohnung nicht bezieht. Der aktuelle Fall zeigt, welche Hürden der Mieter überwinden muss, um die Gerichte davon zu überzeugen, dass der Eigenbedarf nur vorgetäuscht war und wie die Darlegungslast zu verteilen ist. |

     

    Sachverhalt

    Der Beklagte hatte das Mietverhältnis über die von der Klägerin gemietete Einzimmerwohnung mit Schreiben vom 27.4.11 zum 31.1.12 gekündigt. Grund: Die Wohnung werde „dringend“ benötigt, um seine 86-jährige pflegebedürftige Mutter, die allein in ihrem Einfamilienhaus lebe, aufzunehmen. Der nachfolgende Räumungsrechtsstreit endete durch Prozessvergleich. Die Parteien vereinbarten eine Räumungsfrist bis 31.8.12 und die Klägerin sollte bei fristgerechtem Auszug 1.000 EUR erhalten. Seit dem Auszug der Klägerin steht die Wohnung leer. Die Mutter des Beklagten zog nicht um und verstarb am 7.11.14. Zwischen den Parteien ist im Wesentlichen im Streit, ob die Mutter des Beklagten ihr Haus verlassen und in die Wohnung umziehen wollte. AG und LG haben die Schadenersatzklage (23.642 EUR + vorgerichtliche Anwaltskosten + Feststellung der Pflicht des Beklagten zur Erstattung aller sich aus der Räumung und Herausgabe der von der Klägerin gemieteten Wohnung ergebenden Kosten bis 31.8.17) abgewiesen. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg.

     

    • 1. Für eine Kündigung wegen Eigenbedarfs gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB reicht eine sogenannte Vorratskündigung, der ein gegenwärtig noch nicht absehbarer Nutzungswunsch der Eigenbedarfsperson zugrunde liegt, nicht aus. Vielmehr muss sich der Nutzungswunsch soweit „verdichtet“ haben, dass ein konkretes Interesse an einer alsbaldigen Eigennutzung besteht.
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    • 2. Setzt der Vermieter den behaupteten Selbstnutzungswillen nach dem Auszug des Mieters nicht in die Tat um, liegt der Verdacht nahe, dass der Eigenbedarf nur vorgeschoben gewesen ist. Unter diesen Umständen ist es dem Vermieter zuzumuten, substanziiert und plausibel („stimmig“) darzulegen, aus welchem Grund der mit der Kündigung vorgebrachte Eigenbedarf nachträglich entfallen sein soll. Hierbei sind strenge Anforderungen zu stellen. Erst wenn der Vortrag des Vermieters diesem Maßstab genügt, obliegt dem Mieter der Beweis, dass ein Selbstnutzungswille des Vermieters schon vorher nicht bestand.
     

    Entscheidungsgründe

    Die Klägerin hat schon in erster Instanz behauptet und durch das Zeugnis des behandelnden Arztes der Mutter des Beklagten unter Beweis gestellt, diese habe in 4/11 nicht die Absicht gehabt, ihr eigenes Haus zu verlassen. Die Klägerin hat sich dabei auf ein vom Beklagten vorgelegtes Attest vom 4.7.14 gestützt, wonach

    • die Patientin „in dieser Zeit“ im eigenen Haus versorgt gewesen sei,
    • „die Kinder“ (der Beklagte und seine Geschwister) jedoch geplant hätten, sie „evtl.“ zu sich zu nehmen,
    • die Mutter selbst dies aber nicht vorhatte.

     

    Ferner hat die Klägerin den Arzt zum Beweis dafür benannt, dass die Demenzerkrankung der ‒ nicht unter Betreuung stehenden ‒ Mutter des Beklagten nicht so weit fortgeschritten gewesen sei, dass ihr eigener Wille durch denjenigen ihrer Kinder hätte ersetzt werden können.

     

    Dieser Vortrag ist entscheidungserheblich und vom Berufungsgericht übergangen worden. Grund: Eigenbedarf (§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB) liegt nicht vor, wenn die vom Vermieter benannte Eigenbedarfsperson gar nicht die Absicht hat, in die Wohnung einzuziehen. Eine Beweisaufnahme zu diesem Vorbringen der Klägerin war daher erforderlich. Es findet im Prozessrecht keine Stütze, den angebotenen Beweis nicht zu erheben.

     

    Des Weiteren hat das Berufungsgericht die Grundsätze der Wahrunterstellung missachtet und auch dadurch den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt. Die Klägerin hat behauptet, die Mutter des Beklagten habe am 11.2.14 in einem Telefonat mit dem Zeugen B. geäußert, sie habe „nie“ die Absicht gehabt, aus ihrem Haus auszuziehen. Das AG hat den Zeugen nicht vernommen und zur Begründung ausgeführt, es könne als wahr unterstellt werden, dass die Mutter des Beklagten ihre Umzugsabsicht in 2/14 verneint habe. Das Berufungsgericht ist dem unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht nachgegangen.

     

    Schließlich hat das Berufungsgericht das Vorbringen der Klägerin zur fehlenden Umzugsabsicht der Mutter des Beklagten bereits in seinem wesentlichen Kern nicht erfasst und damit erneut gegen das Verfahrensgrundrecht der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen. Die Klägerin hat darauf hingewiesen, dass der Eigenbedarf im Kündigungsschreiben vom 27.4.11 als „dringend“ und in der Klageschrift des Räumungsprozesses als „akut“ bezeichnet worden ist, die Wohnung hingegen bis Mitte 4/13 als Fahrradstellplatz benutzt worden sei.

     

    Zwar hat das Berufungsgericht dazu ausgeführt, der zeitliche Ablauf spreche nicht gegen Eigenbedarf, weil dieser weder einen Notfall noch eine Zwangslage voraussetze. Diese Würdigung verkennt jedoch den wesentlichen Kern des Vortrags der Klägerin. Denn der zeitliche Ablauf ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Kündigung vom 27.4.11 zum 31.12. eine mögliche spätere Nutzung erst vorbereiten sollte, der Nutzungswunsch der Mutter des Beklagten aber noch unbestimmt war und erst geweckt werden musste. Darauf können namentlich die Bekundungen einer Zeugin hindeuten („Man macht nicht die Pferde scheu, bevor es soweit ist“; „steter Tropfen höhlt den Stein; von daher habe ich dieses Thema immer wieder angesprochen.“).

     

    MERKE | Für eine Kündigung wegen Eigenbedarf gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB reicht eine Vorratskündigung, der ein gegenwärtig noch nicht absehbarer Nutzungswunsch der Eigenbedarfsperson zugrunde liegt, jedoch nicht aus. Vielmehr muss sich der Nutzungswunsch soweit „verdichtet"“ haben, dass ein konkretes Interesse an einer alsbaldigen Eigennutzung besteht.

     

    Relevanz für die Praxis

    Der BGH arrondiert seine Rechtsprechung zur Haftung des Vermieters wegen vorgetäuschten Eigenbedarfs und gibt wichtige „Segelhinweise“ für die Darlegungs- und Beweislast.

     

    Häufig wird der Vermieter seinen Wunsch, eine vermietete Wohnung künftig selbst zu nutzen, gegenüber Dritten äußern. Diese werden dann imstande sein, Angaben über ihre Gespräche mit dem Vermieter zu machen, die es dem Gericht gestatten, das Vorliegen eines ernsthaften Selbstnutzungswunsches zu beurteilen.

     

    Fehlt es hieran, müssen sich die Gerichte das erforderliche Maß an Überzeugung durch Würdigung anderer ‒ vom Vermieter vorzutragender und gegebenenfalls zu beweisender ‒ Indiztatsachen bilden, die einen Schluss auf eine solche Absicht zulassen (BVerfG NJW 93, 2165). Das heißt: Wird der Eigenbedarf ‒ wie hier ‒ substanziiert bestritten, muss das Gericht die angebotenen Beweise (hier: Zeugnis des behandelnden Arztes) erheben. Andernfalls liegt ein Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG) vor.

     

    Beachten Sie | Ein Beweisantrag kann in entsprechender Anwendung von § 244 Abs. 3 StPO abgelehnt werden. Das ist der Fall, wenn die unter Beweis gestellte Tatsache unerheblich, bereits erwiesen oder offenkundig ist, wenn das Beweismittel unzulässig, unerreichbar oder völlig ungeeignet ist oder wenn die behauptete Tatsache als wahr unterstellt wird (BGHZ 121, 266; BGH BeckRS 15, 17442).

     

    PRAXISHINWEIS | Hier sollte der Anwalt ansetzen, weil die Gerichte oftmals die Reichweite der Wahrunterstellung verkennen. Diese setzt voraus, dass die Behauptung so übernommen wird, wie die Partei sie aufgestellt hat. Bei vollständiger Wahrunterstellung folgte aus der Behauptung der Klägerin, dass die Mutter des Beklagten nicht nur zur Zeit des Telefonats in 2/14, sondern niemals ernstlich beabsichtigte, aus ihrem Haus auszuziehen. Damit ist die verkürzte Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht nicht vereinbar.

     

    Der BGH (MK 16, 6, Abruf-Nr. 180285) hat bereits entschieden, dass eine nur vage Nutzungsabsicht keinen Eigenbedarfsgrund darstellt. Hieran hält er fest. Das heißt: Trägt der Mieter Anhaltspunkte zur zeitlichen Umsetzung des Eigenbedarfs vor, die die Umzugsabsicht der Eigenbedarfsperson ernsthaft infrage stellen, muss auch hierüber Beweis erhoben werden.

     

    Beachten Sie | Der Mieter hat in die für den Eigenbedarf geltend gemachten Tatsachen regelmäßig keinen Einblick. Er kann ohne nähere Darlegung seitens des Vermieters nicht beurteilen, ob dessen Kündigung wegen Eigenbedarf, die den Mieter zum Auszug veranlasst hat, berechtigt war. Wird die Wohnung nach dem Auszug des Mieters nicht selbst genutzt, liegt der Verdacht nahe, dass der Eigenbedarf nur vorgeschoben gewesen ist (BGH MK 05, 158, Abruf-Nr. 051999). Der BGH hält daran fest, dass es dem Vermieter unter diesen Umständen im Schadenersatzprozess zuzumuten ist, substanziiert und plausibel darzulegen, aus welchem Grund der mit der Kündigung vorgebrachte Eigenbedarf nachträglich entfallen sein soll. An diesen Vortrag sind strenge Anforderungen zu stellen. Das heißt: Erst wenn der Vortrag des Vermieters diesem Maßstab genügt, muss der Mieter beweisen, dass der Vermieter die Wohnung schon vorher nicht nutzen wollte.

     

    Hier hatte das AG angenommen, der Wegfall des Eigenbedarfs sei plausibel dargelegt, weil der Gesundheitszustand der Mutter sich im Sommer 2013 erheblich verschlechtert und ab diesem Zeitpunkt eine dauernde Pflegekraft erfordert habe, sodass ein Umzug in die zuvor von der Klägerin bewohnte (Einzimmer-)Wohnung nicht mehr möglich gewesen sei. Der BGH weist demgegenüber zu Recht darauf hin, dass die Klägerin die Wohnung bereits Ende 8/12 zurückgegeben hat. Die erst ein Jahr später eingetretene Verschlechterung des Gesundheitszustands kann deshalb nicht ansatzweise (und erst recht nicht bei der gebotenen Anlegung eines strengen Maßstabs) erklären, warum der Eigenbedarf ein Jahr zuvor nicht zeitnah nach der Rückgabe verwirklicht worden ist.

     

    Beachten Sie | Wichtig sind auch die Ausführungen des BGH zur Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich um eine zweite ‒ wenn auch eingeschränkte ‒ Tatsacheninstanz, deren Aufgabe darin besteht, eine „fehlerfreie und überzeugende“ und damit „richtige“ Entscheidung des Einzelfalls zu finden (Urteil Tz. 23). Das heißt: Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Zweifel können sich vielmehr an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen i. S. v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und auch aus einer möglichen unterschiedlichen Bewertung der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben (Urteil Tz. 24).

     

    Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse ‒ nicht notwendig überwiegende ‒ Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es somit zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet. Hält es das Berufungsgericht ‒ wie hier ‒ für denkbar, dass die von der Berufung aufgeworfenen Fragen zu einer anderen Würdigung führen können, besteht Anlass für die Überlegung, ob für die andere Würdigung zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht und deshalb Anlass zu einer Wiederholung der Beweisaufnahme besteht.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Umgekehrt muss der Vermieter auch über einen nur in Erwägung gezogenen Eigenbedarf aufklären, MK 11, 45
    Quelle: Sonderausgabe 01 / 2018 | Seite 12 | ID 45174744