· Nachricht · Verfahrensrecht
Keine Zugangsvermutung nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bei strukturellem Zustellungsdefizit
von Rechtsassessor Dr. Matthias Gehm, Limburgerhof
| Der BFH hat bezüglich der vor dem 1.1.25 geltenden Rechtslage entschieden, dass wenn innerhalb der Drei-Tages-Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO an zwei Tagen planmäßig keine Post zugestellt wird und am dritten Tag die Post vom ersten zustellungsfreien Tag nachgeliefert wird, die Bekanntgabevermutung entkräftet ist (BFH 29.7.25, VI R 6/23). |
Sachverhalt
Am 28.1.22 (einem Freitag) hat das FA die streitbefangene Einspruchsentscheidung betreffend Einkommensteuer VZ 20 als einfachen Brief einem privaten Postdienstleister übergeben, der im Zustellungsbezirk des Prozessbevollmächtigten des Klägers regelmäßig nur von Dienstag bis Freitag die Post zustellt und am darauffolgenden Montag die Samstagszustellung nachholt.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte die Einspruchsentscheidung mit Eingangsstempel 3.2.22 versehen, ein Posteingangsbuch führte er nicht, auch wurde der Umschlag der Einspruchsentscheidung von ihm nicht aufgehoben. Am 3.3.22 ging die Klage gegen die Einkommensteuerfestsetzung 20 beim FG ein, die diese mangels Einhaltens der Klagefrist nach § 47 Abs. 1 FGO als unzulässig abwies (FG Münster 11.5.23, 8 K 520/22 E, EFG 23, S. 1044).
Entscheidung
Der BFH sieht die Klagefrist als gewahrt an. § 122 Abs. 2 AO gilt nicht nur bei Aufgabe des einfachen Briefes bei der Deutschen Post AG (DHL Group), sondern auch bei privaten Postdienstleistern (BFH 14.6.18, III R 27/17, BStBl II 19, S. 16). Voraussetzung ist aber, dass das Datum der Aufgabe bzw. Einlieferung feststeht (BFH 16.1.21, X B 108/20, BFH/NV 21, S. 929). Dieses war der 28.1.22.
Wird der Zugang als solcher bestritten, hat das FA diesen nachzuweisen (BFH 20.2.25, VI R 18/22, BFH/NV 25, S. 919). Wird lediglich vom Empfänger bestritten, dass dieser innerhalb der damaligen Dreitagesfrist erfolgte, müssen substantiiert Tatsachen vorgetragen werden, die den Schluss zulassen, dass ein späterer Zugang ernstlich in Betracht kommt (BFH 14.6.18, III R 27/17, BStBl II 19, S. 16; BFH 3.5.01, III R 56/98, BFH/NV 01, S. 1365).
Solche ernstlichen Zweifel sind wegen eines strukturellen Zustellungsdefizits gegeben. Dieses besteht darin, dass die Vorgaben des bis 18.7.24 geltenden § 2 Nr. 3 PUDLV nicht eingehalten wurden. Hiernach müssen grundsätzlich im Jahresdurchschnitt 80 % der inländischen Briefe an dem ersten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag und 95 % an dem zweiten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag zugestellt werden. Auf diesen Vorgaben baut die Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO auf.
Es lässt sich jedoch hier nicht ausschließen, dass ein am Freitag aufgegebener Brief nicht mit 95%iger Wahrscheinlichkeit innerhalb von drei Tagen ausgeliefert wurde, weil der Montag (31.1.22) als letzter Tag der Frist kein regulärer Zustellungstag war, denn hier wurde lediglich die Samstagspost (29.1.22) ausgetragen. Bei dieser lag allerdings die Auslieferungswahrscheinlichkeit als erster Werktag nach dem Einlieferungstag bei lediglich 80 %.
Zusätzlich wird die Bekanntgabevermutung durch den Eingangsstempel des Prozessbevollmächtigten entkräftet.
Dass kein Posteingangsbuch von diesem geführt wurde, ist ohne Belang, da diesem kein wesentlich höherer Beweiswert zukommt.
Der Briefumschlag der Einspruchsentscheidung ist für den Zeitpunkt des Zugangs auch ohne Bedeutung.
Relevanz für die Praxis
Durch das Postrechtsmodernisierungsgesetz v. 15.7.24 (BGBl I 24 Nr. 236) wurde ab 1.1.25 die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO von drei auf vier Tage verlängert (Baum, NWB 25, 224, 229; BT-Drucks. 20/11817, S. 141 f.). Nach § 18 Abs. 1 PostG sind zudem nunmehr die Vorgaben derart, dass von den inländischen Briefen mindestens 95 % am dritten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag und 99 % am vierten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag zugestellt sein müssen.
Diese Neuregelungen sind heranzuziehen, wenn es um die Beurteilung geht, ob ein die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO widerlegendes strukturelles Zustellungsdefizit vorliegt. Dies wäre m. E. im konkreten Fall nicht gegeben gewesen, schon weil am Dienstag (1.2.22) als letzten Tag der Viertagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wiederum regulär zugestellt wurde (vgl. BFH 23.2.18, X B 61/17, BFH/NV 18, S. 601).
Wird geltend gemacht, dass der Bescheid erst nach der Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO zugegangen ist, sollte insbesondere das Briefkuvert mit Poststempel vorgehalten werden, wenn sich daraus ergibt, dass der Bescheid erst verzögert zur Beförderung gelangte (Gehm, AO-StB 20, S. 152 m.w.N.). Ist wie im Besprechungsfall das Aufgabedatum hingegen nicht strittig, ist der Briefumschlag insofern ohne Belang.
Angemerkt sei noch, dass allein der Eingangsstempel des Prozessbevollmächtigten aber (weiterhin) nicht ausreicht, die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO zu widerlegen (vgl. Geserich, NWB EAAAK-03904; BFH 30.11.06, XI B 13/06, BFH/NV 07, 389).