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  • · Interview

    „Im Umgang mit Migranten dürfen Zahnärzte mutiger sein!“

    Bild: ©Spectral-Design - stock.adobe.com

    | Migranten sind zahnmedizinisch schlechter versorgt als Nicht-Migranten. Kinder ausländischer Eltern haben im Vergleich zu deutschen Kindern eine mehr als doppelt so hohe Kariesprävalenz. Geflüchtete gehen eher in die Notfallambulanz als zum Zahnarzt. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) fragte den Medizinsoziologen Ramazan Salman (Geschäftsführer des Ethno-Medizinischen Zentrums in Hannover [ ethno-medizinisches-zentrum.de ] und Mitglied des Editorial Boards des WHO Newsletters „Migration and Health“, ogy.de/j83q ) nach Möglichkeiten, die Situation zu verbessern. |

     

    Frage: Herr Salman, warum sind Patienten mit Migrationshintergrund zahnmedizinisch relativ schlecht versorgt?

     

    Antwort: Seitens der Zahnmedizin heißt es oft, dass mangelnde Sprachkenntnisse und kulturelle Hindernisse der Grund seien. Daraus folgt der Schluss, dass die Versorgung gut zu leisten wäre, wenn die Kommunikation und die Kultursensibilität besser wären. Doch geben Migrantinnen und Migranten, die aus außereuropäischen Ländern kommen, ganz andere Gründe an, denn sie kommen aus sehr unterschiedlichen Gesundheitssystemen und haben häufig andere Sichtweisen. Beispiel Prävention: In Deutschland haben wir verinnerlicht, dass Fissurenversiegelung und Fluoridierung Karies vorbeugen und dass eine jährliche Kontrolle sinnvoll ist. Doch in vielen Ländern ist Prävention nicht verankert. An dieser Stelle hakt es am meisten.

     

    Frage: Wo hakt es noch?

     

    Antwort: Das deutsche Gesundheitssystem und seine Leistungen sind sehr komplex. Menschen aus arabischen Ländern kennen sich sehr gut mit dem Hausarzt aus. Aber bei Fachärzten hört es auf. Wer ist zuständig, wie komme ich dahin? Beim Zahnarzt steigen Migranten am wenigsten durch. Manche Leistungen sind sinnvoll und werden bezahlt. Andere Leistungen sind sinnvoll und werden nicht bezahlt. Viele Türken lassen sich daher Kronen, Brücken und Implantate während des Urlaubs in der Türkei machen. Dort hat die Zahnklinik einen Festpreis, damit ist alles klar. Doch da beginnt das Problem, denn häufig fehlen den Menschen Kenntnisse über Krankheit und Behandlung. Womit ich zu einem weiteren Grund für die schlechtere Versorgung komme. Die Patienten wissen beispielsweise nicht, dass Implantate Zeit brauchen, um einzuheilen. Zu wenige wissen, dass die Qualität der Oralhygiene grundsätzlich ein allgemeiner Risikofaktor für Krankheiten ist.

     

    Frage: Wie steht es mit dem Wissen um die Ernährung?

     

    Antwort: In Migrantenhaushalten wird Zucker unkritischer konsumiert als in deutschen Haushalten. Auch der Fettkonsum ist überdurchschnittlich hoch. In arabischen und einigen afrikanischen Ländern heißt es: „Süß essen, süß reden.“ Man isst Baklava, um sich über etwas Nettes auszutauschen. Doch ist Süßes in diesen Ländern längst nicht so unfassbar preiswert wie hier.

     

    Frage: Sollte der Zahnarzt den Zeigefinger heben?

     

    Antwort: Er muss proaktiv auf die Patienten zugehen und auch mal sagen, was nicht gemacht werden darf. In Deutschland gilt Kommunikation als respektvoll, wenn der Patient nach seiner Meinung gefragt wird und zwischen verschiedenen Varianten wählen darf. Das wollen viele Migranten gar nicht. Werden sie nach ihrer Meinung gefragt, bewerten sie den Zahnarzt als inkompetent. Stattdessen wollen sie klare Vorschläge und praktische Tipps. Sagt der Zahnarzt, dass ein Kind sich jeden Tag zweimal die Zähne putzen sollte, wird das nicht als Bevormundung, sondern als Umsorgen und Kümmern verstanden. Auch die Frage an erwachsene Patienten, wie viel Zucker sie in ihren Tee tun, wird gut bewertet. Sie drückt aus, dass die Gesundheit des Patienten dem Zahnarzt nicht egal ist.

     

    Frage: Wie kann ein Zahnarzt erreichen, dass Patienten regelmäßig kommen oder einer Therapie treu bleiben?

     

    Antwort: Zahnärzte müssen Vertrauen und Transparenz schaffen. Dabei dürfen sie mutiger sein als bisher. Sie sollten sich nicht dem Impuls hingeben, dass die Patienten ihre Kultur und Sprache sowieso nicht verstehen. Es gibt eine simple Drei-Schritte-Regel: Zur Eröffnung stellt der Zahnarzt leicht zu beantwortende persönliche Fragen, die Interesse am Patienten signalisieren. Die Frage nach der Familie funktioniert bei fast allen Kulturen außerhalb Europas wunderbar. Auch Fragen zur Oralhygiene bieten sich an: Welche Zahnpasta nutzen Sie? Wie oft wechseln Sie Ihre Zahnbürste? Im zweiten Schritt empfiehlt es sich, einfache Ratschläge anzubieten. Denn guter Rat ist teuer und wenn man diesen geschenkt bekommt, geht man als Gewinner aus der Praxis und kommt gerne wieder! In der Regel folgt der dritte Schritt von selbst. Die Patienten stellen ihrerseits Fragen oder berichten über ihre Erfahrungen. Der Abschied kann dann die nächste Begrüßung bereits beinhalten, wenn der Zahnarzt daran erinnert, dass der Patient noch einmal wieder kommen muss. Oder dass die jährliche Kontrolle wichtig ist.

     

    Frage: Das erste sogenannte „Gastarbeiter-Abkommen“ mit Italien stammt aus dem Jahr 1955. Mittlerweile ist Deutschland sehr divers. Müssten Zahnärzte nicht bereits sehr viel Wissen über Migranten haben?

     

    Antwort: Bei älteren Zahnärzten fällt mir auf, dass sie mit den Leuten heute besser umgehen als noch vor 15, 20 Jahren. Sie haben gelernt, Vertrauen aufzubauen. Unter den Absolventen der Zahnmedizin sind inzwischen viele junge türkische, polnische und russische Frauen, die hervorragend abschließen. Die von Diversität geprägte Patientengemeinschaft spiegelt sich auch auf der Versorgerseite wider. Man wächst heutzutage mit dieser Vielfalt auf, lernt zusammen in den Ausbildungsstätten und teilt sich die Patientenrolle ebenso wie die Fachkräfterolle. Unsere Gesellschaft wird sich in den nächsten Jahrzehnten immer besser entwickeln. Diese Vielfalt macht uns flexibel und stark.

    Quelle: Ausgabe 10 / 2021 | Seite 8 | ID 47465977