ArbG Stuttgart
Urteil vom 4.8.2021
Tenor
- Die Klage wird im Hinblick auf die Klageanträge zu 3. und 4. als derzeit unbegründet abgewiesen.
- Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
- Der Streitwert wird auf EUR 00.000,00 festgesetzt.
- Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen (Folge-)Kündigung vom 18. Januar 2019.
2
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie. In ihrem Betrieb in S. sind ca. 13.500 Arbeitnehmer beschäftigt. Dort besteht ein Betriebsrat mit 39 Mitgliedern.
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Der am 00. 00. 1968 geborene Kläger war seit dem 1. September 1997 bei der Beklagten als Entwicklungsingenieur beschäftigt. Er war seit 0000 Mitglied des Betriebsrats am Standort F. und seit 0000 freigestellt. Der Kläger ist seinen 4 Kindern unterhaltspflichtig. Das durchschnittliche Bruttomonatsgehalt des Klägers betrug zuletzt EUR 0.000,00.
4
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger erstmals am 13. Februar 2018 außerordentlich fristlos. Während des Laufs des Kündigungsschutzprozesses wurde im Betrieb F. ein neuer Betriebsrat gewählt. Der Kläger war - bei unterstellter Unwirksamkeit der ersten Kündigung - passiv wahlberechtigt und wurde am 8. März 2018 mit x Stimmen von x gültigen Stimmen (ca. x % der gültigen Stimmen) auf Platz x von insgesamt x Plätzen erneut in den Betriebsrat gewählt.
5
Die Beklagte stützte die (erste) Kündigung vom 13. Februar 2018 auf den Vorwurf folgender Pflichtverletzungen des Klägers in der Zeit vom 1. Februar 2018 bis zum 9. Februar 2018:
6
o unangemessenes Verhalten vor der Damenumkleide der Mitarbeiterinnen der Werkverpflegung am 1. Februar 2018;
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- ungerechtfertigte Beschuldigung von Herrn A;
8
- Angriff auf Frau B. in deren Büro am 8. Februar 2018;
9
- Bedrängung von Mitarbeiterinnen und Bedrohung von Herrn A. am 9. Februar 2018.
10
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zu den Sachverhalten, die aus Sicht der Beklagten die Kündigung rechtfertigten, sowie der Verteidigung des Klägers gegen die Vorwürfe wird auf das Anlagenkonvolut B1 (Bl. 115 ff. d.A.) Bezug genommen.
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Im ersten Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht Stuttgart (Az.
14 Ca 1054/18) fanden am 23. März 2018 die Güteverhandlung, am 4. Juli 2018 ein erster Kammertermin und am 14. Dezember 2018 ein zweiter Kammertermin statt. Im Kammertermin vom 14. Dezember 2018 hat das Arbeitsgericht Beweis erhoben durch Vernehmung von Frau B., Frau C. (Assistentin von Frau B.), Herrn D. (Mitarbeiter der Beklagten und Sohn von Frau B.) und Herrn A..
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Bei allen Terminen vor dem Arbeitsgericht waren viele (schätzungsweise 50 bis 80) Zuschauer im Gerichtssaal anwesend. Das Arbeitsgericht hat nach den mündlichen Verhandlungen vom 4. Juli 2018 und 14. Dezember 2018 Pressemitteilungen herausgegeben. Es kam auch zu einer Pressberichterstattung u.a. durch die „Stuttgarter Zeitung“ (Anlagenkonvolut B 3, Bl. 306 ff. d.A.) sowie „Stuttgarter Nachrichten“ (Bl. 312 ff. d.A.).
13
Weder in den Pressemitteilungen des Gerichts noch der der Beklagten bekannten Presseberichterstattung wurden die Namen der im Verfahren angehörten Zeugen oder sonstiger beteiligter Personen explizit genannt.
14
Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Das Arbeitsgericht stützte in seinem Urteil vom 14. Dezember 2018 (Anlage B 17, Bl. 553 d.A.) die Rechtswirksamkeit der Kündigung im Wesentlichen auf den Vorfall gegenüber der Personalleiterin Frau B. am 8. Februar 2018 sowie das Verhalten gegenüber Herrn A. am 9. Februar 2018, dass das Gericht als nicht hinnehmbare Bedrohung gegenüber diesen Arbeitnehmern wertete (Bl. 560 d.A.). So sah es das Arbeitsgericht nach durchgeführter Beweisaufnahme als erwiesen an, dass der Kläger sowohl zum Schluss seines Auftretens gegenüber Frau B. in ihrem Büro am 08.02.2018 gesagt hat „Sie sind sehr mutig, wenn Sie sich mit mir anlegen. Ich mache Sie fertig, Sie werden schon noch sehen" als auch bei seinem Aufeinandertreffen mit Herr A. am Folgetag „Sie krieg ich auch noch.“ gesagt hatte.
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Auf den von der Beklagten mit Schriftsatz vom 19. März 2018 näher geschilderten Sachverhalt, wonach die Arbeitnehmerinnen Frau E., Frau F. und Frau G. sich durch die Anwesenheit des Klägers vor der Damenumkleide belästigt „fühlten“, stützte das Arbeitsgericht seine Erwägungen im Hinblick auf die Wirksamkeit der Kündigung nicht. Auch in dem Bericht der Stuttgarter Zeitung vom 14. Dezember 2018 heißt es dazu:
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„Alle weiteren vom Arbeitgeber zunächst erhobenen Vorwürfe ‒ wie ein Aufenthalt nahe einer Damenumkleide ‒ hatte er [Anm: gemeint ist der Vorsitzende Richter am Arbeitsgericht L.] bereits im Vorfeld abgeräumt, weil sie aus seiner Sicht keine fristlose Kündigung bei einer so langen Beschäftigungszeit rechtfertigen würden.“
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Im Berufungsverfahren vor dem Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (Az.
8 Sa 30/19) gab das Gericht der Berufung des Klägers mit Urteil vom 21. Januar 2020 (Anlage B 18, Bl. 603 f. d.A.) teilweise statt und stellte fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 13. Februar 2018 aufgelöst worden ist. Anders als das Arbeitsgericht Stuttgart kam das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg im Rahmen der Interessenabwägung zu dem Ergebnis, dass die Beklagte den Kläger zunächst hätte abmahnen müssen. Hintergrund war die Annahme des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg, dass man den Kläger durch eine Abmahnung wieder zu einem "zivilisierten Miteinander" hätte bringen können. Im Hinblick auf die Bewertung der (behaupteten) Pflichtverletzung des Klägers heißt es im Urteil des Landesarbeitsgerichts auszugsweise:
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„Dabei ist der Auftritt des Klägers im Büro der Personalleiterin als schwere Pflichtverletzung anzusehen. Dies gilt zum einen für die rein körperliche Einschüchterung der Zeugin B. durch das dominante Auftreten des Klägers, dessen sehr lautes Reden bzw. Schreien, das Schlagen gegen den Türrahmen und das Verbleiben des Klägers stehend im Türrahmen, so dass die im Büro anwesende Personalleiterin und ihr Sohn den Raum nicht verlassen konnten, bis der Kläger Platz machte. Als besonders schwerwiegend ist die Äußerung des Klägers zu bewerten „Ich mach Sie fertig".
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Auch in dem Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg waren zahlreiche Zuschauer während der Verhandlung im Sitzungssaal anwesend.
20
Der im hiesigen Verfahren streitgegenständlichen Kündigung vom 18. Januar 2019 lag folgender Sachverhalt zugrunde:
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Am 20. Dezember 2018, 13:13 Uhr, schrieb der Kläger eine E-Mail (Anlage B 4, Bl. 314 f. d.A.) mit dem Betreff „Autorisierung zu wahrheitsgemäßen Stellungnahmen bezüglich meiner Kündigung gegenüber Beschäftigten" an Herrn H. (Betriebsratsvorsitzender F.), Herrn I., Herrn J. und Herrn Rechtsanwalt K., den Prozessbevollmächtigten des Klägers im ersten Kündigungsschutzverfahren. Darin erklärte der Kläger, er sei von mehreren Mitarbeitern und aus Reihen der Arbeitnehmervertretung gebeten worden, „Ihnen" (gemeint sind also offenbar Herr H., Herr I. und Herr J.) die Erlaubnis zu erteilen, die „Ihnen" gestellten Fragen zu den Umständen seiner Kündigung, der Betriebsratsanhörung und der Entscheidungsgründe des Gremiums betriebsöffentlich zu beantworten. Er erklärte ferner, besonders an den Betriebsrat F. seien bereits mehrfach Anfragen gestellt worden, die dieser „offenbar aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes mir gegenüber" bisher nicht beantwortet habe. Der Kläger erklärte sodann, er stelle klar, dass es aus seiner Sicht eines solchen Schutzes nicht bedürfe. Er halte es „im Sinne einer objektiven Information" der Mitarbeiter für geboten, ihnen die Schriftsätze beider Seiten zur Verfügung zu stellen. Er habe „diese öffentlichen Dokumente" unter einem Link zusammengestellt, damit sich ‚jeder interessierte Mitarbeiter ein eigenes Bild über meine Schilderungen der Vorgänge und über die Art der Vorwürfe der Firmenseite" machen könne. Die E-Mail schließt mit der Erklärung, die E-Mail gehe „parallel unter anderem auch an Vertreter des Vertrauenskörpers-Fe und der Arbeitnehmervertretungen der Beklagten". Der Kläger führte aus, es sei sein „ausdrücklicher Wunsch, dass sie auch weitergeleitet wird und dass daraus, und dass aus den bereitgestellten Unterlagen, zitiert wird."
22
In der E-Mail enthalten war ein Link zu einer sog. „Dropbox“. In der Dropbox waren Schriftsätze beider Seiten aus dem arbeitsgerichtlichen Verfahren samt Anlagen sowie ein Ausdruck von SMS-Verkehr mit Herrn H. zur Ansicht, zum Download und zum Ausdruck zur Verfügung gestellt (Anlagenkonvolut B 5, Bl. 316 d.A.).
23
Unter anderem stellte der Kläger die Klageerwiderung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten vom 19. März 2018 und einen weiteren Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Beklagten vom 20. Juni 2018 online zur Verfügung. In diesen Schriftsätzen waren detaillierte Angaben zu sämtlichen von der Beklagten angeführten Sachverhalten enthalten, und zwar unter voller Namensnennung der betroffenen Mitarbeiter. Hierzu gehörten nicht nur die im Kammertermin am 14. Dezember 2018 vernommenen vier Zeugen, sondern u.a. auch die drei Mitarbeiterinnen der Kantine, Frau E., Frau F. und Frau G., sowie der Küchenleiter, Herr L., welche die Beklagte in ihren Schriftsätzen als Zeuge für den Vorfall vor der Damenumkleide benannt hatte. Hinsichtlich all dieser Mitarbeiter stellte die Beklagte dar, wie sie die verschiedenen Vorgänge wahrgenommen hatten und welche Auswirkungen das Verhalten des Klägers auf sie hatte. Insbesondere wurden in den Schriftsätzen der Beklagten auch die psychischen Beeinträchtigungen geschildert, die das Verhalten des Klägers für Frau B. und Herrn A. hatten. So wird im Schriftsatz vom 19. März 2018 auf Seite 6 ausgeführt:
24
„[…]“
25
Diese Details wurden ‒ insofern unstreitig ‒ weder in den öffentlichen Gerichtsverhandlungen noch in der Presse explizit benannt.
26
Zu den psychischen Belastungen von Frau B. wird im Schriftsatz vom 20. Juni 2018 auf Seite 12 ausgeführt:
27
„[…]“
28
Die Arbeitsunfähigkeit von Frau B. wurde zwar in der mündlichen Verhandlung thematisiert (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2018, dort u.a. S. 3, Bl. 662 f. d.A.). In der Presseberichterstattung wurden jedoch keine Details und vor allem nicht der Name von Frau B. genannt.
29
Herr J. und Herr I. berieten sich am Nachmittag des 20. Dezember 2018 mit den Anwälten der Beklagten. Mit E-Mail vom 20. Dezember 2018, 18:33 Uhr (Anlage B 6, Bl. 480 d.A.), forderte Herr I. den Kläger im Namen des Unternehmens auf, unverzüglich die Dropbox zu löschen bzw. den Zugang zu sperren und sämtliche Adressaten der E-Mail, in der der Link zu der Dropbox enthalten war, darüber zu informieren, dass die Weiterverbreitung der Dokumente unzulässig und daher zu unterlassen sei. Außerdem wurde der Kläger aufgefordert, dem Unternehmen bis zum 21. Dezember 2018, 10 Uhr, die Durchführung der Maßnahmen zu versichern und mitzuteilen, an welchen Verteilerkreis die E- Mail versandt wurde. Die Beklagte hatte ein Interesse daran, den Verteilerkreis zu erfahren, um selbst an die Adressaten heranzutreten und sie darauf hinweisen zu können, dass eine Verbreitung der Daten unzulässig ist, um so eine weitere Verbreitung zu verhindern.
30
Eine entsprechende E-Mail und parallel ein Fax versandte auch der Prozessbevollmächtigter des Unternehmens an den Rechtsanwalt des Klägers (Anlagenkonvolut B 7, Bl. 482 d.A.).
31
Am 20. Dezember 2018, 19:03 Uhr (Anlage B 8, Bl. 486 d.A.), antwortete der Kläger Herrn I., er verstehe die Aufregung nicht und teile die Rechtsauffassung nicht. Die Schriftsätze seien in einem öffentlichen Gerichtsverfahren für die Kündigung gegen ihn verwandt worden. Es entspreche nach seiner Auffassung dem Öffentlichkeitsgrundsatz, dass „eben dieser Öffentlichkeit, wenn schon leider nicht im Gerichtssaal, dann zumindest auf diesem Weg alle Informationen zugänglich gemacht werden." Es könne gerne geklärt werden, ob die Veröffentlichung zulässig sei und ob er diese rückgängig machen müsse. Die Adressaten der E-Mail werde er nicht nennen.
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Mit weiterer E-Mail vom 20. Dezember 2018, 19:32 Uhr (Anlage B 9, Bl. 490 d.A.), erklärte der Kläger gegenüber Herrn I., er bestätige, dass er den Dropbox-Link vorübergehend deaktiviert habe; er behalte sich eine rechtliche Prüfung aller Forderungen vor.
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Eine Prüfung durch Herrn I. ergab, dass zumindest er dem Link nicht mehr folgen konnte.
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Der Rechtsanwalt des Klägers meldete sich am 21. Dezember 2018, 9:48 Uhr (Anlage B 10, Bl. 494 d.A.), beim Rechtsanwalt der Beklagten und erklärte, für ihn sei dessen Verständnis von Datenschutz „nicht ganz nachvollziehbar", da die Daten zum Gegenstand mündlicher Verhandlung gemacht worden seien. Den Verteilerkreis der E-Mail werde sein Mandant nicht bekanntgeben; dem dürfte auch der Datenschutz der Betroffenen entgegenstehen.
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Mit E-Mail vom 21. Dezember 2018, 18:26 Uhr (Anlage B 11, Bl. 496 d.A.), forderte Herr I. den Kläger erneut dazu auf, die Adressaten der E-Mail mit dem Link zu nennen, und forderte ihn außerdem auf, dem Unternehmen die Mitteilung in Kopie zukommen zu lassen, mit der der Kläger die Adressaten der E-Mail darüber informiert habe, dass die Verbreitung der Dokumente unterbleiben solle. Herr I. wies ferner darauf hin, dass es aus Unternehmenssicht dabei bleibe, dass die Veröffentlichung der Prozessunterlagen unzulässig und nicht durch ein berechtigtes Interesse gedeckt war, und die Beklagte sich weitere rechtliche Schritte vorbehalte. Herr I. setzte für die Beibringung der Informationen eine Frist bis Donnerstag, 27. Dezember 2018, 12 Uhr, und gab dem Kläger binnen gleicher Frist Gelegenheit, zum Sachverhalt insgesamt nochmals Stellung zu nehmen. Der Rechtsanwalt der Beklagten leitete die E-Mail an den Rechtsanwalt des Klägers zur Information weiter.
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Am 27. Dezember 2018, 8:02 Uhr (Anlage B 12, Bl. 501 d.A.), schrieb der Kläger Herrn I. eine E-Mail betreffend den Inhalt der E-Mail, mit der nach seinen Angaben die von ihm angeschriebenen Personen über die Forderungen der Beklagten informiert worden seien. Ausweislich der weitergeleiteten E-Mail vom 20. Dezember 2018, 19:47 Uhr, hatte der Kläger an den Verteilerkreis die E-Mail des Unternehmensanwalts an den Rechtsanwalt des Klägers vom 20. Dezember 2018 mit der lapidaren Bemerkung „Zur Kenntnis, mit der Bitte um Berücksichtigung" weitergeleitet, ohne selbst dazu aufzufordern, eine Verbreitung der Dokumente zu unterlassen. Den Adressatenkreis/Verteiler seiner ursprünglichen E-Mail und dementsprechend seiner Informations-E-Mail nannte der Kläger weiterhin nicht. Der Kläger nahm auch nicht die Gelegenheit wahr, zum Sachverhalt insgesamt nochmals Stellung zu nehmen.
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Am 28. Dezember 2018 beantragte die Beklagte beim Betriebsrat die Zustimmung zur vorsorglichen außerordentlichen fristlosen Kündigung des Klägers. Der Betriebsrat wurde unter schriftlicher Darstellung der Kündigungsvorwürfe zum Sachverhalt angehört.
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Der Betriebsrat äußerte sich bis einschließlich 2. Januar 2019 nicht zu dem Zustimmungsersuchen. Daraufhin leitete die Beklagte am 3. Januar 2019 beim Arbeitsgericht Stuttgart ein Zustimmungsersetzungsverfahren ein (Az. 25 BV 3/19).
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Nach Einleitung des Zustimmungsersetzungsverfahrens befasste sich der Betriebsrat in der dritten Kalenderwoche nochmals mit dem Zustimmungsersuchen der Beklagten. Der Betriebsrat informierte hierüber den Kläger und gab ihm Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme. Daraufhin schickte der Kläger am 17. Januar 2019 eine E-Mail (Anlage B 14, Bl. 517 d.A.) an alle Mitglieder des Betriebsrats, in der er seine Sicht der Angelegenheit darstellte und das Betriebsratsgremium aufforderte, keine Stellungnahme zu der beabsichtigten Kündigung abzugeben. In dieser E-Mail heißt es auszugsweise:
40
„…Am 20. Dezember 2018, also vor vier Wochen, habe ich auf Wunsch mehrerer Kollegen verschiedener Standorte, die HRL-Fe und den BER-Fe schriftlich autorisiert, Anfragen zu meinem Fall wahrheitsgemäß zu beantworten.
41
Natürlich liegt auch mir persönlich sehr viel daran, dass meine Kollegen erfahren, dass die mich persönlich zutiefst belastenden Vorwürfe einer sexuellen Belästigung vom Gericht als haltlos und gegenstandslos eingestuft wurden. (Die durch diese unwahren Vorwürfe entstandenen Verletzungen meiner Würde und Gefühle sind durch eine solche Richtigstellung natürlich nicht wieder gut zu machen.)
42
Über die Zulässigkeit der gleichzeitig erfolgten Bereitstellung der Gerichtsunterlagen in einer Dropbox hatte ich mich vorab mit meinem Anwalt abgestimmt und sicherheitshalber zeitgleich BER-Fe H. und HRL-Fe I. informiert.
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Dadurch konnte mir die HRL-Fe bereits am selben Abend ihre falsche Auffassung mitteilen, meine Vorgehensweise sei unrechtmäßig.
44
Ich habe daraufhin vorsorglich, sofort, und ohne Anerkenntnis einer rechtlichen Verpflichtung, die Inhalte der Dropbox wieder deaktiviert und das Anwaltsschreiben der Firmenseite an meinen Verteiler weitergeleitet, mit der Bitte um Beachtung und um jegliche Verbreitung der Dokumente zu unterbinden.
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Dies habe ich HRL-Fe bereits vor der von ihnen dafür gesetzten Frist noch am 20.12.2018 zurückgemeldet.
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Damit habe ich kooperiert und den Forderungen der Firma vollständig entsprochen, obwohl sie der Aussage meines Anwaltes widersprechen….
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Ich gehe aufgrund der Beratung durch meinen Anwalt weiterhin davon aus, dass die mir von Arbeitgeberseite angelasteten Vorwürfe unbegründet und nicht geeignet sind, eine Kündigung eines Betriebsratsmitglieds zu rechtfertigen.
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In jedem Fall ist festzuhalten, dass alle in diesem Zusammenhang gegen mich vorbringbaren Sachverhalte sich ausschließlich am 20.12.2018 ereignet haben, der Firma vollumfänglich durch mich selbst bekannt gegeben, von der Kanzlei X im Sinne der Firma bewertet und von mir rückgängig gemacht worden waren.
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Offensichtlich sind sich nicht einmal die Anwälte beider Seiten einig, ob eine Offenlegung der Gerichtsunterlagen tatsächlich unzulässig ist. Diese wurden in einer öffentlichen Verhandlung ja bereits verhandelt. Und es war die Firma, die alle in ihren Schriftsätzen enthaltenen Informationen damit selbst öffentlich gemacht hat.
50
Daher besteht auch in der zweiten Instanz demnächst erneut Gelegenheit, relevante Unterlagen und Zeugenaussagen öffentlich zu verlesen, falls das zu meiner Verteidigung notwendig sein sollte.
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Daher wäre es fair, wenn Ihr wenigstens diesmal von Eurem Recht Gebrauch machen würdet, keine Stellungnahme zur beabsichtigten Kündigung eines Betriebsratsmitglieds abzugeben, und die juristische Würdigung der strittigen Sachverhalte einem Arbeitsgericht in einem rechtsstaatlichen Prozess zu überlassen….“
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Der Betriebsratsvorsitzende leitete die E-Mail an die Beklagte zur Stellungnahme weiter. Daraufhin nahm die Beklagte gegenüber dem Betriebsrat per E-Mail zu den Ausführungen des Klägers Stellung und erklärte, dass sie bei ihrem Zustimmungsersuchen bleibe.
53
Am 18. Januar 2019 stimmte der Betriebsrat der Kündigung zu und teilte dies der Beklagten mit. Daraufhin sprach die Beklagte noch am selben Tag die im vorliegenden Verfahren streitgegenständliche Kündigung aus. Die Beklagte (dortige Beteiligte zu 1) und der Betriebsrat (dortiger Beteiligter zu 2) haben daher zwischenzeitlich die Erledigung des Zustimmungsersetzungsverfahrens erklärt.
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Bereits am 15. September 2011 hat der Kläger eine entsprechende Verpflichtungserklärung zur „Verarbeitung personenbezogener Daten“ unterschrieben (Anlage B 19, Bl. 704 d.A.).
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Der Kläger behauptet, die „Daten“ (gemeint sind bspw. Gesundheitsdaten bzgl. der psychischen oder gesundheitlichen Verfassung von Herrn A. und Frau B.) seien aufgrund der öffentlichen Zeugenvernehmung in der öffentlichen Sitzung vor dem Arbeitsgericht vor 50 bis 80 Personen als Vertreter der Öffentlichkeit öffentlich gewesen. Insbesondere die Namen von Frau B. und Herrn A. waren bereits öffentlich. So sei (bspw.) auch der psychische Zustand von Herrn A. bereits im Gütetermin öffentlich von den Parteien und dem Gericht thematisiert worden. Die Parteien haben den Sach- und Streitstand bereits im Gütetermin und ersten Kammertermin erörtert. Auch bei Frau B. sei alles bereits öffentlich (nicht nur betriebsöffentlich) bekannt gewesen, was die Beklagte in der Betriebsratsanhörung aufführe.
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Der Kläger ist der Meinung, die fristlose Kündigung sei aus mehreren Gründen unwirksam.
57
Er habe bezüglich der betriebsinternen Veröffentlichung von Teilen der Prozessakten kein Unrechtsbewusstsein gehabt und „musste dies auch nicht haben“. Es gäbe keine Norm, die es grundsätzlich gebiete, Prozessakten geheim zu halten.
58
Der Kläger habe zudem im berechtigten Eigeninteresse gehandelt, denn er habe ein Recht, zu dem Fall Stellung zu nehmen und zu informieren, insbesondere im Hinblick auf die ihn als Familienvater und Betriebsratsmitglied zutiefst belastenden Vorwürfe bzgl. des Vorfalls vor der Damenumkleide. Zur Verteidigung könne entgegen der Auffassung der Beklagten die betriebsinterne teilweise „Veröffentlichung“ von Schriftsätzen auch durchaus erforderlich und notwendig sein, dann nämlich, wenn sich daraus weitere Erkenntnisse ergäben, sich weitere Zeugen melden, und seien es nur Zeugen vom Hörensagen, die z.B. bestätigt hätten, dass es Absprachen oder Ähnliches gegeben habe etc.
59
Eine Datenschutzverstoß sei schon deshalb abzulehnen, nachdem der Kläger hier mit Blick auf Art
2 Abs. 2c DS-GVO ausschließlich im Rahmen „persönlicher oder familiärer Tätigkeiten“ gehandelt habe.
60
Jedenfalls sei die Kündigung ohne vorangegangene Abmahnung unverhältnismäßig. Im Hinblick auf die Pflichtverletzungen aus dem vorangegangenen Rechtsstreit bestehe keinerlei Zusammenhang.
61
Schließlich sei auch die Betriebsratsanhörung aus mehreren Gründen rechtsfehlerhaft.
62
Mit seiner am 5. Februar 2019 beim Arbeitsgericht Stuttgart eingegangenen und der Beklagten am 15. Februar 2019 zugestellten Klage hat der Kläger die Feststellung der Unwirksamkeit der fristlosen Kündigung vom 18. Januar 2019 sowie die Weiterbeschäftigung begehrt.
63
Der Kläger beantragt ‒ nach mehrfacher Klageerweiterung ‒ zuletzt:
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1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 18.01.2019 nicht zum 18.01.2019 und auch zu keinem anderen Zeitpunkt endet.
65
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Entwicklungsingenieur weiter zu beschäftigen.
66
3. die Beklagte wird verurteilt,
a.)
67
dem Kläger Auskunft über die von ihr verarbeiteten und in und außerhalb der Personalakte des Klägers gespeicherten personenbezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten des Klägers zu erteilen, im Hinblick auf
68
- die Zwecke der Datenverarbeitung,
69
- die Empfänger, gegenüber denen die Beklagten die personenbezogenen Daten des Klägers offengelegt hat oder noch offenlegen wird,
70
- die Speicherdauer oder falls dies nicht möglich ist, die Kriterien für die Festlegung der Dauer,
71
- die Herkunft der personenbezogenen Daten des Klägers, soweit die Beklagte diese nicht bei dem Kläger selbst erhoben hat und
72
- das Bestehen einer automatisierten Entscheidungsfindung einschließlich Profiling sowie aussagekräftiger Informationen über die involvierte Logik sowie die Tragweite und die angestrebten Auswirkungen einer derartigen Verarbeitung.
b.)
73
dem Kläger eine Kopie seiner personenbezogenen, und zwar auf den Inhalt und den Bestand des Arbeitsverhältnisses und die Betriebsratstätigkeit des Klägers bezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten für den Zeitraum 01.01.2016 bis 28.06.2021, die Gegenstand der von ihr vorgenommenen Verarbeitung sind, zur Verfügung zu stellen, - insbesondere, aber nicht nur, solche Daten, die sich auf Vorwürfe oder Beschwerden oder abmahnfähige Sachverhalte, die den Kläger und die vermeintlichen Schwierigkeiten der Beklagten oder anderer Arbeitnehmer der Beklagten mit dem Kläger, betreffen, beziehen.
74
4. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Auskunft zu erteilen über
75
a) die Kategorien personenbezogener Daten, die von ihr über den bzw. zum Kläger verarbeitet wurden und werden, z.B. Stammdaten, sozialversicherungsrechtliche Merkmale, steuerlich relevante Merkmale, sensible Daten im Sinne von Art.
9 DS-GVO (wie z.B. Gesundheitsdaten),
76
b) die Verarbeitungszwecke, z.B. die Durchführung von Gehaltsabrechnungen und sozialversicherungsrechtlichen Meldungen,
77
c) die Empfänger oder Kategorien von Empfängern, gegenüber denen die personenbezogenen Daten offengelegt worden sind oder noch offengelegt werden, z.B. Einzugsstellen, Behörden oder andere Stellen,
78
d) die geplante Dauer der Speicherung der den Kläger betreffenden personenbezogenen Daten, oder, falls dies nicht möglich ist, die Kriterien für die Festlegung dieser Dauer,
79
e) das Bestehen eines Rechts auf Berichtigung oder Löschung der den Kläger betreffenden personenbezogenen Daten oder auf Einschränkung der Verarbeitung durch die Beklagte als den Verantwortlichen oder eines Widerspruchsrechts gegen diese Verarbeitung,
80
f) das Bestehen eines Beschwerderechts bei einer Aufsichtsbehörde,
81
g) wenn die personenbezogenen Daten nicht beim Kläger als betroffener Person erhoben werden bzw. erhoben wurden: alle verfügbaren Informationen über die Herkunft der Daten,
82
h) gegebenenfalls das Bestehen einer automatisierten Entscheidungsfindung einschließlich Profiling gemäß Art.
22 Abs.1 und Abs.4 DS-GVO sowie aussagekräftige Informationen über die involvierte Logik sowie die Tragweite und die angestrebten Auswirkungen einer derartigen Verarbeitung für den Kläger als betroffene Person.
83
i) dem Kläger gemäß Art.
15 Abs.3 Satz 1 DS-GVO bei der Auskunftserteilung eine Kopie all seiner personenbezogenen Daten für den Zeitraum 15.01.2018 bis 18.06.2021, die Gegenstand der Verarbeitung durch die Beklagte sind oder waren, zur Verfügung zu stellen. In Bezug auf E-Mails beschränkt sich dieser Antrag auf E-Mails, die personenbezogene Daten des Klägers in diesem Zeitraum enthalten und sich thematisch arbeitsrechtlich und personalpolitisch auf den Bestand seines Arbeitsverhältnisses, dessen Beendigung durch die diversen seit Februar 2018 ausgesprochenen Kündigungen und die damit zusammenhängenden Sachverhalte sowie auf die Betriebsratstätigkeit des Klägers seit dem 15.01.2018 bis zum 18.06.2021 beziehen.
84
Die Beklagte beantragt,
85
die Klage abzuweisen.
86
Die Beklagte behauptet, die schriftsätzlichen Darstellungen der Beklagten (u.a. die namentliche Nennung der Zeugen des Vorfalls vor der Damenumkleide, sowie die Ausführungen zu den psychischen Folgen des klägerischen Angriffs auf Frau B. und Herrn A.) waren der Betriebsöffentlichkeit bis zur Veröffentlichung durch den Kläger mit seiner E-Mail vom 20. Dezember 2018 nicht bekannt. Die in der Verhandlung am 14. Dezember 2018 getätigten Zeugenaussagen von Frau B. und Herrn A. seien allenfalls - insofern unstreitig - gerichtsöffentlich gewesen, keinesfalls aber ‒ auch nicht durch die Teilnahme von 50 ‒ 80 Zuschauern ‒ betriebsöffentlich.
87
Die Beklagte behauptet, diejenigen Mitarbeiter (insbesondere die Mitarbeiter Frau F., Frau G., Frau E. und Herrn L.), deren Namen und Wahrnehmungen zwar in den Schriftsätzen genannt wurden, die aber am 14. Dezember 2018 nicht vernommen wurden, seien ohnehin erst durch die Veröffentlichung der Aktenauszüge durch den Kläger in die (Betriebs-) Öffentlichkeit hineingezogen worden.
88
Der Kläger erwidert diesbezüglich, der Kläger habe im Nachgang zu dem Vorfall vor der Umkleidekabine selbst Erkundigungen eingezogen und diese Mitarbeiterinnen auch selbst angesprochen in der Kantine im Hinblick auf den angeblichen Vorwurf der Belästigung. Dies haben dort auch andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mitbekommen. Außerdem habe die Beklagte selbst vorgetragen, dass andere Mitarbeiter den Vorfall weitererzählt hätten. Ferner habe der Kläger selbst nach dem Vorfall vor der Damenumkleide aktiv Entlastungszeuginnen gesucht und Mitarbeiterinnen in der Kantine angesprochen. Dies haben wiederum weitere Mitarbeiter mitbekommen, so dass zu diesem Zeitpunkt betriebsintern schon „nichts mehr“ geheim gewesen sei.
89
Die Beklagte behauptet, dass die Anlagen zum Schreiben der Betriebsratsanhörung den Anlagen B1 bis B 12 im vorliegenden Verfahren entsprechen und dass diese alle und vollständig dem Antrag an den Betriebsrat auf Zustimmung zur vorsorglichen außerordentlichen Kündigung vom 28.12.2018 beigefügt gewesen seien.
90
Die Beklagte ist der Rechtsauffassung, der Kläger habe durch die Veröffentlichung weiter Teile der Prozessakten, insbesondere der umfassenden Schriftsätze der Beklagten, gleich unter mehreren rechtlichen Gesichtspunkten (Verstoß gegen Datenschutzrecht, Verletzung der Persönlichkeitsrechte der betroffenen Mitarbeiter, (erneute) Störung des Betriebsfriedens) gegen seine arbeitsvertragliche Pflicht zur Rücksichtnahme verstoßen. Damit sei jedenfalls in der Zusammenschau mit seinem vorangegangenen Verhalten, welches Anlass für die erste Kündigung war, die außerordentliche fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses auch ohne vorherige Abmahnung gerechtfertigt.
91
Im Hinblick auf die Anträge aus Auskunft bzw. Erteilung der Datenkopien nach §
83 BetrVG sei die Klage u.a. bereits deswegen unbegründet, da sich aus §
83 Abs.1 BetrVG nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses kein derartiger Anspruch ergeben könne. Im Hinblick auf Art
15 Abs. 1 und 3 DSGVO sei die Klage jedenfalls mangels Fälligkeit der Ansprüche derzeit unbegründet.
92
Mit Beschluss vom 12. April 2019 hat das Arbeitsgericht Stuttgart den Rechtsstreit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens
14 Ca 1054/18 ausgesetzt.
93
Wegen des übrigen Sach- und Streitstandes wird nach §
46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, §§
495 Abs. 1,
313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle verwiesen.
Entscheidungsgründe
94
Ein Schriftsatznachlass war dem Kläger nicht zu gewähren, §§
46 Abs. 2 ArbGG,
495,
139 Abs. 5 ZPO, da die Kammer letzten Endes das Urteil nicht auf die im Kammertermin im Hinblick auf die Vollmachtsproblematik im Rahmen des Art
15 DS-GVO (lediglich kurz) erörterte Entscheidung des OLG Stuttgart (OLG Stuttgart, v. 31.03.2021 ‒
9 U 34/21) gestützt hat. Auch im Hinblick auf den verspätet vor dem Kammertermin eingereichten Schriftsatz des Klägers vom 28.06.2021 war lediglich der Beklagten, nicht jedoch der Klägerseite erneut ein Schriftsatzrecht einzuräumen, §
283 ZPO.
95
Die Klage ist insgesamt zulässig (I.), allerdings unbegründet bzw. bezgl. der Klageanträge zu 3. und 4 derzeit unbegründet (II.).
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Die fristlose Kündigung vom 18. Januar 2019 ist wirksam und hat das Arbeitsverhältnis beendet (II.1). Nachdem die fristlose Kündigung wirksam ist, fiel der als (unechter) Hilfsantrag zu verstehende Weiterbeschäftigungsantrag nicht zur Entscheidung an (II.2). Der Kläger hat im Hinblick auf den Klageantrag zu 3 und 4. keinen Anspruch nach §
83 Abs. 1 BetrVG auf die begehrte Auskunft bzw. auf Herausgabe von Kopien (II.3). Im Hinblick auf das (Hilfs-)Begehren nach Art
15 Abs. 1 und 3 DS-GVO ist die Klage mangels Fälligkeit derzeit unbegründet (II.4.).
I.
97
1. Der Klageantrag zu 1 ist zulässig, insbesondere besteht das für den Feststellungsantrag nach §§
46 Abs. 2 ArbGG,
256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse. Auch der Klageantrag zu 2 ist hinreichend bestimmt i.S.d. §
253 Abs. 2 Nr. 2. ZPO und damit zulässig.
98
2. Die Klage ist auch bzgl. der Klageanträge 3 und 4 zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt.
99
a) Allerdings bedürfen die Klageanträge zu 3 und 4 der Auslegung. Die Klageanträge in Ziffer 3 und 4 sind aus Sicht der Kammer teilweise überschneidend, so z.B. wenn der Kläger nach Ziffer 3a) im Hinblick auf die von der Beklagten verarbeiteten und in und außerhalb der Personalakte des Klägers gespeicherten personenbezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten Auskunft über die Zwecke der Datenverarbeitung begehrt und in Ziffer 4b) bspw. erneut Auskunft über Verarbeitungszwecke verlangt. Das Gleiche gilt bspw. im Hinblick auf die Empfänger der personenbezogenen Daten, vgl. Ziffer 3a) und 4c).
100
Anträge im Sinne prozessualer Willenserklärungen sind der Auslegung zugänglich. Maßgeblich sind die für Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts entwickelten Grundsätze. Entsprechend §
133 BGB ist nicht am buchstäblichen Sinn des in der Prozesserklärung gewählten Ausdrucks zu haften, sondern der in der Erklärung verkörperte Wille zu ermitteln. Im Zweifel sind Prozesserklärungen dahin auszulegen, dass das gewollt ist, was aus der Sicht der Prozesspartei nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht. Dabei sind die schutzwürdigen Belange des Erklärungsadressaten zu berücksichtigen (BAG, v. 26.07.2012 -
6 AZR 221/11).
101
Insofern sind die Klageanträge im Sinne eines einheitlichen Klagebegehrens auszulegen und nicht so zu verstehen, dass der Kläger ggf. unzulässige Doppelanträge (§
261 Abs. 3 ZPO) stellen wollte.
102
b) Der Kläger hat seinen Leistungsantrag zu 3 und 4 auf mehrere prozessuale Ansprüche gestützt, nämlich einerseits auf §
83 Abs. 1 BetrVG und andererseits auf Art
15 Abs. 1 und 3 DSGVO. Insoweit liegen eigenständige Lebenssachverhalte vor, die den Vortrag eigenständiger Tatsachen erfordern, mithin unterschiedliche Streitgegenstände (vgl. zum Streitgegenstandsbegriff BAG, v. 02.08.2018 ‒
6 AZR 437/17 ‒ Rn. 20). Die Tatsache, dass die Ansprüche (wirtschaftlich) auf das Gleiche gerichtet sind und der Kläger die Leistung nur einmal verlangen kann, steht der Annahme unterschiedlicher Streitgegenstände nicht entgegen (vgl. LAG Hessen, v. 08.06.2018 ‒
14 Sa 522/17 ‒ Rn. 57).
103
Darin liegt hier aber keine unzulässige alternative Klagehäufung. Denn der Kläger hat klarstellend im Termin zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer vom 29. Juni 2021 für die geltend gemachten Streitgegenstände die erforderliche Rangfolge gebildet (ausführlich zu diesem Erfordernis vgl. BAG, v. 02.08.2018 ‒
6 AZR 437/17 ‒ Rn. 18). Er stützt sein Begehren - nunmehr - primär auf §
83 Abs. 1 BetrVG und hilfsweise auf Art
15 Abs. 1 und 3 DS-GVO.
104
c) Die Klageanträge sind zunächst im Hinblick auf das Klagebegehren nach §
83 Abs. 1 BetrVG hinreichend bestimmt i.S.d. §
253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
105
Auch der Informationsanspruch des Art.
15 Abs. 1 2. Halbs. DSGVO (als Hilfsantrag) ist hinreichend bestimmt iSd. §
253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, wenn der Antragsteller konkret mitteilt, welche Informationen er im Rahmen von lit. a bis h der Norm für welche Kategorie von personenbezogenen Daten begehrt (LAG Baden-Württemberg, v. 17.03.2021 ‒
21 Sa 43/20).
106
Dasselbe gilt für den Anspruch auf Zurverfügungstellung von Kopien personenbezogener Daten gem. §
15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO (LAG Baden-Württemberg, v. 17.03.2021 ‒
21 Sa 43/20. Lediglich ein Klageantrag unter bloßer Wiederholung des Wortlauts von Art.
15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO ist nicht hinreichend bestimmt iSv. §
253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, da er nicht erkennen lässt, von welchen personenbezogenen Daten eine Kopie verlangt wird, zumal dann, wenn streitig ist, welches die von der Beklagten verarbeiteten personenbezogenen Daten des Klägers sind (BAG v. 27.04.2021 ‒
2 AZR 342/20).
107
Diesem Bestimmtheitserfordernis genügen auch die (geänderten) Anträge zu 3. und 4. bei der gebotenen großzügigen Betrachtung noch.
108
d) Der Klage fehlt es auch nicht am Rechtsschutzbedürfnis.
109
Bei Leistungsklagen ergibt sich ein Rechtsschutzbedürfnis deshalb regelmäßig schon aus der Nichterfüllung des behaupteten materiellen Anspruchs. Es bedarf besonderer Gründe, die ausnahmsweise die Verneinung eines Rechtsschutzbedürfnisses rechtfertigen.
110
Insofern bestehen an der Zulässigkeit des Klageantrags nach §
83 Abs. 1 BetrVG keine Bedenken.
111
Der Kläger hat aus Sicht der erkennenden Kammer auch im Hinblick auf die hilfsweise geltend gemachten Anträge nach Art
15 Abs. 1 und 3 DS-GVO kein besonderes Rechtsschutzinteresse darzulegen. Alleinige Voraussetzung des Auskunfts-, Informations- und des Zurverfügungstellungsanspruchs gemäß Art.
15 Abs. 1 2. HS und Abs. 3 DSGVO ist die Verarbeitung personenbezogener Daten der die Ansprüche geltend machenden Person durch den Verantwortlichen im Sinne des Art.
4 Nrn. 1, 2 und 7 DSGVO. Insoweit genügt für das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses die Behauptung des Klägers, dass dies der Fall sei (Für Art
15 Abs. 1 und 3 DS-GVO: LAG Baden-Württemberg, v. 17.03.2021 ‒
21 Sa 43/20).
II.
112
1. Die fristlose Kündigung vom 19. Januar 2019 ist wirksam, die Klage insofern unbegründet.
113
In der Veröffentlichung weiter Teile der Prozessakte in der Betriebsöffentlichkeit durch den Kläger am 20. Dezember 2018 sieht die Kammer unter verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten einen wichtigen Grund an sich i.S.d. §§
626 Abs. 1 BGB,
15 KSchG,
103 Abs. 1 BetrVG (dazu näher unter 1. b)). Dieser Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten war aus Sicht der Kammer auch schuldhaft (1. c)).
114
Eine (erneute) vorherige Abmahnung war vor Ausspruch der Kündigung nicht erforderlich, nachdem der Kläger jedenfalls durch die ‒ mangels vorheriger Abmahnung ‒ unwirksame fristlose Kündigung vom 13. Februar 2018 hinreichend gewarnt war (dazu näher 1. d)). Die Interessenabwägung im Rahmen des §
626 Abs. 1 BGB fiel im Ergebnis zu Lasten des Klägers aus (näher 1. e)). Die Kündigung ist nicht wegen Verstoßes gegen §
103 BetrVG iVm §
102 BetrVG unwirksam (1. f)) Die Kündigungserklärungsfrist nach §
626 Abs. 2 BGB wurde gewahrt (dazu 1. g).
115
a) Der Kläger hat gegen die auf den 18. Januar 2019 datierte Kündigung rechtzeitig binnen drei Wochen nach Zugang derselben am 5. Februar 2019 Klage erhoben. Diese wurde der Beklagten am 15. Februar 2019 zugestellt. Damit hat der Kläger die vorgesehene Frist zur Klageerhebung gewahrt, §§
4 Satz 1 KSchG,
167 ZPO. Die fristlose Kündigung gilt in der Folge nicht bereits nach Maßgabe von §§
7,
13 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. §
4 Satz 1 KSchG als von Anfang an rechtswirksam.
116
b) Gegenüber den geschützten Funktionsträgern - wie es hier der Kläger gemäß §
15 Abs. 1 S. 1 KSchG nach Wiederwahl in den Betriebsrat ist - sind außerordentliche Kündigungen unter der Voraussetzung zulässig, dass ein wichtiger Grund für eine Kündigung ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist vorliegt und nachdem der Betriebsrat nach §§
15 Abs. 1 KSchG,
103 Abs. 1 BetrVG der Kündigung zugestimmt hat oder die Zustimmung durch das Arbeitsgericht ersetzt ist. Die außerordentliche Kündigung erfordert insbesondere einen wichtigen Grund im Sinne von §
626 Abs. 1 BGB. Dafür gelten grundsätzlich dieselben Regeln wie für die außerordentliche Kündigung gegenüber jedem anderen Arbeitnehmer, da Amts- und Mandatsträger durch ihre besondere Stellung weder bevorzugt noch benachteiligt werden dürfen; zugleich ist jedoch bei der Prüfung des wichtigen Grundes den Besonderheiten des §
15 Abs. 1 KSchG Rechnung zu tragen. Bei der Beurteilung der außerordentlichen Kündigung von Arbeitnehmern, die nicht den besonderen Schutz von Funktionsträgern genießen, ist gemäß §
626 Abs. 1 BGB zu prüfen, ob Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu dessen vereinbarter Beendigung nicht zugemutet werden kann. Dafür kommt es darauf an, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich", d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht. Dieser Abwägungszeitraum in §
626 Abs. 1 BGB ist bei der fristlosen Kündigung von Funktionsträgern nicht ohne weiteres anwendbar, weil ihnen nicht ordentlich gekündigt werden kann. Nach der Rspr. ist aber bei der Zumutbarkeitsprüfung fiktiv die Kündigungsfrist zugrunde zu legen, die gelten würde, wenn dem Funktionsträger ordentlich gekündigt werden könnte (BAG, v. 27. 9. 2001 -
2 AZR 487/00).
117
aa) Dabei stellen zunächst die Verstöße des Klägers gegen die Bestimmungen der Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) einen wichtigen Grund an sich i.S.d. §
626 Abs. 1 BGB dar.
118
(1) Rechtswidrige Datenverarbeitungen des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis, die mit Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts etwa von Arbeitskollegen einhergehen, können dazu geeignet sein, bei entsprechender Schwere des Verstoßes „an sich“ einen wichtigen Grund für den Ausspruch einer Kündigung auszumachen, auch wenn die in Rede stehenden Daten nicht dem Schutzbereich des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen unterliegen (jüngst ArbG Aachen, Urt. v. 22.4.2021 ‒
8 Ca 3432/20,
NZA-RR 2021, 366; vgl. auch LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16.5.2017 ‒
7 Sa 38/17). Schuldhafte Verstöße gegen den allgemeinen oder besonderen Datenschutz sind insoweit wie schuldhafte Verletzungen der Verschwiegenheitspflicht zu bewerten (ErfK/Niemann, 21. Auflage 2021, §
626 BGB Rn. 154d; insoweit im Schwerpunkt zum Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht BAG v. 8.5.2014 ‒
2 AZR 249/13,
NZA 2014, 1258).
119
(2) Unter Anwendung dieser Grundsätze gilt Folgendes:
120
Mit der Veröffentlichung weiter Teile der Prozessakten hat der Kläger gegen die Bestimmungen des Datenschutzrechts verstoßen. Die DS-GVO ist auf die veröffentlichten Prozessakten anwendbar, denn sie enthalten personenbezogene Daten gem. Art.
4 Nr. 1 DS-GVO, d.h. Informationen über identifizierte natürliche Personen, insbesondere Angaben über die psychischen Beeinträchtigungen von Frau B. und Herrn A.. Soweit in den Prozessakten Gesundheitsdaten (Arbeitsunfähigkeit, psychische Beeinträchtigung) enthalten sind, handelt es sich zudem um besonders schutzwürdige sensible Daten (Art.
9 Abs. 1 DS-GVO).
121
Der Kläger kann sich ‒ entgegen seiner Rechtsauffassung ‒ auch nicht auf die Bereichsausnahme des Art
2 Abs. 2 (c) DS-GVO berufen, wonach die Verarbeitung personenbezogener Daten durch natürliche Personen zur Ausübung „ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten“ nicht dem Anwendungsbereich der DS-GVO unterliegt.
122
Als Ausnahmenorm ist Art
2 Abs. 2 (c) DS-GVO grundsätzlich restriktiv auszulegen. Eine persönliche oder familiäre Tätigkeit ist „öffentlichkeitsfeindlich“ (Ernst, in: Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 3. Auflage 2021, Art
2 DS-GVO, Rz 21; Gola, in: Gola, Datenschutz-Grundverordnung 2. Auflage 2018, Art
2 DS-GVO, Rz 25).
123
Insofern handelte es sich bei der Veröffentlichung der Prozessakten ‒ schon mit Blick auf den Verteilerkreis der E-Mail vom 20. Dezember 2018 ‒ nicht um eine ausschließlich persönliche oder familiäre Tätigkeit. Der Kläger räumt selbst ein, er habe seine „Wähler“ informieren wollen. Ein Bezug zur beruflichen oder wirtschaftlichen Tätigkeit schließt die Anwendung der Ausnahme des Art.
2 Abs. 2 (c) DS-GVO jedoch aus (ErwG 18 DS-GVO). Innerhalb eines Betriebs ist zudem davon auszugehen, dass sich solche Informationen schnell und unkontrolliert verbreiten, wenn sie erst einmal einer Reihe an Personen ohne weitere Sicherungsmaßnahmen und insbesondere verbunden mit dem Aufruf zur Weiterleitung bekanntgegeben werden. Bei einer Verbreitung an einen unbestimmten Personenkreis findet die Ausnahme des Art.
2 Abs. 2 (c) DS-GVO von vornherein keine Anwendung.
124
(a) Indem der Kläger unstreitig den Dropbox-Link der Betriebsöffentlichkeit zur Verfügung stellte, verarbeitete er entsprechende Daten im Sinne von Art.
4 Nr. 2 DS-GVO.
125
(b) Die Verarbeitung der personenbezogenen Daten durch den Kläger als Verantwortlichen gemäß Art.
4 Nr. 7 DS-GVO war aus Sicht der Kammer auch rechtswidrig.
126
Die datenschutzrechtlichen Pflichten trafen den Kläger als Verantwortlichen persönlich, da er nicht für den Betriebsrat oder gar die Beklagte handelte. Das Kündigungsschutzverfahren, das Gegenstand der Prozessakten war, betraf den Kläger persönlich. Die Kammer folgt auch insoweit dem Einwand der Beklagten, dass es nicht nachvollziehbar ist, wie der Kläger zwischen der Veröffentlichung der Akten und seiner Betriebsratstätigkeit einen Bezug herstellen will.
127
Als Verantwortlicher verstieß der Kläger durch die Verarbeitung der Daten gegen die Pflicht zur rechtmäßigen Verarbeitung (Art.
5 Abs. 1 (a),
6 Abs. 1,
9 Abs. 1 DS-GVO). Die Verarbeitung ließ sich nicht auf eine Rechtgrundlage stützen und war aus Sicht der Kammer insbesondere nicht für einen legitimen Zweck erforderlich.
128
Die Art der Verarbeitung der personenbezogenen Daten, u.a. von Frau B. und Herrn A., ist für eine Verfolgung berechtigter Interessen (z.B. Protest/Meinungsäußerung nach Art
5 GG in Form einer „Gegendarstellung“, Führung des Kündigungsschutzverfahrens) nicht erforderlich (Art.
5 Abs. 1 (c) DS-GVO, Art.
6 Abs. 1 (b), (f) DS-GVO).
129
Für diese Zwecke kommt es auf die Identität dritter Personen nicht an. Hinzukommt, dass die betriebsweite Veröffentlichung dieser Daten für diese Zwecke schon gar nicht erforderlich war. Insbesondere die Mutmaßung des Klägers, man könne nie wissen, was sich durch eine weitere Verbreitung von Verfahrensinhalten ergibt, steht im direkten Widerspruch zu den Verarbeitungsprinzipien der Zweckbindung und Datenminimierung (Art.
5 Abs. 1 (b), (c) DS-GVO).
130
Dem Kläger hätte mit Blick auf den (scheinbar verfolgten) Zweck einer Gegendarstellung/Verteidigung auch ein milderes Mittel zur Verfügung gestanden, z.B. die geschwärzte oder nur auszugsweise Veröffentlichung von relevanten Passagen einzelner Schriftsätze. Die unkommentierte und ungeschwärzte Veröffentlichung weiter Teile der Prozessakten erscheint für die genannten Zwecke des Klägers schon nicht erforderlich.
131
Das Vorgehen des Klägers ist aus Sicht der Kammer auch nicht unter dem Gesichtspunkt erforderlich, dass der Kläger im Verfahren mehrfach betont hat, sich insbesondere gegen den aus seiner Sicht haltlosen Vorwurf der (sexuellen) Belästigung im Hinblick auf den Vorfall vor der Damenumkleide am 1. Februar 2018 erwehren zu müssen.
132
Die Kammer verkennt dabei nicht, dass ein solcher (unberechtigter) Vorwurf einen Familienvater und Betriebsratsmitglied schwer treffen und psychisch belasten kann. Die Kammer hat dabei bei der Prüfung zu Gunsten des Klägers unterstellt, dass diese Vorwürfe tatsächlich nicht zutreffen.
133
Selbst wenn dieser Vorwurf in der Sache nach unzutreffend gewesen sein sollte, trifft es aus Sicht der Kammer allerdings ebenfalls nicht zu, dass Herr A. bzw. die Beklagte den Kläger bzgl. dieses Vorwurfs „an den Pranger“ gestellt haben. Die Beklagte hatte schriftsätzlich über ihre Prozessbevollmächtigten im vorangegangenen Kündigungsschutzverfahren (Az.
14 Ca 1054/18) lediglich vortragen lassen, dass Herr A. den Vorfall vor der Damenumkleide gemeinsam mit den Zeuginnen Frau F., Frau G., Frau E. und Herrn L. am 1. Februar 2018 an Frau B. meldete (Schriftsatz vom 19. März 2018 im Verfahren
14 Ca 1054/18, S. 7; Anlagenkonvolut B 1) und die Arbeitnehmerinnen schilderten, sich durch die Anwesenheit des Klägers vor der Damenumkleide belästigt „gefühlt“ zu haben.
134
Auch wenn die Datenverarbeitung erforderlich gewesen wäre, würden jedoch die Vertraulichkeitsinteressen der anderen, ohne Schuld mit hineingezogenen Mitarbeiter allerdings überwiegen (Art.
6 Abs. 1 (f) DS-GVO). Der Kläger hat bis heute nicht darlegen können, warum eine namentliche Nennung, insbesondere von Frau B. und Herrn A., erforderlich gewesen sein sollte.
135
Das gilt erst Recht, da die Prozessakten auch Gesundheitsdaten enthielten. Denn insoweit konnte sich der Kläger nur auf die Geltendmachung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen als Rechtsgrundlage berufen (Art.
9 Abs. 2 (f) DS-GVO). Der Kläger kann jedoch weder darlegen, welche Rechtsansprüche er mit der Veröffentlichung geltend machen wollte, noch warum dazu eine betriebsweite Veröffentlichung der Gesundheitsdaten anderer Mitarbeiter erforderlich gewesen sein sollte.
136
Als Verantwortlicher verstieß der Kläger zudem gegen die Pflicht, die betroffenen Personen von der Verarbeitung derer personenbezogenen Daten zu informieren (Art.
14 DS-GVO).
137
(c) Die unstreitig nach wenigen Stunden erfolgte Sperrung der Dropbox durch den Kläger lässt den oben genannten Datenschutzverstoß aus Sicht der Kammer nicht entfallen. Die spätere Sperrung der Dropbox ist ‒ auch insofern folgt die Kammer der Einschätzung der Beklagten ‒ allenfalls eine „Schadensbegrenzung“. Der Kläger hatte zu diesem Zeitpunkt keinen Einfluss und keine Kontrolle mehr über die Weiterverbreitung der Daten.
138
(d) Der Datenschutzverstoß entfällt auch nicht deshalb, weil die „Daten“ ‒ wie vom Kläger behauptet - ohnehin bereits (betriebs-)öffentlich waren. Aus Sicht der Kammer gilt es zunächst zwischen den Begriffen der „Gerichtsöffentlichkeit“, „Betriebsöffentlichkeit“ und der „breiten Öffentlichkeit“ zu differenzieren. Die Gerichtsöffentlichkeit ist keinesfalls ‒ auch nicht bei öffentlichen Gerichtsverhandlungen mit 50 ‒ 80 Zuschauern ‒ mit dem Begriff der Betriebsöffentlichkeit gleichzusetzen.
139
Zwar sind Gerichtsverfahren in Deutschland üblicherweise gerichtsöffentlich (§
169 GVG). Der (verschriftlichte) Inhalt der Prozessakten ist allerdings ‒ wie sich schon aus §
299 Abs. 1 ZPO ergibt ‒ keinesfalls (gerichts)öffentlich.
140
Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers unterstellt, dass bzgl. der Zeugen im Vorprozess, Frau B. und Herrn A., deren Namen und ggf. nähere Details zu den oben genannten personenbezogenen Daten bzw. Gesundheitsdaten im Rahmen der Gerichtsöffentlichkeit ausführlich erwähnt bzw. diskutiert wurden - was in den näheren Einzelheiten zwischen den Parteien streitig sein mag -, waren diese Daten keinesfalls betriebsöffentlich oder gar öffentlich bekannt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Medienberichterstattung oder den Pressemitteilungen des Landesarbeitsgerichts bzw. des Arbeitsgerichts Stuttgart. Denn hier wurden die Namen stets nur in anonymisierter Form in Bezug genommen. Der Kläger hat - aus Sicht der Kammer unzutreffenderweise - im Verfahren durchgängig den Begriff der Betriebsöffentlichkeit/Öffentlichkeit mit einem (breit verstandenen) Begriff der Gerichtsöffentlichkeit gleichzusetzen versucht.
141
Der Beklagten ist auch darin zu folgen, dass erst Recht diejenigen Mitarbeiter, die zwar in den Schriftsätzen als Zeugen benannt waren, aber in der Verhandlung am 14. Dezember 2018 nicht gehört wurden (insbesondere Frau F., Frau G., Frau E. und Herrn L.), erst durch die Veröffentlichung der Prozessakten durch den Kläger in die Betriebsöffentlichkeit gezogen wurden.
142
Zwar hat der Kläger bestritten, dass diese Namen erst durch die Veröffentlichung der Gerichtsakten in die Betriebsöffentlichkeit gezogen wurden. Der Kläger verkennt hierbei allerdings die Grundsätze der (sekundären) Darlegungs- und Beweislast.
143
Spricht der Arbeitgeber eine außerordentliche Kündigung aus, so ist er für alle Umstände des wichtigen Grundes darlegungs- und beweisbelastet. Den Kündigenden trifft die Darlegungs- und Beweislast auch für diejenigen Tatsachen, die einen vom Gekündigten behaupteten Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund ausschließen Der Kündigende braucht aber nicht von vornherein alle nur denkbaren Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe zu widerlegen. Der Gekündigte ist vielmehr nach §
138 Abs. 2 ZPO gehalten, substantiiert zu bestreiten. Den Arbeitnehmer kann zudem schon auf der Tatbestandsebene des wichtigen Grundes eine sekundäre Darlegungslast treffen. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Arbeitgeber als primär darlegungsbelastete Partei außerhalb des fraglichen Geschehensablaufs steht, während der Arbeitnehmer aufgrund seiner Sachnähe die wesentlichen Tatsachen kennt. In einer solchen Situation kann der Arbeitnehmer gehalten sein, dem Arbeitgeber durch nähere Angaben weiteren Sachvortrag zu ermöglichen. Kommt er in einer solchen Prozesslage seiner sekundären Darlegungslast nicht nach, gilt das tatsächliche Vorbringen des Arbeitgebers - soweit es nicht völlig „aus der Luft gegriffen“ ist - iSv. §
138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Dabei dürfen an die sekundäre Behauptungslast des Arbeitnehmers keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Sie dient lediglich dazu, es dem kündigenden Arbeitgeber als primär darlegungs- und beweispflichtiger Partei zu ermöglichen, weitere Nachforschungen anzustellen und sodann substantiiert zum Kündigungsgrund vorzutragen und ggf. Beweis anzutreten (st. Rspr: BAG, v. 17.03.2016 -
2 AZR 110/15; LAG Baden-Württemberg, v. 17.09.2020 ‒
17 Sa 8/20).
144
Aus Sicht der Kammer genügt der reichlich pauschale Vortrag des Klägers, er habe nach dem Vorfall in der Damenumkleide am 9. Februar 2018 aktiv nach Entlastungszeuginnen gesucht und Mitarbeiterinnen in der Kantine angesprochen, was wiederum „weitere Mitarbeiter“ mitbekommen haben, so dass zu diesem Zeitpunkt betriebsintern „schon nichts mehr geheim gewesen sei“, nach diesen Maßstäben nicht. Insofern gilt der Vortrag der Beklagten als zugestanden iSv §
138 Abs. 3 ZPO.
145
(e) Der Verstoß des Klägers gegen das Datenschutzrecht wiegt besonders schwer, da er auf die Bedeutung datenschutzrechtlicher Pflichten besonders hingewiesen wurde und sich auf ihre Einhaltung gesondert verpflichtet hat, was sich aus der vorgelegten Anlage B 19 für die Kammer zweifelsfrei ergibt.
146
bb) Auch der Verstoß gegen §
241 Abs. 2 BGB unter dem Gesichtspunkt der (ungerechtfertigten) Verletzung der allgemeinen Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer Frau B., Herrn A. bzw. der Arbeitnehmer Frau F., Frau G., Frau E. und Herrn L. stellt einen wichtigen Grund an Sich gemäß §
626 Abs. 1 BGB dar.
147
(1) Gemäß §
241 Abs. 2 BGB obliegt es dem Arbeitnehmer als vertragliche Nebenpflicht die Rechtsgüter anderer Arbeitnehmer nicht zu schädigen, insbesondere deren allgemeines Persönlichkeitsrecht nicht zu verletzen, und den Betriebsfrieden zu wahren.
148
(2) Indem der Kläger weite Teile der Prozessakten „ungeschwärzt“ unter voller Namensnennung durch Übersendung des Dropbox-Links veröffentlich hat, hat der Kläger aus Sicht der Kammer in erheblichem Maße ‒ neben den Datenschutzverstößen ‒ auch gegen die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Arbeitnehmer verstoßen.
149
(a) Mit der Veröffentlichung der Daten hat der Kläger das allgemeine Persönlichkeitsrecht der namentlich genannten Mitarbeiter erheblich beeinträchtigt. Dass Frau B. sich durch das Verhalten des Klägers derart beeinträchtigt fühlte, dass sie eine psychologische Beratung in Anspruch nahm und mehrere Tage arbeitsunfähig erkrankt war, ist eine intime, besonders sensible Information. Gleiches gilt für die schriftsätzlich geschilderten psychischen Reaktionen von Herrn A. auf die Verhaltensweisen des Klägers, aber auch aller weiteren betroffenen Mitarbeiter. Bekanntermaßen ist es Opfern von Straftaten, aber auch generell von Drohungen oder Herabwürdigungen, oftmals sehr unangenehm, wenn ihre Opferrolle thematisiert wird, weil damit ihre eigene Verletzlichkeit offenbart wird. Dass sich objektiv niemand dafür schämen muss, Opfer einer Straftat, einer Drohung oder einer Herabwürdigung gewesen zu sein, ändert daran nichts. Wenn nun die Opferrolle und das damit verbundene Leid in der Öffentlichkeit verbreitet und thematisiert wird, stellt dies einen erneuten Angriff auf das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dar, mit der die ursprünglichen Angriffe nochmals verschlimmert werden.
150
Dass aus Sicht der Kammer diese Informationen nicht ohnehin bereits der Betriebsöffentlichkeit bekannt waren, wurde oben dargestellt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierauf verwiesen.
151
(b) Der Kläger handelte dabei ‒ wie oben bereits im Zusammenhang mit den Datenschutzverstößen näher dargestellt ‒ aus Sicht der Kammer auch nicht im berechtigten Eigeninteresse. Selbst wenn man mit Blick auf das Grundrecht des Klägers nach Art
5 Abs. 1 GG ein Recht auf „Gegendarstellung“ in der Prozesssituation im Dezember 2018 - insbesondere vor dem Hintergrund des Vorwurfs der (sexuellen) Belästigung - annehmen wollte, wäre zu beachten, dass das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach Art
5 Abs. 2 GG nicht schrankenlos gewährleistet ist, sondern seine Grenzen in den „allgemeinen Gesetzen“ findet. Hierzu gehört nach ständiger Rspr. des Bundesarbeitsgerichts auch §
241 Abs. 2 BGB. Zwischen der Meinungsfreiheit und dem beschränkenden Gesetz findet demnach eine Wechselwirkung statt. Die Reichweite der Pflicht zur vertraglichen Rücksichtnahme muss ihrerseits unter Beachtung der Bedeutung des Grundrechts bestimmt, der Meinungsfreiheit muss dabei also die ihr gebührende Beachtung geschenkt werden ‒ und umgekehrt (BAG, v. 5.12.2019 ‒
2 AZR 240/19,
NZA 2020, 646 Rz 95).
152
Die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Arbeitnehmer überwiegen aus Sicht der Kammer in der vorliegenden Konstellation. Zur Verteidigung gegen die nach Auffassung des Klägers ungerechtfertigte erste Kündigung war die Veröffentlichung der Schriftsätze in der Betriebsöffentlichkeit nicht notwendig. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Der Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte wurde auch die nachträgliche Sperrung des Dropbox-Links nicht beseitigt. Auch insofern wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen.
153
cc) Schließlich hat der Kläger auch in erheblichem Maße gegen seine Pflicht zur Wahrung des Betriebsfriedens nach §
241 Abs. 2 BGB verstoßen.
154
(1) Der Arbeitnehmer ist gem. §
241 Abs. 2 BGB verpflichtet, Störungen des Betriebsfriedens oder Betriebsablaufs zu vermeiden. Wird der Betriebsfrieden durch Handlungen gestört, die das friedliche Zusammenarbeiten der Arbeitnehmer untereinander und mit dem Arbeitgeber erschüttern oder nachhaltig beeinträchtigen und nachteilige betriebliche Auswirkungen haben, kann dies eine Kündigung rechtfertigen (APS/Vossen, Kündigungsrecht, 6. Auflage 2021, §
1 KSchG Rn. 299 m.w.N; zur außerordentlichen Kündigung vgl. BAG v. 1.6.2017,
6 AZR 720/15,
NZA 2017, 1332). Erforderlich ist allerdings, dass der Arbeitnehmer nachhaltig und konkret das Zusammenleben und Zusammenwirken der im Betrieb Tätigen in einer Weise beeinträchtigt hat, die es dem Arbeitgeber, der gemeinsam mit dem Betriebsrat für eine friedliche Zusammenarbeit der Mitarbeiter verantwortlich ist, unmöglich macht, das Arbeitsverhältnis mit dem störenden Arbeitnehmer fortzusetzen (APS/Vossen, aaO m.w.N.).
155
(2) Gemessen an diesen Grundsätzen liegt auch unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt ein wichtiger Grund an sich. Dabei konnte aus Sicht der Kammer offen bleiben, ob bereits allein in dem Umstand, dass der Kläger vorliegend ‒ entgegen der rechtlichen Wertung in §
299 Abs. 2 ZPO ‒ die Prozessakte betriebsöffentlich machte, eine Störung des Betriebsfriedens darin zu erblicken ist, dass nach einer solchen Veröffentlichung bei einem von (scheinbar) mehr als tausend Arbeitnehmern am Standort F. wiedergewählten Betriebsratsmitglied die Beklagte gehalten wäre, den Rechtsstreit gewissermaßen an „zwei Fronten“ auszufechten (einerseits im Rahmen des rechtsstaatlichen Verfahrens im Gerichtssaal, anderseits durch einen gewissen Rechtfertigungsdruck etc. in der Betriebsöffentlichkeit). Jedenfalls hat der Kläger den Betriebsfrieden ganz konkret dadurch gestört, dass er die benannten Kollegen in die Betriebsöffentlichkeit gezogen, deren Persönlichkeitsrechte verletzt und überdies gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen verstoßen hat.
156
c) Der Kläger handelte im Rahmen der unter aa) ‒ cc) dargestellten Pflichtenverstöße auch schuldhaft.
157
aa) Ein Pflichtverstoß des Arbeitnehmers kann regelmäßig nur dann eine außerordentliche oder ordentliche Kündigung begründen, wenn er schuldhaft erfolgt. Der wichtige Grund i.S.d. §
626 BGB muss zwar nicht zwingend auf einem schuldhaften Verhalten beruhen. Bei der verhaltensbedingten Arbeitgeberkündigung können schuldlose Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers nur ausnahmsweise einen wichtigen Grund darstellen (MünchKommBGB/Henssler, 8. Auflage 2020, §
626 BGB Rn 113 ff. m.w.N. zur Rspr.; vgl. auch Kliemt/Vollstädt, NZA 2003, 357, 361). Der Schuldvorwurf ist bei vorsätzlichem und fahrlässigem Handeln gerechtfertigt (§
276Abs 1 Satz BGB). Vor dem Hintergrund der im Zivilrecht herrschenden Vorsatztheorie schließt der Rechtsirrtum vorsätzliches Handeln aus. Es fehlt das Bewusstsein, gegen eine bestehende Verhaltensnorm zu verstoßen. Der Fahrlässigkeitsvorwurf indes bleibt bei einem Rechtsirrtum grundsätzlich bestehen. Die eigenen Rechtsüberzeugungen können einen objektiven Pflichtverstoß nicht entschuldigen (Kliemt/Vollstädt, aaO).
158
An einen unvermeidbaren Rechtsirrtum sind strenge Anforderungen zu stellen. Der Geltungsanspruch des Rechts erfordert im Grundsatz, dass der Schuldner das Risiko eines Rechtsirrtums selbst trägt und es nicht dem Gläubiger überbürden kann. Beruht die Ungewissheit über die Schuld auf rechtlichen Zweifeln des Schuldners (sog Rechtsirrtum), ist dieser entschuldbar, wenn die Rechtslage objektiv zweifelhaft ist und der Schuldner sie sorgfältig geprüft hat. Es müssen gewichtige Anhaltspunkte für die Richtigkeit der vertretenen Rechtsmeinung sprechen (BAG, v. 19.8.2015 ‒
5 AZR 975/13 Rz 31.).
159
Da der Kündigende zumeist nicht wissen kann, ob der Gekündigte seiner Erkundigungs- und Prüfungspflicht nachgekommen ist, muss der Gekündigte die dafür maßgebenden Tatsachen in den Prozess einführen. Der Arbeitnehmer hat insofern die Darlegungs- und Beweislast.
160
bb) Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Kläger seiner Darlegungs- und Beweislast für einen unvermeidbaren Rechtsirrtum nicht einmal im Ansatz nachgekommen. Die bloße Behauptung, der Kläger hatte kein Unrechtsbewusstsein und musste dies auch nicht haben, genügt offensichtlich nicht. Selbst wenn man Anhaltspunkte für einen solchen Rechtsirrtum in der Anlage B14 (Bl. d.A.) erkennen wollte, wobei sich der Kläger hierauf nicht einmal explizit bezieht, erscheint aus Sicht der Kammer mehr als zweifelhaft, ob die Voraussetzungen für einen Rechtsirrtum überhaupt vorliegen. Im Hinblick auf die ungeschwärzte Veröffentlichung der nahezu vollständigen Prozessakte ist die Rechtslage, insbesondere unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten, keinesfalls „objektiv zweifelhaft“.
161
d) Aus Sicht der Kammer konnte im Ergebnis offenbleiben, ob die unter aa) ‒ cc) dargestellten Verstöße bereits isoliert betrachtet so schwerwiegend sind, dass sie ohne Abmahnung die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen vermögen. Diese Pflichtenverstöße rechtfertigen jedenfalls in Zusammenschau mit den Pflichtverstößen des Klägers, die der fristlosen Kündigung vom 13. Februar 2018 zugrunde lagen, die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
162
aa) Eine frühere, unwirksame Kündigung erfüllt die Funktion einer Abmahnung jedenfalls dann, wenn der Kündigungssachverhalt feststeht und die Kündigung aus anderen Gründen ‒ zB wegen fehlender Abmahnung ‒ für unwirksam erachtet worden ist (bereits BAG, v. 31.08.1989 -
2 AZR 13/89,
NZA 1990, 433; 434; LAG Baden-Württemberg v. 01.10.2020 ‒
17 Sa 1/20 Rz 43; Zustimmend auch ErfK/Niemann, 21. Auflage 2021, §
626 BGB Rn. 32).
163
Sowohl das Arbeitsgericht Stuttgart als auch das LAG Baden-Württemberg haben in dem Verhalten des Klägers am 8. Februar 2018 eine schwere Pflichtverletzung gesehen. Das LAG hatte jedoch in seinem Urteil vom 21. Januar 2021 (
8 Sa 30/19) die Wirksamkeit der Kündigung (lediglich) unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten (Erfordernis der vorherigen Abmahnung) verneint.
164
An die dort getroffenen Feststellungen zur Pflichtverletzung des Klägers ist die hiesige Kammer auch im vorliegenden Rechtsstreit aufgrund der Rechtskraft des Urteils des LAG Baden-Württemberg gebunden. Präjudizielle Rechtsverhältnisse und Vorfragen werden zwar nur dann iSv. §
322 ZPO rechtskräftig festgestellt, wenn sie selbst Streitgegenstand waren. Es genügt nicht, dass über sie als bloße Vorfragen zu entscheiden war. Streitgegenstand einer Kündigungsschutzklage nach §
4 Satz 1 KSchG ist, ob ein Arbeitsverhältnis durch eine bestimmte Kündigung aufgelöst worden ist (sog. punktuelle Streitgegenstandslehre). Einzelne Begründungselemente nehmen grundsätzlich nicht an der materiellen Rechtskraft teil. Bei der Würdigung, ein bestimmter Lebenssachverhalt könne eine Kündigung materiell (nicht) begründen, handelt es sich aber nicht bloß um ein Element der Begründung für die Feststellung, dass die Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst hat. Diese Würdigung nimmt vielmehr selbst an der Rechtskraftwirkung der Entscheidung teil (BAG, v. 20.12.2012 -
2 AZR 867/11).
165
bb) Bei der dort festgestellten Pflichtverletzung handelt es sich im Ergebnis auch um einen gleichartigen Pflichtenverstoß und damit um eine „einschlägige“ Abmahnung (in Form der unwirksamen fristlosen Kündigung).
166
Soweit aus Gründen der Verhältnismäßigkeit der Kündigung eine Abmahnung voranzugehen hat, müssen die Vertragsverletzungen gleichartig sein. Es reicht aus, dass die jeweiligen Pflichtwidrigkeiten aus demselben Bereich stammen und somit gegebene Abmahnungs- und potenzielle Kündigungsgründe in einem inneren Zusammenhang stehen (BAG, v. 19. 4. 2012 −
2 AZR 258/11 Rz 19). Bei der Beurteilung, ob ein einschlägiges abgemahntes Fehlverhalten gegeben ist, darf kein strenger formaler Maßstab gelten. Eine Zusammenfassung unter einem einheitlichen Kriterium im Sinne materieller Vergleichbarkeit reicht vielmehr aus (so auch LAG Berlin-Brandenburg, v. 3. 3. 2011 ‒
25 Sa 2641/10,
NZA-RR 2011, 522, 526).
167
Legt man diese Grundsätze zugrunde, ist mit der Beklagten eine Gleichartigkeit der Pflichtverletzungen zu konstatieren. Zwar handelt es sich auf dem ersten Blick bei dem Vorwurf der Bedrohung von Frau B. und Herrn A. einerseits und der unbefugten Veröffentlichung weiter Teile der Prozessakte in der Betriebsöffentlichkeit anderseits um scheinbar völlig unterschiedliche Vorwürfe. Bei genauer Betrachtung besteht allerdings jedenfalls im Hinblick auf den Vorwurf der massiven Störung des Betriebsfriedens und der Verletzung der Persönlichkeitsrechte der beiden genannten Arbeitnehmer ein innerer sachlicher Zusammenhang, der durch die gleiche „Stoßrichtung“ der Pflichtverletzungen (Schädigung der Rechtsgüter von Frau B. und Herrn A.) hergestellt wird. Dass der Kläger durch die Veröffentlichung der Prozessakte darüber hinaus auch Persönlichkeitsrechte weiterer Arbeitnehmer tangiert hat und massiv gegen Datenschutzrecht verstoßen hat, kann ihm selbstredend nicht zum Vorteil gereichen.
168
e) Schließlich fällt aus Sicht der Kammer auch die im Rahmen des §
626 Abs. 1 BGB stets gebotene Interessenabwägung zu Lasten des Klägers aus.
169
Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ist der Beklagten unzumutbar. Dies gilt selbst (bei unterstellter Zulässigkeit der ordentlichen Kündigung) bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist, die gemäß den tariflichen Vorschriften sechs Monaten zum Quartalsende betragen würde, hier 30. September 2019.
170
Für ein hohes Bestandschutzinteresse des Klägers sprechen sein Lebensalter, seine Unterhaltspflichten und die sehr lange Beschäftigungsdauer. Zudem würde der Betrieb durch seine Kündigung einen gewählten Amtsträger verlieren. Auch hat die Kammer insbesondere zu Gunsten des Klägers im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt, dass es dem Kläger aufgrund des Gesamtsachverhalts ‒ wie von ihm sowohl im Gütetermin als auch im Kammertermin dargestellt ‒ praktisch unmöglich gemacht wird, wieder eine vergleichbare Position zu finden. Zu Gunsten des Klägers mag man schließlich berücksichtigen, dass er aufgrund fehlenden „Unrechtsbewusstseins“ ‒ auch wenn dies aus oben dargelegten Gründen keinesfalls die Schwelle eines (unvermeidbaren) Rechtsirrtums erreicht ‒ nicht vorsätzlich gegen Datenschutzrecht oder Persönlichkeitsrechte verstoßen wollte und im Kammertermin die Vorfälle ernsthaft bedauerte.
171
Zu Lasten des Klägers ist zu berücksichtigen, dass der Kläger ‒ trotz einschlägiger Warnung ‒ unter mehreren rechtlichen Gesichtspunkten gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten wiederholt verstoßen und die Rechtsgüter der benannten Arbeitnehmer erneut geschädigt hat. Dabei sprach zu Gunsten des Klägers nicht der Umstand, dass der Dropbox Link noch am selben Tag deaktiviert wurde. Denn der Schaden in Form der Beeinträchtigung der Rechtsgüter war zu diesem Zeitpunkt bereits irreversibel eingetreten, das „Nachtat“-Verhalten des Klägers diente allenfalls der Schadenseingrenzung. Die Kammer ist auch davon überzeugt, dass der Kläger die Beklagte mit der E-Mail vom 20. Dezember 2018 vor „vollendete Tatsachen“ stellen wollte: Dies zeigt sich eindrucksvoll daran, dass er die E-Mail vom 20. Dezember 2018 mit dem Link zwar einerseits an einen beschränkten Adressatenkreis (Betriebsratsvorsitzender, Führungskräfte des Personalbereichs, Rechtsanwalt) schickte, zugleich aber diese E-Mail bereits an einen weiteren Adressatenkreis versandte (den er auch auf zweimalige Nachfrage bis heute nicht identifizierte).
172
f) Der Betriebsrat wurde zur fristlosen Kündigung ordnungsgemäß angehört.
173
Der Arbeitgeber ist im Rahmen der Beantragung der Zustimmung nach §
103 BetrVG verpflichtet, dem Betriebsrat die Gründe für die außerordentliche Kündigung mitzuteilen. Hinsichtlich der Art und des Umfangs der Informationen gelten hierbei dieselben Grundsätze wie zur Anhörung nach §
102 Abs. 1 BetrVG (BAG , v. 23.04.2008 -
2 ABR 71/07).
174
aa) Der Arbeitgeber muss dem Betriebsrat die Gründe mitteilen, die für seinen Kündigungsentschluss maßgebend sind. Er muss unter vollständiger Darlegung des Kündigungssachverhalts alle Gesichtspunkte nennen, die ihn zu der Kündigung veranlassen. Dazu muss er in der Regel alle Tatsachen angeben, aus denen der Kündigungsentschluss hergeleitet wird, so dass der Betriebsrat ohne zusätzlich eigene Nachforschungen die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe überprüfen kann. Das Gesetz verlangt nicht, dass der Arbeitgeber alle Gründe mitteilt, auf die er die Kündigung stützen kann, sondern er braucht nur die Gründe anzugeben, die für seinen Kündigungsentschluss maßgebend sind. Die Begründungspflicht hat einen anderen Charakter als die Darlegungs- und Beweisführungslast des Arbeitgebers im Kündigungsrechtsstreit. Für die Anhörungspflicht entscheidend ist also die subjektive Determination der Kündigungsgründe (Richardi/Thüsing, §
102 BetrVG, 16. Auflage 2018, Rz 62 m.w.N.).
175
Der Arbeitgeber darf in der Unterrichtung des Betriebsrats nach §
102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG aus einer objektiv zutreffenden Sachverhaltsschilderung tatsächliche und rechtliche Schlussfolgerungen ziehen. Ob die ‒ für den Betriebsrat als solche identifizierbare ‒ Würdigung des Arbeitgebers in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht richtig ist, ist keine Frage der Ordnungsgemäßheit des Anhörungsverfahrens, sondern eine solche der richterlichen Bewertung im Kündigungsschutzprozess (BAG, v. 7.5.2020 ‒
2 AZR 678/19,
NZA 2020, 1110.).
176
Gemessen hieran ist die Betriebsratsanhörung nicht zu beanstanden.
177
Von vornherein ins Leere gehen damit die Einwände des Klägers, dem Betriebsrat sei eine ‒ aus Sicht des Klägers ‒ „falsche“ rechtliche Würdigung mitgeteilt worden. Selbst wenn dies so wäre, würde dies nach den oben genannten Grundsätzen nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung nach §
102 Abs. 1 BetrVG führen.
178
Auch wurde dem Betriebsrat ‒ unter Berücksichtigung der Grundsätze subjektiver Determination ‒ kein unrichtiger Sachverhalt mitgeteilt. Insbesondere war die Beklagte aus Sicht der Kammer im Rahmen einer vollständigen Betriebsratsanhörung nicht verpflichtet, den Betriebsrat darüber zu informieren, was zwischen den Parteien während des Gütetermins im ersten Kündigungsschutzverfahren über den psychischen Zustand von Herrn A. erörtert wurde. Maßgeblich ist insofern allein, dass die schriftsätzlichen Darstellungen der Beklagten vor der Veröffentlichung durch den Kläger nicht betriebsöffentlich geworden sind.
179
bb) Im Übrigen ist festzustellen, dass das Bestreiten des Klägers, dass die Anlagen B1-B12 dem Betriebsrat vorgelegen haben, ein unzulässiges und damit unbeachtliches Bestreiten „ins Blaue hinein" darstellt. Der Betriebsratsvorsitzende hat auf dem Deckblatt (Anlage B13, Bl. 504 d.A.) unterschrieben und den Erhalt der Unterlagen „inklusive aller Anlagen“ bestätigt. Es sind keine Gründe dafür ersichtlich, weshalb er das getan haben sollte, wären die von der Beklagten vorgelegten Anhörungsunterlagen tatsächlich nicht Gegenstand der Betriebsratsbeteiligung gewesen.
180
Auch soweit der Kläger bestreitet, dass die vorgelegten Anlagen B1-B12 den im Verfahren vorgelegten Anlagen entsprechen, ist dies als bloßes Bestreiten ins Blaue hinein unzulässig. Denn der Kläger nennt nicht einmal im Ansatz Anhaltspunkte dafür, dass die Behauptung der Beklagten, die Anlagen zu der Betriebsratsanhörung entsprächen denjenigen Anlagen in diesem Gerichtsverfahren, nicht zutrifft. Selbst wenn der (ausführlichen) schriftlichen Anhörung eine oder mehrere Anlagen nicht beigefügt gewesen sein sollten, wäre der Betriebsrat auf dieser Basis immer noch umfassend unterrichtet gewesen. Keineswegs verlangen die §§
102,
103 BetrVG eine Unterrichtung, die im Detailierungsgrad an die vollständige Substantiierung im Kündigungsschutzprozess heranreicht.
181
g) Die Kündigungserklärungsfrist nach §
626 Abs. 2 BGB ist vorliegend gewahrt. Die Beklagte hat rechtzeitig noch innerhalb der Zweiwochenfrist das Zustimmungsersetzungsverfahren nach §
103 Abs.1 BetrVG eingeleitet und nach Zustimmung des Betriebsrats zur fristlosen Kündigung des Klägers unverzüglich die Kündigung erklärt. Nachdem die Einhaltung der Frist vorliegend zwischen den Parteien nicht im Streit steht, sieht die Kammer von vertieften Ausführungen hierzu ab.
182
2. Der als (unechter) Hilfsantrag zu verstehende Antrag auf Weiterbeschäftigung gemäß Ziffer 2 der Klage ist vorliegend nicht zur Entscheidung angefallen. Dieser Antrag ist nur für den Fall gestellt, dass der Arbeitnehmer mit seinem Bestandsschutzantrag als Hauptantrag obsiegt.
183
3. Der Klageantrag zu 3 und 4. ist zunächst insoweit unbegründet, als der Kläger sein Begehren auf §
83 Abs. 1 BetrVG stützt.
184
Dies folgt schon daraus, dass Arbeitsverhältnis aus Sicht der Kammer zum 18. Januar 2019 beendet wurde.
185
§
83 Abs. 1 Satz 1 BetrVG vermittelt ausschließlich im bestehenden Arbeitsverhältnis einen Anspruch auf Personalakteneinsicht. Bereits nach dem Wortlaut der Norm besteht der Einsichtsanspruch nur bei gegebener Arbeitnehmereigenschaft. Das setzt ein bestehendes Arbeitsverhältnis voraus, §
5 Abs. 1 BetrVG. Der Anspruch steht zudem in enger systematischer Verknüpfung zum Anhörungs- und Erörterungsrecht gemäß §
82 BetrVG, welches ebenfalls vom bestehenden Arbeitsverhältnis ausgeht. Außerdem legt auch die Entstehungsgeschichte des Akteneinsichtsrechts die zeitliche Begrenzung des Anspruchs auf das noch bestehende Arbeitsverhältnis nahe, da die im öffentlichen Dienst für Beamte bestehende Regelung, welche das Einsichtsrecht ausdrücklich „auch nach Beendigung des Beamten-verhältnisses“ (vgl. §
110 Abs. 1 Satz 2 BBG nF) offenhält, in das BetrVG nicht übernommen wurde (BAG, v. 16.11.2010 -
9 AZR 573/09 Rz 20.). Auf die Frage, ob sich aus §
83 BetrVG damit überhaupt über das Einsichtsrecht hinaus ein Recht auf Auskunft bzw. Erteilung von Kopien herleiten lässt ‒ was äußerst zweifelshaft erscheint ‒ kommt es demnach gar nicht an.
186
Ein Arbeitnehmer kann zwar gemäß §
241 Abs. 2 BGB i.V. mit Art.
2 Abs. 1 und Art.
1 Abs.1 GG auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses einen Anspruch auf Einsicht in seine vom ehemaligen Arbeitgeber weiter aufbewahrte Personalakte geltend machen.
187
Der Kammer ist es jedoch ‒ ungeachtet der Frage, ob sich aus dieser Rechtsgrundlage überhaupt die vom Kläger begehrte Rechtsfolge (Auskunft und Erteilung von Kopien) herleiten ließe ‒ verwehrt, diesen Anspruch zu prüfen.
188
Bei diesem Anspruch handelt es sich im Verhältnis zum Anspruch aus §
83 Abs. 1 BetrVG nicht nur um eine andere Anspruchsgrundlage, sondern um einen anderen Streitgegenstand. Auf diesen Streitgegenstand hat sich der Kläger weder schriftsätzlich, noch im Kammertermin berufen. Insofern ist es der Kammer nach §
308 ZPO verwehrt, diesen Anspruch zu prüfen.
189
4. Die auf Art
15 Abs. 1 und 3 DS-GVO gestützten Hilfsanträge sind jedenfalls derzeit unbegründet.
190
Der Kläger hat derzeit keinen fälligen Anspruch auf Auskunft und/oder Kopien seiner personenbezogenen Daten, denn er hat den für das Entstehen dieses Anspruchs konstitutiven Antrag (vgl. auch Art
12 Abs. 3,
15 ff. DSGVO) nicht gestellt.
191
Mit dem Schriftsatz vom 28. Juni 2021 hat der Kläger ausdrücklich noch keinen Antrag auf Auskunft und/oder Kopien gemäß Art.
15 Abs. 1, 3 DS-GVO gestellt, sondern einen solchen Antrag nur für die mündliche Verhandlung angekündigt. In der mündlichen Verhandlung am 29. Juni 2021 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers den Antrag auf datenschutzrechtliche Auskunft gemäß Art.
15 DS-GVO dann explizit nur „hilfsweise“ gestellt. Vorrangig beantragte sie eine Verurteilung der Beklagten zur Erteilung von Auskünften und zur Herausgabe von Unterlagen gemäß §
83 Abs. 1 BetrVG.
192
Auch aus Sicht der Kammer lässt sich dies nur so verstehen, dass der datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch nur unter der prozessualen (aufschiebenden) Bedingung geltend gemacht werden soll, dass das Gericht dem Antrag aus §
83 Abs. 1 BetrVG nicht stattgibt. Diese Bedingung kann erst mit der Entscheidung des Gerichts eintreten. Erst in diesem Zeitpunkt kann der Anspruch aus Art.
15 DS-GVO zur Entstehung gelangen.
193
Er ist dann aber noch nicht fällig, was sich aus Art
12 Abs. 3 DS-GVO ergibt. Richtigerweise lässt sich aus Art
12 Abs. 3 DS-GVO eine „echte“ Fälligkeitsregelung entnehmen (offen gelassen ArbG Stuttgart, v. 05.06.2019 ‒
3 Ca 4960/18).
194
Art.
15 Abs. 1 HS 2 DS-GVO enthält ‒ wie §
34 a.F. BDSG ‒ keine Regelung zur Fälligkeit des Auskunftsanspruchs. Aus Erwägungsgrund 63 Satz 1 zum Auskunftsanspruch nach Art.
15 DS-GVO folgt lediglich, dass die betroffene Person das Recht problemlos und in angemessenen Abständen wahrnehmen können soll. Art.
12 Abs. 3 DS-GVO räumt dem Auskunftsverpflichteten eine Frist von bis zu einem Monat zur Erteilung der Auskunft ein, die er bei Vorliegen objektiver Gründe einseitig um bis zu 2 Monate verlängern kann. Diese Vorschrift sieht damit richtigerweise eine Regelung zur Fälligkeit des Auskunfts- und Kopienanspruchs vor. Hiergegen spricht auch nicht zwingend der Wortlaut der Regelung in Art
14 Abs. 3 lit. a) DS-GVO, der anders als Art
12 Abs. 3 DS-GVO ausdrücklich von der Erteilung der Informationen „innerhalb einer angemessenen Frist“ spricht (so wohl auch Greve/Sydow Europäische Datenschutzgrundverordnung 2. Auflage 2018, Art 12 Rz 24, die auch bzgl. Art
12 Abs. 3 DS-GVO von einer Monatsfrist im Sinne einer „Handlungsfrist“ sprechen).
195
Eine Verurteilung der Beklagten zur Auskunftserteilung nach Art.
15 DS-GVO scheidet daher derzeit mangels Fälligkeit des Anspruchs aus. Mangels Fälligkeit war die Klage in Ziffer 3. und 4. allerdings nur als „derzeit unbegründet“ abzuweisen (vgl. auch BGH, v. 19.04.2005 -
X ZR 191/02).
III.
196
1. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§
46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG,
91 Abs. 1,
269 Abs. 3 Satz 2 ZPO.
197
2. Die Festsetzung des Urteilsstreitwerts folgt aus §
61 Abs. 1 ArbGG,
3,
5 ZPO,
42 Abs. 2 Satz 1 GKG entsprechend. Danach war für den Kündigungsschutzantrag als Streitwert die Höhe der durchschnittlichen Bruttovergütung für ein Vierteljahr in Ansatz zu bringen (3 x 0.000,00 Euro). Die Auskunftsanträge zu 3 und 4 (Auskunft und Recht auf Kopien) wurden insgesamt mit jeweils EUR 000,00 veranschlagt (LAG Baden-Württemberg, 23.1.2020 ‒
5 Ta 123/19). Der eigenständige (Haupt-)Antrag nach §
83 Abs.1 BetrVG war daneben aufgrund wirtschaftlicher Identität nicht erhöhend zu berücksichtigen. Der allgemeine Weiterbeschäftigungsantrag blieb außer Ansatz.
198
Insgesamt ergibt sich folglich ein Betrag in Höhe von EUR 00.000,00 als Urteilsstreitwert.
199
3. Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung ergibt sich aus §
64 Abs. 3a Satz 1 ArbGG. Veranlassung für eine gesonderte Berufungszulassung nach §
64 Abs. 2 a), Abs. 3 ArbGG bestand nicht. Die Berufung ist gleichwohl für den Kläger nach §
64 Abs. 2 b), c) ArbGG kraft Gesetztes statthaft.
200
Für die Beklagte ist die Berufung mangels Beschwer nicht statthaft, da sie im Hinblick auf den Hilfsantrag nach Art
15 Abs. 1 und 3 DS-GVO nicht die endgültige Klageabweisung, sondern nur die Abweisung der Klage als derzeit unbegründet erstrebt hat (vgl. BGH, v. 25.06.2015 -
III ZR 333/14).