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  • 03.03.2011 | Rechtsprechungsübersicht

    Die Top-Six der Rechtsprechung 2010

    Welche Urteile aus dem Jahr 2010 sollten Sie als Prozessvertreter auch 2011 abrufbereit parat haben? „Arbeitsrecht aktiv“ hat für Sie die wichtigsten Top-Six für Ihren Schreibtisch zusammengefasst.  

     

    Rechtsprechungsübersicht: Die Top-Six 2010

    EuGH: Rechtswidrige Nichtberücksichtigung der Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr  

    Der EuGH hat nach einer Vorlage des LAG Düsseldorf entschieden, dass § 622 Abs. 2 S. 2 BGB, nach der vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten des ArbN bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden, gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 verstößt.  

     

    Dies bestätigt die schon vorher in der Literatur und der Instanzrechtsprechung der LAG vorherrschende Auffassung. Zudem hat der EuGH klargestellt, dass es dem nationalen Gericht obliegt, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Beachtung des Verbots der Diskriminierung in der o.g. Richtlinie sicherzustellen. Erforderlichenfalls muss es entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unangewendet lassen. In der Praxis bedeutet diese Klarstellung des EuGH, dass im Ergebnis ein nationales Gericht unabhängig vom Instanzenzug für den Fall, dass der erkennenden Kammer eine Norm nationalen Rechts mit Grundsätzen des Europarechts unvereinbar erscheint, diese Norm nicht nur unangewendet lassen kann, sondern auch muss. Eine ausdrückliche Sperre wird der weiteren Anwendung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB erteilt, auch wenn der nationale Gesetzgeber die Entscheidung des EuGH noch nicht in nationales Recht umgesetzt hat (EuGH 19.1.10, C-555/07, Abruf-Nr. 100311, AA 10, 49).  

     

    Kein Verfall des Schwerbehindertenzusatzurlaubs nach langer Arbeitsunfähigkeit  

    Nicht nur der gesetzliche vierwöchige Mindesturlaub nach dem BUrlG ist finanziell abzugelten, wenn der ArbN bis zum Ende des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig krank ist. Darüber hinaus ist auch der Schwerbehindertenzusatzurlaub, der ebenso wie der gesetzliche Mindesturlaub bei lang andauernder AU über den Übertragungszeitraum hinaus nicht genommen werden kann, finanziell abzugelten.  

     

    Anderes können die Tarifvertragsparteien hinsichtlich des über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehenden tariflichen Zusatzurlaubsanspruchs bestimmen. Eine solche Bestimmung muss hingegen ausdrücklich klarstellen, dass dieser Teil des tariflichen Urlaubsanspruchs erlischt, auch wenn der Urlaub wegen der AU des ArbN tatsächlich nicht in Anspruch genommen werden kann (BAG 23.3.10, 9 AZR 128/09, Abruf-Nr. 101526, AA 10, 101).  

     

    Die Wende im Fall „Emmely“ - außerordentliche Kündigung wegen Bagatelldelikten  

    Für die Frage, ob ein bestimmtes zu Vermögensschäden des ArbG im Bagatellbereich führendes (strafbares) Verhalten des ArbN einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB bildet, sind alle für das Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Absolute Kündigungsgründe gibt es, auch im Bereich der Vermögensschädigungen des ArbG durch den ArbN, nicht.  

     

    Vielmehr sind im Einzelfall jeweils das Maß der Vertrauensschädigung, das Interesse des ArbG an der korrekten Handhabung von Anweisungen, das „Vertrauenskapital“, das der ArbN in seiner Zeit der unbeanstandeten Beschäftigung erworben hat und die wirtschaftlichen Folgen des Verstoßes zu werten. U.U. kann, insbesondere bei geringen Schädigungen, einem jahrzehntelang bestehenden Arbeitsverhältnis und einer nicht erkennbar rechtsfeindlichen Gesinnung des ArbN eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des notwendigen Vertrauens in die Redlichkeit des ArbN ausreichen (BAG 10.6.10, 2 AZR 541/09, Abruf-Nr. 101854, AA 10, 123 und AA 11, 10).  

     

    Geschlechtsdiskriminierung bei Stellenausschreibung  

    Bei der Besetzung einer Stelle einer kommunalen Gleichstellungsbeauftragten darf die ausschreibende Gemeinde die Bewerberauswahl auf Frauen beschränken, wenn ein Schwerpunkt der Tätigkeit in Projekt- und Beratungsangeboten liegt. Dies ist gegeben, wenn sich die Angebote an Frauen in Problemlagen richten, in denen Betroffene typischerweise zu einer weiblichen Gleichstellungsbeauftragten leichter Kontakt aufnehmen und sich ihr besser offenbaren können. Im entschiedenen Fall hat der 8. Senat des BAG das weibliche Geschlecht der Stelleninhaberin als wesentliche und entscheidende Anforderung nach § 8 Abs. 1 AGG angesehen und damit die Zulässigkeit einer unterschiedlichen Behandlung wegen des Geschlechts bejaht (BAG 18.3.10, 8 AZR 77/09, Abruf-Nr. 101194, AA 10, 88).  

     

    Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG  

    Die Geltung von Normen eines Tarifvertrags, die den Abschluss, den Inhalt und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen regeln, wirken kraft Koalitionsmitgliedschaft des ArbN bzw. ArbG nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar. Dies gilt auch, wenn für den Betrieb kraft Tarifbindung des ArbG nur ein Tarifvertrag Anwendung findet, was kraft Verbandsmitgliedschaft des ArbG oder Abschluss eines eigenen Haustarifvertrags der Fall sein kann. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn für den einzelnen ArbN jeweils nur ein Tarifvertrag Anwendung findet.  

     

    Das BAG hat klargestellt, dass es keinen übergeordneten Grundsatz dahingehend gibt, dass für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art in einem Betrieb nur einheitliche Tarifregelungen zur Anwendung kommen können. Damit hat das BAG den Grundsatz der Tarifeinheit zugunsten der sog. „Tarifpluralität“ aufgegeben. Das BAG hat klargestellt, dass sich aus dem TVG ein Grundsatz der sog. Tarifeinheit, nach der eine Verdrängung eines geltenden Tarifvertrags durch Abschluss eines neuen, auf den überwiegenden Teil der Belegschaft anzuwendenden Tarifvertrags anzunehmen ist, aus dem Wortlaut der Bestimmungen des TVG gerade nicht herleiten lässt und daher mehrere tarifvertragliche Regelungen in einem Betrieb zur Anwendung kommen können (BAG 23.6.10, 10 AS 2/10, Abruf-Nr. 102187, AA 10, 141).  

     

    Abwägungsgebot bei Kündigung von Kirchenangestellten wegen Ehebruchs  

    Der EGMR (Europäische Gerichtshof für Menschenrechte) hat klargestellt, dass die nationalen Gerichte stets zur Abwägung zwischen dem Recht der ArbN auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK einerseits und den Konventionsrechten der Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften andererseits bei der Gewährung ausreichenden Kündigungsschutzes verpflichtet sind.  

     

    Darüber hinaus wird das Recht der Religionsgemeinschaften anerkannt, gegen unzulässige staatliche Einmischung nach Art. 8 EMRK (Religionsfreiheit) bzw. Art. 11 EMRK (Vereinigungsfreiheit) geschützt zu werden. In den entschiedenen Fällen hat der EGMR die Kündigung eines Gebietsdirektors Öffentlichkeitsarbeit der europäischen Mormonen-Kirche wegen eines außerehelichen Verhältnisses mit einer anderen Frau für wirksam erachtet und hierbei insbesondere auf die Glaubwürdigkeit der Mormonen-Kirche und die exponierte Stellung des ArbN als Gebietsdirektor der Öffentlichkeitsarbeit abgestellt. In einem weiteren Fall hingegen hat der EGMR die Kündigung eines Organisten und Chorleiters, der innerhalb der bestehenden Ehe mit einer anderen Frau zusammenlebte, für unwirksam erachtet. Seine Tätigkeit sei nicht so eng mit der Mission der katholischen Kirche als ArbG verbunden gewesen, dass eine Weiterbeschäftigung der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche zuwidergelaufen wäre. Überdies seien die Interessen des kirchlichen ArbG nicht ausreichend mit dem Recht des ArbN auf Achtung des Privat- und Familienlebens abgewogen worden (EGMR 23.9.10, 425/03 und 1620/03, Abruf-Nr. 103656, AA 10, 208).  

     

     

    Weiterführender Hinweis

    • Sie suchen die wichtigsten Urteile aus 2009? Kein Problem: „Die Top-Six der Rechtsprechung 2009“(Urlaubsrecht, Betriebsübergang, Betriebliche Übung, Prozessführung, Personenbedingte Kündigung, AGG) in AA 10, 61, auch online unter www.iww.de

     

    Quelle: Ausgabe 03 / 2011 | Seite 40 | ID 142678