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  • · Fachbeitrag · Arbeitszeit

    1, 2, 3: Drei Argumente für und gegen Rufbereitschaft als Arbeitszeit vom EuGH

    | Eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft ist nur dann in vollem Umfang Arbeitszeit, wenn die dem ArbN auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, während dieser Zeit seine Freizeit zu gestalten, ganz erheblich beeinträchtigen. Organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des ArbN für ihn mit sich bringen kann, sind unerheblich. |

     

    Sachverhalt

    In den Rechtssachen vor dem EuGH ging es um zwei ArbN in unterschiedlichen EU-Ländern, aber mit einem Problem: Sie müssen Rufbereitschaft leisten, brauchen dafür nicht am Arbeitsplatz zu bleiben, müssen aber innerhalb von 20 bzw. 60 Minuten vor Ort sein. Aufgrund der Einschränkungen bleiben sie meist am Arbeitsplatz, daher wollen sie die Zeit als Arbeitszeit vergütet haben.

     

    In einem Fall musste ein Techniker den Betrieb von Fernsehsendeanlagen in den slowenischen Bergen sicherstellen. Neben der regulären Arbeitszeit leistete er täglich sechs Stunden Bereitschaftsdienst in Form von Rufbereitschaft. Während dieser Zeit war er nicht verpflichtet, in der Sendeanlage zu bleiben. Er musste aber telefonisch erreichbar und in der Lage sein, erforderlichenfalls innerhalb einer Stunde dorthin zurückzukehren. De facto war er in Anbetracht der geografischen Lage der schwer zugänglichen Sendeanlagen gezwungen, sich während seiner Bereitschaftsdienste ohne große Freizeitmöglichkeiten in der Dienstunterkunft aufzuhalten.

     

    In der anderen Rechtssache musste ein deutscher Feuerwehrmann neben seiner regulären Dienstzeit regelmäßig Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft leisten. Während dieser Zeiten musste er sich nicht an einem vom ArbG bestimmten Ort aufhalten. Er musste aber im Alarmfall innerhalb von 20 Minuten in seiner Einsatzkleidung und mit dem Einsatzfahrzeug die Stadtgrenzen erreichen können.

     

    Entscheidungsgründe

    Der EuGH (9.3.21, C-344/19 und C-580/19, Abruf-Nr. 221082 und 221081) stellt in seinen Urteilen der Großen Kammer insbesondere klar, inwieweit Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen sind.

     

    Hierbei betonte der EuGH zunächst, dass die Bereitschaftszeit eines ArbN entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen sei. Beide Begriffe würden einander ausschließen. Außerdem stelle eine Zeitspanne, in der ein ArbN tatsächlich keine Tätigkeit für seinen ArbG ausübe, nicht zwangsläufig eine „Ruhezeit“ dar. So gehe aus der Rechtsprechung des EuGH hervor, dass eine Bereitschaftszeit automatisch als „Arbeitszeit“ einzustufen ist, wenn der ArbN während dieser Zeit verpflichtet sei, an seinem Arbeitsplatz, der nicht mit seiner Wohnung identisch ist, zu bleiben und sich dort seinem ArbG zur Verfügung zu halten.

     

    Bereitschaftszeiten, einschließlich Zeiten in Form von Rufbereitschaft, fielen auch dann in vollem Umfang unter den Begriff „Arbeitszeit“, wenn die dem ArbN während dieser Zeiten auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, die Zeit, in der seine beruflichen Dienste nicht in Anspruch genommen würden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigten. Umgekehrt sei, wenn es keine solchen Einschränkungen gebe, nur die Zeit als „Arbeitszeit“ anzusehen, die mit der gegebenenfalls tatsächlich während solcher Bereitschaftszeiten erbrachten Arbeitsleistung verbunden sei.

     

    Erstens weist der Gerichtshof insoweit darauf hin, dass bei der Beurteilung, ob eine Bereitschaftszeit „Arbeitszeit“ darstelle, nur Einschränkungen berücksichtigt werden könnten, die dem ArbN durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen ArbG auferlegt würden. Dagegen sind organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des ArbN für ihn mit sich bringen könne, unerheblich. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn das Gebiet, das der ArbN während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft praktisch nicht verlassen könne, nur wenige Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten bietet.

     

    Außerdem hebt der EuGH hervor, dass es Sache der nationalen Gerichte sei, eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, um zu prüfen, ob eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ einzustufen sei; dies sei nämlich, wenn keine Verpflichtung bestehe am Arbeitsplatz zu bleiben, nicht automatisch der Fall. Zu diesem Zweck sei zu berücksichtigen, ob die Frist sachgerecht sei, innerhalb derer der ArbN nach der Aufforderung durch seinen ArbG die Arbeit aufzunehmen habe, wozu er sich in der Regel an seinen Arbeitsplatz begeben müsse.

     

    Die Folgen einer solchen Frist seien jedoch anhand des konkreten Falls zu beurteilen. Dabei seien nicht nur weitere dem ArbN auferlegte Einschränkungen zu berücksichtigen, wie z. B. die Verpflichtung, mit einer speziellen Ausrüstung am Arbeitsplatz zu erscheinen, sondern auch ihm gewährte Erleichterungen. Solche Erleichterungen könnten beispielsweise in der Bereitstellung eines Dienstfahrzeugs bestehen, mit dem von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung Gebrauch gemacht werden könne. Zum anderen müssten die nationalen Gerichte die durchschnittliche Häufigkeit der von einem ArbN während seiner Bereitschaftszeiten geleisteten Einsätze berücksichtigen, sofern dies objektiv geschätzt werden könne.

     

    Zweitens stellt der EuGH fest, dass die Art und Weise der Vergütung von ArbN für Bereitschaftszeiten nicht der Richtlinie 2003/88 unterliege. Sie stehe der Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften, eines Tarifvertrags oder einer Entscheidung des ArbG nicht entgegen, wonach bei der Vergütung Zeiten, in denen tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht würden, und Zeiten, in denen keine tatsächliche Arbeit geleistet werde, unterschiedlich berücksichtigt würden, selbst wenn diese Zeiten in vollem Umfang als „Arbeitszeit“ anzusehen seien. Umgekehrt stehe es der Richtlinie 2003/88 ebenfalls nicht entgegen, wenn Bereitschaftszeiten, die nicht als „Arbeitszeit“ eingestuft werden könnten, in Form der Zahlung eines zum Ausgleich der dem ArbN durch sie verursachten Unannehmlichkeiten dienenden Betrags vergütet würden.

     

    Drittens führt der Gerichtshof aus, dass die Einstufung einer nicht als „Arbeitszeit“ anzusehenden Bereitschaftszeit als „Ruhezeit“ die besonderen Pflichten unberührt lasse, die dem ArbG nach der Richtlinie 89/391/EWG oblagen. Insbesondere dürfe ein ArbG keine Bereitschaftszeiten einführen, die so lang oder so häufig seien, dass sie eine Gefahr für die Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der ArbN darstellten. Unerheblich ist, ob sie als „Ruhezeiten“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen seien.

     

    Relevanz für die Praxis

    Der EuGH legt bei der Einstufung von Bereitschaftsdiensten als Arbeits- oder Ruhezeiten in erster Linie Wert auf die Frage, ob der oder die ArbN während der Bereitschaftszeit ohne tatsächliche Inanspruchnahme seine Freizeit im Wesentlichen frei gestalten kann. Wenn ihm dies möglich ist, soll der Bereitschaftsdienst, unabhängig von seiner Vergütung, nicht als Arbeitszeit im Sinne der RL 2003/88 einzustufen sein. Die Gesamtwürdigung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls ist aber, worauf der EuGH deutlich hinweist, Sache der nationalen Gerichte. Zu diesen für die Einstufung als Arbeitszeit maßgeblichen Umständen zählen die Länge der Frist, die dem ArbN von der Aufforderung bis zum Einsatz bleibt, Pflichten und Erleichterungen in der Bereitschaft und die Länge und Anzahl der tatsächlichen Einsätze.

     

     

    Weiterführende Hinweise

    • Einheitliche tarifliche Auslöse unabhängig von Arbeitszeit: Vorlage des BAG an den EuGH in AA 20, 200
    • Mitbestimmung des Betriebsrats bei Wegezeiten: BAG in AA 20, 39
    Quelle: Ausgabe 04 / 2021 | Seite 60 | ID 47295154