07.09.2022 · IWW-Abrufnummer 231143
Oberlandesgericht Frankfurt a. M.: Urteil vom 29.06.2022 – 7 U 140/20
§ 4 Abs. 6 Satz 2 Var. 2 MB/KK 2009 ist dahingehend auszulegen, dass sich der Versicherte bei einer inkurablen, lebenszerstörenden Erkrankung dann nicht auf eine Zweitlinientherapie verweisen lassen muss, wenn der neuartige wissenschaftlich fundierte Ansatz einer Alternativtherapie die nicht ganz entfernte Aussicht begründet, einen über die palliative Standardtherapie hinausreichenden Erfolg zu erbringen.
OLG Frankfurt 7. Zivilsenat
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden vom 22.07.2020 (Az. 5 O 121/18) wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das angefochtene Urteil und das Berufungsurteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 115% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 115% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt Kostenerstattung für medizinische Behandlungen ihres mittlerweile verstorbenen Ehemannes aus einem Vertrag über eine private Krankenversicherung i.H.v. 30.075,26 €.
Der Ehemann der Klägerin war versicherte Person eines privaten Krankenversicherungsvertrages, den die Klägerin bei der Beklagten unterhält. Diesem liegen die MB/KK 2009 sowie die „Tarifbedingungen der Krankenversicherung1“ zugrunde.
§ 4 Abs. 6 MB/KK 2009 lautet:
Der Versicherer leistet im vertraglichen Umfang für Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind. Er leistet darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso Erfolg versprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen; der Versicherer kann jedoch seine Leistungen auf den Betrag herabsetzen, der bei der Anwendung vorhandener schulmedizinischer Methoden oder Arzneimittel angefallen wäre.
Bei dem Ehemann der Klägerin wurde im März 2017 ein lokal inoperables, primär duktales Ardenokarzinom des Pankreaskopfes diagnostiziert. Zunächst wurde dieses von März bis Juli 2017 mit Folfirinox im Rahmen einer Chemotherapie behandelt. Währenddessen kam es zur Neubildung einer Lebermetastase. Der Tumor wurde auch nach dem Ende der Chemotherapie als inoperabel eingestuft. Eine Behandlung mit einem PD-L1-Blocker war nicht erfolgversprechend. Der Ehemann der Klägerin wurde anschließend im immunologisch-onkologischen Zentrum Stadt1 mit „Kieler Impfstoff aus dendritischen Zellen“, kombiniert mit onkolytischen Viren und Elektrohyperthermie, behandelt. Hierfür fielen Kosten an, welche die Beklagte als freiwillige Leistung zur Hälfte übernahm. Eine Erstattungsverpflichtung lehnte die Beklagte unter Berufung auf ein Privatgutachten von A (Anlage K3, Anlagenband) und C (Anlage K4, Anlagenband) ab. Die Klagesumme stellt den Restbetrag der nicht übernommenen Kosten dar.
Die Klägerin hat behauptet, die palliative Immuntherapie sei nach medizinischen Erkenntnissen wahrscheinlich geeignet gewesen, auf eine Verhinderung der Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinzuwirken. Eine Verlangsamung der Krankheit sei zumindest möglich. Dies ergebe sich aus einer 2017 publizierten Studie (Anlage K6, Anlagenband). Die Alternativtherapie ziele, anders als andere Palliativbehandlungen, auf eine signifikante Verlängerung der Lebenszeit.
Die Beklagte hat vorgetragen, die Wirkweise der dendritischen Zelltherapie/Virustherapie sei nicht hinreichend geklärt. Es gebe keine Belege zur Effektivität. Als schulmedizinische Behandlungsalternative i.S. einer Zweitlinientherapie habe eine palliative Chemotherapie zur Verfügung gestanden.
Wegen des erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien im Übrigen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Beklagte nach Beweisaufnahme durch das angefochtene Urteil vom 22.07.2020, das der Beklagten am 28.07.2020 zugestellt worden ist, zur Zahlung von 30.075,26 € nebst Verzugszinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten verurteilt und zur Begründung ausgeführt, die Therapiekosten seien als palliativmedizinisch notwendig anzusehen. Dem stehe nicht entgegen, dass als lebensverlängernde Maßnahme auch eine schulmedizinisch anerkannte Chemotherapie in Betracht komme. Für die Wirksamkeit der Immuntherapie gebe es zwar keinen klaren Nachweis, der Studie aus dem Jahr 2017 ließen sich aber Hinweise auf verlängertes Gesamtüberleben entnehmen, zumindest sei ein positiver Effekt auf eine gleichzeitig stattfindende Chemotherapie abzuleiten. Dem gerichtlichen Gutachten lasse sich die Aussage entnehmen, dass im Vergleich zur Chemotherapie bei vergleichbarer Lebensverlängerung eine höhere Verträglichkeit bestehe. Auf die zwischen den Parteien streitige Frage, ob eine palliative Chemotherapie wegen des schlechten gesundheitlichen Zustands zum Zeitpunkt des Beginns der Immuntherapie überhaupt möglich gewesen sei, komme es nicht an. Es sei einem todgeweihten Patienten zuzugestehen, bei der Wahl zwischen einer schulmedizinisch bewährten lebensverlängernden Maßnahme auch eine bei schwacher Studienlage möglicherweise in Bezug auf Lebensverlängerung weniger wirksame Methode zu wählen, von der er sich eine höhere Lebensqualität verspreche.
Hiergegen richtet sich die am 17.08.2020 eingelegte und am 23.09.2020 begründete Berufung der Beklagten. Die Beklagte begehrt weiterhin Klageabweisung und führt zur Begründung aus, § 4 Abs. 6 MB/KK 2009 verlange den Nachweis, dass sich die dendritische Zelltherapie auf eine gewisse Dauer als ebenso erfolgversprechend bewährt habe wie die Chemotherapie. Dieser sei nicht erbracht. Auch liege keine Kontraindikation für eine Chemotherapie vor. Auf die Frage, ob es sich um einen wissenschaftlich lediglich nachvollziehbaren Therapieansatz handele, komme es nicht an, weil es mit Gemcitabin eine schulmedizinische Behandlungsalternative mit gleicher Intention gebe. Das Landgericht setze sich auch nicht hinreichend mit den privatgutachterlichen Stellungnahmen der Beklagten auseinander.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des am 22.07.2020 verkündeten Urteils des LG Wiesbaden, Az. 5 O 121/18, die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und führt ergänzend aus, die palliative Chemotherapie habe zunächst aufgrund des Gesamtzustandes des Patienten nicht begonnen werden können. Nach Beginn der Immuntherapie, die von August 2017 bis März 2018 gedauert habe, habe sich der Zustand des Ehemanns der Klägerin enorm gebessert, sodass zwei Reisen möglich gewesen seien. Ende März 2018 seien weitere Lebermetastasen aufgetreten, sodass schließlich eine palliative Chemotherapie mit Gemcitabin begonnen worden sei.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Anhörung des Sachverständigen B. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll vom 27.04.2022 (Bl. 288 ff. d.A.) Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Es liegt kein Berufungsgrund im Sinne von § 513 ZPO vor, da die Entscheidung des Landgerichts weder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO beruht noch die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung in der Sache rechtfertigen.
Dass die Klägerin gegen die Beklagte dem Grunde nach Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen für Heilbehandlungen ihres Ehemannes gemäß §§ 1 und 4 Abs. 6 MB/KK 2009 hat, ist außer Streit. Nach § 1 Abs. 1 a), Abs. 2 S. 1 MB/KK hat die Klägerin grundsätzlich einen Anspruch auf Versicherungsschutz in Form des Ersatzes von Aufwendungen für eine Heilbehandlung, wenn diese medizinisch notwendig ist. Die streitgegenständliche ärztliche Behandlung wurde auch unstreitig wegen einer Krankheit im Sinne dieser Klausel durchgeführt.
Auch die weiteren Voraussetzungen der Eintrittspflicht liegen vor. Der Senat stützt dieses Ergebnis in tatsächlicher Hinsicht auf die Feststellungen des Sachverständigen B. Dessen Ausführungen waren in jeder Hinsicht ergiebig zur Beantwortung der zu stellenden Beweisfragen. Sie beruhten auf vollständiger Auswertung der Verfahrensakte und waren schlüssig, nachvollziehbar und ohne erkennbare Widersprüche. Einwände gegen das Gutachtenergebnis haben die Parteien nach Abschluss der Begutachtung durch Anhörung des Sachverständigen auch nicht vorgebracht.
Hieraus ergibt sich in rechtlicher Hinsicht, dass es sich bei der Behandlung mit dendritischen Zellen um eine Heilbehandlung i.S. § 1 Abs. 2 MB/KK 2009 handelt. Der Begriff der "Heilbehandlung“ ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes aus Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers nicht so zu verstehen, dass der Versicherungsfall nur die auf Heilung abzielende Behandlung ist. Der Inbegriff der Heilbehandlung ist nicht nur von den Resultaten, sondern auch von dem Zweck ärztlichen Handelns her zu bestimmen (vgl. Bach/Moser/Kalis, 5. Aufl. 2015, MB/KK § 1 Rn. 75). Als Heilbehandlung ist daher jegliche ärztliche Tätigkeit anzusehen, die durch die betreffende Krankheit verursacht worden ist, sofern die Leistung des Arztes von ihrer Art her in den Rahmen der medizinisch notwendigen Krankenpflege fällt und auf Heilung, Besserung oder auch Linderung der Krankheit abzielt. Dem ist eine ärztliche Tätigkeit gleich zu achten, die auf eine Verhinderung der Verschlimmerung einer Krankheit gerichtet ist.
Die streitgegenständlichen ärztlichen Leistungen zielten unstreitig jedenfalls darauf ab, die Symptome der Krebserkrankung zu lindern und den Gesundheitszustand des Ehemanns der Klägerin zu stabilisieren, also einer Verschlimmerung der Erkrankung entgegenzuwirken (vgl. BGH, Urteil vom 10.07.1996 - IV ZR 133/95, VersR 1996, 1224).
Aufgrund ihrer spezifischen Wirkweise ist die dendritische Zelltherapie auf die Zerstörung von Tumorzellen ausgerichtet und stellt somit eine Heilbehandlung dar. Der gerichtliche Sachverständige B hat dazu ausgeführt, dass das theoretische Konstrukt der Therapie mit dendritischen Zellen darin bestehe, dass diese Proteine aus dem extrazellulären Raum aufnähmen und sie an bestimmte Trägerproteine bänden. Dies nenne man dann ein sogenanntes Antigen, das sich an der Zelloberfläche befinde. Die T-Lymphozyten kontrollierten die extrazellulär aufgenommenen Proteine der dendritischen Zellen und zerstörten sie bei Auffälligkeiten. Insofern werde das Immunsystem angeregt, auch weitere spezifische Antikörper gegen die Proteinfragmente herzustellen. Tumorzellen exprimierten spezifische Proteine. Die aus dem Blut des Patienten gewonnenen dendritischen Zellen würden sodann mit diesen Proteinen beladen und lösten bei den T-Lymphozyten dann entsprechende Immunreaktionen aus. Es handele sich um eine spezifische Reduktion der Tumorzellen durch gezielte immunogene Zerstörung.
Vergleichbares gilt für die in Kombination mit den dendritischen Zellen begleitend durchgeführte onkolytische Virus-Therapie mit dem mit Gemcitabin. Die Hyperthermie-Behandlung, die zur Verstärkung der Immunabwehr eingesetzt wird, ist nach den Ausführungen des Sachverständigen ohnehin schulmedizinisch anerkannt und wird auch bei schulmedizinischer Chemotherapie angewandt.
Diese Heilbehandlungen waren vorliegend medizinisch notwendig i.S. § 1 Abs. 2 MB/KK 2009. Bei einer lebenszerstörenden, unheilbaren Erkrankung kann nicht mehr darauf abgestellt werden, ob sich die gewünschte Behandlung zur Erreichung des vorgegebenen Behandlungsziels tatsächlich eignet. Die objektive Vertretbarkeit der Behandlung ist bereits dann zu bejahen, wenn sie nach medizinischen Erkenntnissen im Zeitpunkt ihrer Vornahme als wahrscheinlich geeignet angesehen werden konnte, auf eine Verhinderung der Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinzuwirken. Dabei ist nicht einmal zu fordern, dass der Behandlungserfolg näherliegt als sein Ausbleiben. Vielmehr reicht es aus, wenn die Behandlung mit nicht nur ganz geringer Erfolgsaussicht die Erreichung des Behandlungsziels als möglich erscheinen lässt. Erforderlich ist insoweit nur ein nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbarer Ansatz, der die prognostizierte Wirkweise auf das angestrebte Behandlungsziel erklären kann (vgl. BGH, Beschluss vom 30.10.2013 - IV ZR 307/12, VersR 2013, 1558 Rn. 17). Eine hinreichende wissenschaftliche Evidenz für die Effektivität ist nicht erforderlich, sodass es auf die entsprechende negative Feststellung der wissenschaftlichen Evidenz für die Effektivität in der privatgutachterlichen Stellungnahme des Gutachters C sowie der Sachverständigen A nicht ankommt.
Dass die streitgegenständliche Behandlung auf einem - nach medizinischen Erkenntnissen - nachvollziehbaren Ansatz beruhte, hat der Sachverständige B im Rahmen seiner Anhörung ausdrücklich bestätigt und ausgeführt, dass es sich bei der Therapie mit dendritischen Zellen um einen wissenschaftlichen Ansatz handele, der durchaus auch auf klinischer Erfahrung beruhe. Der Ansatz werde in der Wissenschaft in breitem Umfang für die verschiedensten Krebsarten untersucht und sei auch im Jahr 2017 wissenschaftlich verfolgt worden. Es gebe auch schon einzelne Krebserkrankungen, wie z. B. eine Lymphomerkrankung bei Kindern, wo - basierend auf einem ähnlichen Ansatz - eine solche Krebstherapie erfolgreich durchgeführt werde. Auch die Virustherapie mit dem Newcastle-Disease-Virus sei wissenschaftlich mit großen Hoffnungen verbunden gewesen.
Die Beklagte kann sich auch nicht auf die Schulmedizinklausel des § 4 Abs. 6 Satz 1 MB/KK 2009 berufen, da hier die speziellere Regelung des § 4 Abs. 6 Satz 2 MB/KK 2009 einschlägig ist und zur Leistungspflicht der Beklagten führt.
Auf die Rüge der Berufung, das Landgericht habe die Voraussetzungen der 1. Variante des § 4 Abs. 6 Satz 2 MB/KK 2009 verkannt, kommt es streitentscheidend nicht an, denn die Leistungspflicht der Beklagten folgt aus der 2. Variante des § 4 Abs. 6 Satz 2 MB/KK 2009 (fehlende erfolgversprechende Heilmethode der Schulmedizin). Zwar hat der gerichtliche Sachverständige zunächst ausgeführt, dass zur leitliniengerechten Palliativbehandlung Gemcitabin/5FU oder Gemcitabin/Nab-Palitaxel als zugelassene schulmedizinische Alternativen zur Verfügung gestanden hätten. Dies hat er jedoch im Rahmen der mündlichen Anhörung dahingehend präzisiert, dass es sich insoweit nur um eine Zweitlinientherapie handelte und die Erkrankung des Ehemanns der Klägerin inkurabel und lebenszerstörend gewesen sei. Die 5-Jahres-Überlebensrate des metastasierten Pankreaskarzinoms - so wie es bei dem Ehemann der Klägerin es vorgelegen habe - betrage 0 %. Dies gelte sowohl bei einer Behandlung nach Methoden der Schulmedizin als auch bei alternativmedizinischer Behandlung.
Es kann vorliegend offenblieben, ob im Fall einer solchen Erkrankung zunächst der Versuch einer leitliniengerechten Therapie zu machen ist, bevor auf Außenseitermethoden zurückgegriffen werden kann. Jedenfalls muss sich die versicherte Person dann nicht auf eine Zweitlinientherapie verweisen lassen, wenn die Erstlinientherapie - wie hier - versucht wurde, aber keinen Behandlungserfolg erbracht hat, dadurch ein Behandlungserfolg der Zweitlinientherapie nahezu aussichtslos geworden ist und gerade der neuartige wissenschaftlich fundierte Ansatz der Alternativtherapie die nicht ganz entfernte Aussicht begründet, einen über die palliative Standardtherapie hinausreichenden Erfolg zu erbringen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 30.10.2013 - IV ZR 307/12, VersR 2013, 1558 Rn. 24).
Dies folgt aus der Auslegung der 2. Variante des § 4 Abs. 6 S. 2 MB/KK 2009. Die Wendung in der deckungserweiternden Klausel, dass „keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen“ ist so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 5. September 2018 - 7 U 25/16 -, juris Rn. 25). Ein durchschnittlicher Versicherter in der Situation des Ehemanns der Klägerin wird die Frage, ob ein bestimmtes schulmedizinisches Arzneimittel „zur Verfügung“ steht nicht schon dann bejahen, wenn es ein zugelassenes und lieferbares Präparat gibt, das bei der Behandlung eingesetzt wird, sondern wird den Begriff „zur Verfügung“ unter Berücksichtigung des Behandlungszwecks - Heilung, Linderung, Verlangsamung des Verlaufs - vielmehr dahingehend begreifen, dass er sich nicht auf nahezu aussichtslose schulmedizinische Methoden verweisen lassen muss. Erwiesen unwirksame schulmedizinische Ansätze würde ein Versicherter gerade bei Vorliegen einer schnell fortschreitenden und lebensbedrohlichen Erkrankung als praktisch nicht zur Verfügung stehend ansehen und hieraus folgern, dass er in dieser Situation zu neuartigen Behandlungsformen greifen kann, auch wenn deren möglicherweise gleichermaßen geringe Eignung wie der schulmedizinische Ansatz mangels Studien nur noch nicht feststeht, dessen erhoffte bessere Eignung sich jedoch aus einem fundierten wissenschaftlichen Ansatz ergibt.
Beide Behandlungsansätze (Chemotherapie mit Gemcitabin und alternative Therapie) dienten vorliegend demselben Ziel, nämlich der Zerstörung von Tumorzellen, wie oben dargestellt. Die schulmedizinische Zweitlinienbehandlung mit Gemcitabin gab nach den Ausführungen des Sachverständigen als Behandlungsziel vor, dass mit einer geringen Wahrscheinlichkeit von etwa 15-20 % eine Stase des Tumors zu erzielen sei, wobei die 5-Jahres-Lebenserwartung sich nicht verbesserte. Für den Fall, dass der Patient jedoch auf die Erstlinientherapie mit Folfirinox nicht anspreche, sei diese Wahrscheinlichkeit jedoch nochmals deutlich zu reduzieren, sodass er sachverständig eine konkrete Wahrscheinlichkeit, dass die Therapie anschlage, nicht angeben könne. Hieraus ist der Schluss zu ziehen, dass bei gescheiterter Erstlinientherapie mit Folfirinox die Therapie mit Gemcitabin keine klare Korrelation zwischen Behandlung und ggf. eintretender Stase zeigt, sodass eine objektiv begründete Aussicht auf eine Stase bei schulmedizinischer Behandlung nicht bestand.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten privatgutachterlichen Stellungnahmen. Die Stellungnahme des Privatgutachters C weist zwar für die schulmedizinische Therapie schlagwortartig eine Krankheitskontrolle von 58 Prozent und ein progressionsfreies Überleben von 5,1 Monaten aus („Medianes PFS 5,1 Monate“), ist aber aufgrund der Knappheit dieser Darstellung nicht geeignet, das Gutachtenergebnis des gerichtlichen Sachverständigen zu erschüttern. Insbesondere lässt sich dem Privatgutachten nicht entnehmen, ob die angeführten Werte auch für den Fall gelten, dass die Erstlinientherapie mit Folfirinox durchgeführt, aber ineffektiv geblieben ist. Bei der privatgutachterlichen Stellungnahme der Ärztin für Allgemeinmedizin A handelt es sich nicht um eine fachärztliche Einschätzung, sodass deren Aussagekraft insgesamt nicht als hoch angesehen werden kann. Zudem enthält diese Stellungnahme keine konkreten Aussagen zu einer Prognose bei Gabe von Gemcitabin.
Die Therapie mit dendritischen Zellen/Newcastle-Disease-Viren verfolgte im Prinzip dieselben Behandlungsziele wie die Schulmedizin (Stase des Tumors). Sie unterscheidet sich auch insofern nicht von der schulmedizinischen Therapie, als sie im maßgeblichen Zeitpunkt der Durchführung der Therapie ebenfalls keine valide Wahrscheinlichkeitsprognose zuließ, ob und in welchem Maße die Stase des Tumors eintreten würde, weil randomisierte Studien nicht vorhanden waren.
Insofern kamen zwei Therapiemöglichkeiten in Frage, bei denen sich ex ante keine verlässliche Prognose stellen ließ. Jedoch verband sich mit dem alternativen Ansatz die auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Aussicht, dass aufgrund des neuartigen Wirkprinzips sich im konkreten Fall des Ehemanns der Klägerin eine positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufs erzielen ließe, was genügt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Die Revision war gemäß § 543 Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen. Die Grundsätze der Auslegung von allgemeinen Versicherungsbedingungen sind in der Rechtsprechung geklärt. Dass die Auslegung der Klausel über den konkreten Rechtsstreit hinaus in Rechtsprechung und Rechtslehre oder in den beteiligten Verkehrskreisen umstritten ist, ist nicht dargetan (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 10.12.2003, IV ZR 319/02 - VersR 2004, 225).
29.06.2022
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden vom 22.07.2020 (Az. 5 O 121/18) wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das angefochtene Urteil und das Berufungsurteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 115% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 115% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt Kostenerstattung für medizinische Behandlungen ihres mittlerweile verstorbenen Ehemannes aus einem Vertrag über eine private Krankenversicherung i.H.v. 30.075,26 €.
Der Ehemann der Klägerin war versicherte Person eines privaten Krankenversicherungsvertrages, den die Klägerin bei der Beklagten unterhält. Diesem liegen die MB/KK 2009 sowie die „Tarifbedingungen der Krankenversicherung1“ zugrunde.
§ 4 Abs. 6 MB/KK 2009 lautet:
Der Versicherer leistet im vertraglichen Umfang für Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind. Er leistet darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso Erfolg versprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen; der Versicherer kann jedoch seine Leistungen auf den Betrag herabsetzen, der bei der Anwendung vorhandener schulmedizinischer Methoden oder Arzneimittel angefallen wäre.
Bei dem Ehemann der Klägerin wurde im März 2017 ein lokal inoperables, primär duktales Ardenokarzinom des Pankreaskopfes diagnostiziert. Zunächst wurde dieses von März bis Juli 2017 mit Folfirinox im Rahmen einer Chemotherapie behandelt. Währenddessen kam es zur Neubildung einer Lebermetastase. Der Tumor wurde auch nach dem Ende der Chemotherapie als inoperabel eingestuft. Eine Behandlung mit einem PD-L1-Blocker war nicht erfolgversprechend. Der Ehemann der Klägerin wurde anschließend im immunologisch-onkologischen Zentrum Stadt1 mit „Kieler Impfstoff aus dendritischen Zellen“, kombiniert mit onkolytischen Viren und Elektrohyperthermie, behandelt. Hierfür fielen Kosten an, welche die Beklagte als freiwillige Leistung zur Hälfte übernahm. Eine Erstattungsverpflichtung lehnte die Beklagte unter Berufung auf ein Privatgutachten von A (Anlage K3, Anlagenband) und C (Anlage K4, Anlagenband) ab. Die Klagesumme stellt den Restbetrag der nicht übernommenen Kosten dar.
Die Klägerin hat behauptet, die palliative Immuntherapie sei nach medizinischen Erkenntnissen wahrscheinlich geeignet gewesen, auf eine Verhinderung der Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinzuwirken. Eine Verlangsamung der Krankheit sei zumindest möglich. Dies ergebe sich aus einer 2017 publizierten Studie (Anlage K6, Anlagenband). Die Alternativtherapie ziele, anders als andere Palliativbehandlungen, auf eine signifikante Verlängerung der Lebenszeit.
Die Beklagte hat vorgetragen, die Wirkweise der dendritischen Zelltherapie/Virustherapie sei nicht hinreichend geklärt. Es gebe keine Belege zur Effektivität. Als schulmedizinische Behandlungsalternative i.S. einer Zweitlinientherapie habe eine palliative Chemotherapie zur Verfügung gestanden.
Wegen des erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien im Übrigen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Beklagte nach Beweisaufnahme durch das angefochtene Urteil vom 22.07.2020, das der Beklagten am 28.07.2020 zugestellt worden ist, zur Zahlung von 30.075,26 € nebst Verzugszinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten verurteilt und zur Begründung ausgeführt, die Therapiekosten seien als palliativmedizinisch notwendig anzusehen. Dem stehe nicht entgegen, dass als lebensverlängernde Maßnahme auch eine schulmedizinisch anerkannte Chemotherapie in Betracht komme. Für die Wirksamkeit der Immuntherapie gebe es zwar keinen klaren Nachweis, der Studie aus dem Jahr 2017 ließen sich aber Hinweise auf verlängertes Gesamtüberleben entnehmen, zumindest sei ein positiver Effekt auf eine gleichzeitig stattfindende Chemotherapie abzuleiten. Dem gerichtlichen Gutachten lasse sich die Aussage entnehmen, dass im Vergleich zur Chemotherapie bei vergleichbarer Lebensverlängerung eine höhere Verträglichkeit bestehe. Auf die zwischen den Parteien streitige Frage, ob eine palliative Chemotherapie wegen des schlechten gesundheitlichen Zustands zum Zeitpunkt des Beginns der Immuntherapie überhaupt möglich gewesen sei, komme es nicht an. Es sei einem todgeweihten Patienten zuzugestehen, bei der Wahl zwischen einer schulmedizinisch bewährten lebensverlängernden Maßnahme auch eine bei schwacher Studienlage möglicherweise in Bezug auf Lebensverlängerung weniger wirksame Methode zu wählen, von der er sich eine höhere Lebensqualität verspreche.
Hiergegen richtet sich die am 17.08.2020 eingelegte und am 23.09.2020 begründete Berufung der Beklagten. Die Beklagte begehrt weiterhin Klageabweisung und führt zur Begründung aus, § 4 Abs. 6 MB/KK 2009 verlange den Nachweis, dass sich die dendritische Zelltherapie auf eine gewisse Dauer als ebenso erfolgversprechend bewährt habe wie die Chemotherapie. Dieser sei nicht erbracht. Auch liege keine Kontraindikation für eine Chemotherapie vor. Auf die Frage, ob es sich um einen wissenschaftlich lediglich nachvollziehbaren Therapieansatz handele, komme es nicht an, weil es mit Gemcitabin eine schulmedizinische Behandlungsalternative mit gleicher Intention gebe. Das Landgericht setze sich auch nicht hinreichend mit den privatgutachterlichen Stellungnahmen der Beklagten auseinander.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des am 22.07.2020 verkündeten Urteils des LG Wiesbaden, Az. 5 O 121/18, die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und führt ergänzend aus, die palliative Chemotherapie habe zunächst aufgrund des Gesamtzustandes des Patienten nicht begonnen werden können. Nach Beginn der Immuntherapie, die von August 2017 bis März 2018 gedauert habe, habe sich der Zustand des Ehemanns der Klägerin enorm gebessert, sodass zwei Reisen möglich gewesen seien. Ende März 2018 seien weitere Lebermetastasen aufgetreten, sodass schließlich eine palliative Chemotherapie mit Gemcitabin begonnen worden sei.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Anhörung des Sachverständigen B. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll vom 27.04.2022 (Bl. 288 ff. d.A.) Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Es liegt kein Berufungsgrund im Sinne von § 513 ZPO vor, da die Entscheidung des Landgerichts weder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO beruht noch die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung in der Sache rechtfertigen.
Dass die Klägerin gegen die Beklagte dem Grunde nach Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen für Heilbehandlungen ihres Ehemannes gemäß §§ 1 und 4 Abs. 6 MB/KK 2009 hat, ist außer Streit. Nach § 1 Abs. 1 a), Abs. 2 S. 1 MB/KK hat die Klägerin grundsätzlich einen Anspruch auf Versicherungsschutz in Form des Ersatzes von Aufwendungen für eine Heilbehandlung, wenn diese medizinisch notwendig ist. Die streitgegenständliche ärztliche Behandlung wurde auch unstreitig wegen einer Krankheit im Sinne dieser Klausel durchgeführt.
Auch die weiteren Voraussetzungen der Eintrittspflicht liegen vor. Der Senat stützt dieses Ergebnis in tatsächlicher Hinsicht auf die Feststellungen des Sachverständigen B. Dessen Ausführungen waren in jeder Hinsicht ergiebig zur Beantwortung der zu stellenden Beweisfragen. Sie beruhten auf vollständiger Auswertung der Verfahrensakte und waren schlüssig, nachvollziehbar und ohne erkennbare Widersprüche. Einwände gegen das Gutachtenergebnis haben die Parteien nach Abschluss der Begutachtung durch Anhörung des Sachverständigen auch nicht vorgebracht.
Hieraus ergibt sich in rechtlicher Hinsicht, dass es sich bei der Behandlung mit dendritischen Zellen um eine Heilbehandlung i.S. § 1 Abs. 2 MB/KK 2009 handelt. Der Begriff der "Heilbehandlung“ ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes aus Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers nicht so zu verstehen, dass der Versicherungsfall nur die auf Heilung abzielende Behandlung ist. Der Inbegriff der Heilbehandlung ist nicht nur von den Resultaten, sondern auch von dem Zweck ärztlichen Handelns her zu bestimmen (vgl. Bach/Moser/Kalis, 5. Aufl. 2015, MB/KK § 1 Rn. 75). Als Heilbehandlung ist daher jegliche ärztliche Tätigkeit anzusehen, die durch die betreffende Krankheit verursacht worden ist, sofern die Leistung des Arztes von ihrer Art her in den Rahmen der medizinisch notwendigen Krankenpflege fällt und auf Heilung, Besserung oder auch Linderung der Krankheit abzielt. Dem ist eine ärztliche Tätigkeit gleich zu achten, die auf eine Verhinderung der Verschlimmerung einer Krankheit gerichtet ist.
Die streitgegenständlichen ärztlichen Leistungen zielten unstreitig jedenfalls darauf ab, die Symptome der Krebserkrankung zu lindern und den Gesundheitszustand des Ehemanns der Klägerin zu stabilisieren, also einer Verschlimmerung der Erkrankung entgegenzuwirken (vgl. BGH, Urteil vom 10.07.1996 - IV ZR 133/95, VersR 1996, 1224).
Aufgrund ihrer spezifischen Wirkweise ist die dendritische Zelltherapie auf die Zerstörung von Tumorzellen ausgerichtet und stellt somit eine Heilbehandlung dar. Der gerichtliche Sachverständige B hat dazu ausgeführt, dass das theoretische Konstrukt der Therapie mit dendritischen Zellen darin bestehe, dass diese Proteine aus dem extrazellulären Raum aufnähmen und sie an bestimmte Trägerproteine bänden. Dies nenne man dann ein sogenanntes Antigen, das sich an der Zelloberfläche befinde. Die T-Lymphozyten kontrollierten die extrazellulär aufgenommenen Proteine der dendritischen Zellen und zerstörten sie bei Auffälligkeiten. Insofern werde das Immunsystem angeregt, auch weitere spezifische Antikörper gegen die Proteinfragmente herzustellen. Tumorzellen exprimierten spezifische Proteine. Die aus dem Blut des Patienten gewonnenen dendritischen Zellen würden sodann mit diesen Proteinen beladen und lösten bei den T-Lymphozyten dann entsprechende Immunreaktionen aus. Es handele sich um eine spezifische Reduktion der Tumorzellen durch gezielte immunogene Zerstörung.
Vergleichbares gilt für die in Kombination mit den dendritischen Zellen begleitend durchgeführte onkolytische Virus-Therapie mit dem mit Gemcitabin. Die Hyperthermie-Behandlung, die zur Verstärkung der Immunabwehr eingesetzt wird, ist nach den Ausführungen des Sachverständigen ohnehin schulmedizinisch anerkannt und wird auch bei schulmedizinischer Chemotherapie angewandt.
Diese Heilbehandlungen waren vorliegend medizinisch notwendig i.S. § 1 Abs. 2 MB/KK 2009. Bei einer lebenszerstörenden, unheilbaren Erkrankung kann nicht mehr darauf abgestellt werden, ob sich die gewünschte Behandlung zur Erreichung des vorgegebenen Behandlungsziels tatsächlich eignet. Die objektive Vertretbarkeit der Behandlung ist bereits dann zu bejahen, wenn sie nach medizinischen Erkenntnissen im Zeitpunkt ihrer Vornahme als wahrscheinlich geeignet angesehen werden konnte, auf eine Verhinderung der Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinzuwirken. Dabei ist nicht einmal zu fordern, dass der Behandlungserfolg näherliegt als sein Ausbleiben. Vielmehr reicht es aus, wenn die Behandlung mit nicht nur ganz geringer Erfolgsaussicht die Erreichung des Behandlungsziels als möglich erscheinen lässt. Erforderlich ist insoweit nur ein nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbarer Ansatz, der die prognostizierte Wirkweise auf das angestrebte Behandlungsziel erklären kann (vgl. BGH, Beschluss vom 30.10.2013 - IV ZR 307/12, VersR 2013, 1558 Rn. 17). Eine hinreichende wissenschaftliche Evidenz für die Effektivität ist nicht erforderlich, sodass es auf die entsprechende negative Feststellung der wissenschaftlichen Evidenz für die Effektivität in der privatgutachterlichen Stellungnahme des Gutachters C sowie der Sachverständigen A nicht ankommt.
Dass die streitgegenständliche Behandlung auf einem - nach medizinischen Erkenntnissen - nachvollziehbaren Ansatz beruhte, hat der Sachverständige B im Rahmen seiner Anhörung ausdrücklich bestätigt und ausgeführt, dass es sich bei der Therapie mit dendritischen Zellen um einen wissenschaftlichen Ansatz handele, der durchaus auch auf klinischer Erfahrung beruhe. Der Ansatz werde in der Wissenschaft in breitem Umfang für die verschiedensten Krebsarten untersucht und sei auch im Jahr 2017 wissenschaftlich verfolgt worden. Es gebe auch schon einzelne Krebserkrankungen, wie z. B. eine Lymphomerkrankung bei Kindern, wo - basierend auf einem ähnlichen Ansatz - eine solche Krebstherapie erfolgreich durchgeführt werde. Auch die Virustherapie mit dem Newcastle-Disease-Virus sei wissenschaftlich mit großen Hoffnungen verbunden gewesen.
Die Beklagte kann sich auch nicht auf die Schulmedizinklausel des § 4 Abs. 6 Satz 1 MB/KK 2009 berufen, da hier die speziellere Regelung des § 4 Abs. 6 Satz 2 MB/KK 2009 einschlägig ist und zur Leistungspflicht der Beklagten führt.
Auf die Rüge der Berufung, das Landgericht habe die Voraussetzungen der 1. Variante des § 4 Abs. 6 Satz 2 MB/KK 2009 verkannt, kommt es streitentscheidend nicht an, denn die Leistungspflicht der Beklagten folgt aus der 2. Variante des § 4 Abs. 6 Satz 2 MB/KK 2009 (fehlende erfolgversprechende Heilmethode der Schulmedizin). Zwar hat der gerichtliche Sachverständige zunächst ausgeführt, dass zur leitliniengerechten Palliativbehandlung Gemcitabin/5FU oder Gemcitabin/Nab-Palitaxel als zugelassene schulmedizinische Alternativen zur Verfügung gestanden hätten. Dies hat er jedoch im Rahmen der mündlichen Anhörung dahingehend präzisiert, dass es sich insoweit nur um eine Zweitlinientherapie handelte und die Erkrankung des Ehemanns der Klägerin inkurabel und lebenszerstörend gewesen sei. Die 5-Jahres-Überlebensrate des metastasierten Pankreaskarzinoms - so wie es bei dem Ehemann der Klägerin es vorgelegen habe - betrage 0 %. Dies gelte sowohl bei einer Behandlung nach Methoden der Schulmedizin als auch bei alternativmedizinischer Behandlung.
Es kann vorliegend offenblieben, ob im Fall einer solchen Erkrankung zunächst der Versuch einer leitliniengerechten Therapie zu machen ist, bevor auf Außenseitermethoden zurückgegriffen werden kann. Jedenfalls muss sich die versicherte Person dann nicht auf eine Zweitlinientherapie verweisen lassen, wenn die Erstlinientherapie - wie hier - versucht wurde, aber keinen Behandlungserfolg erbracht hat, dadurch ein Behandlungserfolg der Zweitlinientherapie nahezu aussichtslos geworden ist und gerade der neuartige wissenschaftlich fundierte Ansatz der Alternativtherapie die nicht ganz entfernte Aussicht begründet, einen über die palliative Standardtherapie hinausreichenden Erfolg zu erbringen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 30.10.2013 - IV ZR 307/12, VersR 2013, 1558 Rn. 24).
Dies folgt aus der Auslegung der 2. Variante des § 4 Abs. 6 S. 2 MB/KK 2009. Die Wendung in der deckungserweiternden Klausel, dass „keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen“ ist so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 5. September 2018 - 7 U 25/16 -, juris Rn. 25). Ein durchschnittlicher Versicherter in der Situation des Ehemanns der Klägerin wird die Frage, ob ein bestimmtes schulmedizinisches Arzneimittel „zur Verfügung“ steht nicht schon dann bejahen, wenn es ein zugelassenes und lieferbares Präparat gibt, das bei der Behandlung eingesetzt wird, sondern wird den Begriff „zur Verfügung“ unter Berücksichtigung des Behandlungszwecks - Heilung, Linderung, Verlangsamung des Verlaufs - vielmehr dahingehend begreifen, dass er sich nicht auf nahezu aussichtslose schulmedizinische Methoden verweisen lassen muss. Erwiesen unwirksame schulmedizinische Ansätze würde ein Versicherter gerade bei Vorliegen einer schnell fortschreitenden und lebensbedrohlichen Erkrankung als praktisch nicht zur Verfügung stehend ansehen und hieraus folgern, dass er in dieser Situation zu neuartigen Behandlungsformen greifen kann, auch wenn deren möglicherweise gleichermaßen geringe Eignung wie der schulmedizinische Ansatz mangels Studien nur noch nicht feststeht, dessen erhoffte bessere Eignung sich jedoch aus einem fundierten wissenschaftlichen Ansatz ergibt.
Beide Behandlungsansätze (Chemotherapie mit Gemcitabin und alternative Therapie) dienten vorliegend demselben Ziel, nämlich der Zerstörung von Tumorzellen, wie oben dargestellt. Die schulmedizinische Zweitlinienbehandlung mit Gemcitabin gab nach den Ausführungen des Sachverständigen als Behandlungsziel vor, dass mit einer geringen Wahrscheinlichkeit von etwa 15-20 % eine Stase des Tumors zu erzielen sei, wobei die 5-Jahres-Lebenserwartung sich nicht verbesserte. Für den Fall, dass der Patient jedoch auf die Erstlinientherapie mit Folfirinox nicht anspreche, sei diese Wahrscheinlichkeit jedoch nochmals deutlich zu reduzieren, sodass er sachverständig eine konkrete Wahrscheinlichkeit, dass die Therapie anschlage, nicht angeben könne. Hieraus ist der Schluss zu ziehen, dass bei gescheiterter Erstlinientherapie mit Folfirinox die Therapie mit Gemcitabin keine klare Korrelation zwischen Behandlung und ggf. eintretender Stase zeigt, sodass eine objektiv begründete Aussicht auf eine Stase bei schulmedizinischer Behandlung nicht bestand.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten privatgutachterlichen Stellungnahmen. Die Stellungnahme des Privatgutachters C weist zwar für die schulmedizinische Therapie schlagwortartig eine Krankheitskontrolle von 58 Prozent und ein progressionsfreies Überleben von 5,1 Monaten aus („Medianes PFS 5,1 Monate“), ist aber aufgrund der Knappheit dieser Darstellung nicht geeignet, das Gutachtenergebnis des gerichtlichen Sachverständigen zu erschüttern. Insbesondere lässt sich dem Privatgutachten nicht entnehmen, ob die angeführten Werte auch für den Fall gelten, dass die Erstlinientherapie mit Folfirinox durchgeführt, aber ineffektiv geblieben ist. Bei der privatgutachterlichen Stellungnahme der Ärztin für Allgemeinmedizin A handelt es sich nicht um eine fachärztliche Einschätzung, sodass deren Aussagekraft insgesamt nicht als hoch angesehen werden kann. Zudem enthält diese Stellungnahme keine konkreten Aussagen zu einer Prognose bei Gabe von Gemcitabin.
Die Therapie mit dendritischen Zellen/Newcastle-Disease-Viren verfolgte im Prinzip dieselben Behandlungsziele wie die Schulmedizin (Stase des Tumors). Sie unterscheidet sich auch insofern nicht von der schulmedizinischen Therapie, als sie im maßgeblichen Zeitpunkt der Durchführung der Therapie ebenfalls keine valide Wahrscheinlichkeitsprognose zuließ, ob und in welchem Maße die Stase des Tumors eintreten würde, weil randomisierte Studien nicht vorhanden waren.
Insofern kamen zwei Therapiemöglichkeiten in Frage, bei denen sich ex ante keine verlässliche Prognose stellen ließ. Jedoch verband sich mit dem alternativen Ansatz die auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Aussicht, dass aufgrund des neuartigen Wirkprinzips sich im konkreten Fall des Ehemanns der Klägerin eine positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufs erzielen ließe, was genügt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Die Revision war gemäß § 543 Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen. Die Grundsätze der Auslegung von allgemeinen Versicherungsbedingungen sind in der Rechtsprechung geklärt. Dass die Auslegung der Klausel über den konkreten Rechtsstreit hinaus in Rechtsprechung und Rechtslehre oder in den beteiligten Verkehrskreisen umstritten ist, ist nicht dargetan (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 10.12.2003, IV ZR 319/02 - VersR 2004, 225).
RechtsgebieteMB/KK 2009, VVGVorschriften§ 1 Abs. 2 MB/KK 2009, § 4 Abs. 6 MB/KK 2009, § 192 Abs. 1 VVG