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  • · Fachbeitrag · Unfallschadensregulierung

    Reparaturkostenersatz oberhalb der 130 Prozent-Grenze

    • 1. Ein Geschädigter kann Ersatz der angefallenen Reparaturkosten innerhalb der 130 Prozent-Grenze verlangen, solange er sein Fahrzeug vollständig und fachgerecht reparieren lässt und damit der vor dem Unfall bestehende Zustand wiederhergestellt wird. Eine Reparatur exakt gemäß den Vorgaben des Schadensgutachtens ist nicht erforderlich.
    • 2. Eine geringfügige Überschreitung der 130 Prozent-Grenze steht einem Anspruch auf vollständigen Ersatz der Reparaturkosten nicht entgegen.
    • 3. Ein Geschädigter, dem es entgegen der Einschätzung des Schadensgutachtens gelingt, eine vollständige und fachgerechte Reparatur innerhalb der 130 Prozent-Grenze durchzuführen, kann vollständigen Ersatz der Reparaturkosten bis zu 130 Prozent des Wiederherstellungswerts (gemeint: Wiederbeschaffungswert) verlangen, sofern bei Erteilung des Reparaturauftrags abzusehen war, dass eine Reparatur innerhalb der 130 Prozent-Grenze möglich sein wird.

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    Der Reparaturaufwand für den Front- und Seitenschaden an dem Pkw des Kl. betrug lt. Gutachten 11.468,42 EUR brutto - fast doppelt so viel wie der auf 5.950 EUR geschätzte Wiederbeschaffungswert. Minderwert: keine Angabe; Restwert 400 EUR. Der Anwalt des Kl. teilte dem bekl. VR mit, der Mandant beabsichtige, sein Fahrzeug mit einem Kostenaufwand innerhalb der 130 Prozent-Grenze reparieren zu lassen. Statt der erbetenen Bestätigung schickte der VR einen Scheck mit Abrechnung auf Totalschadensbasis. Später teilte er jedoch mit, eine weitere Entschädigung sei erst nach Vorlage einer Reparaturrechnung möglich. Der Kl. ließ sein Fahrzeug daraufhin in einer freien Werkstatt reparieren, wobei ihm ein nicht näher bezifferter Rabatt eingeräumt wurde. Entgegen dem Gutachten wurden der Frontstoßfänger, ein Vorderkotflügel und die Fahrertür nicht durch Neuteile ersetzt, sondern instand gesetzt. Einschließlich der Lackierung in einem anderen Betrieb entstanden dem Kl. Kosten von 7.755,21 EUR brutto, damit 25 EUR = 0,34 Prozent über der 130 Prozent-Grenze.

     

    Das AG hat ein Gutachten zur Fachgerechtigkeit der Reparatur eingeholt und sodann die Klage abgewiesen. Allerdings nicht wegen unzulänglicher Instandsetzung, sondern mit dem Argument, der Kl. habe aufgrund des Schadensgutachtens auf eine Erstattung der tatsächlichen Reparaturkosten nicht vertrauen dürfen. Zudem sei die Grenze, wenn auch nur knapp, überschritten. Die Berufung des Kl. war erfolgreich.

     

    Das LG hat zusätzlich Beweis erhoben durch Vernehmung von Mitarbeitern der beiden vom Kl. beauftragten Werkstätten. Thema: Höhe der Kosten, die man dem Kl. vorab mitgeteilt hat. Anders als das AG hat das LG die Reparaturkostenabrechnung anerkannt. Dem Kl. sei der Nachweis einer wirtschaftlich vernünftigen Reparatur gelungen, so die Quintessenz der sehr ausführlichen Urteilsbegründung. Das LG sieht mehrere Fragen der 130 Prozent-Abrechnung im Bereich „130 Plus“ als höchstrichterlich ungeklärt an, weshalb es die Revision zulässt. Ohne tragende Bedeutung für das Urteil ist der abschließende Vorwurf des LG an die Adresse des bekl. VR. Durch sein widersprüchliches Regulierungsverhalten habe er sich „treuwidrig“ verhalten.

     

    Praxishinweis

    Keine andere Schadensstufe ist derzeit so konfliktträchtig wie die Stufe vier (130 Plus). Der neueste Stand der BGH-Rechtsprechung zu diesen facettenreichen Fällen, nach der Papierform (Gutachten) glatte wirtschaftliche Totalschäden, ergibt sich aus der Entscheidung des VI. ZS vom 15.11.11, VI ZR 30/11, VA 12, 1. Auf den dortigen Praxishinweis wird ebenso verwiesen wie auf die Hinweise zur „Rabatt-Trick“-Entscheidung BGH VA 11, 73 und zum 170 Prozent-Fall BGH VA 11, 37 mit effektiven Reparaturkosten unter dem WBW.

     

    Wie das LG richtig sieht, hat der BGH bisher nicht entschieden, ob der Geschädigte Ersatz der tatsächlich angefallenen Reparaturkosten verlangen kann, wenn diese über dem WBW, aber innerhalb der 130 Prozent-Grenze liegen. Mit guten Gründen bejahend W. Wellner vom BGH (VI. ZS), NJW 12, 7, 11. Anschlussproblem: Darf es auch „ein bisschen mehr sein“, z.B. 0,34 Prozent wie im Itzehoer Fall?

     

    Und was hat es mit der BGH-Forderung „ ... und den Vorgaben des Sachverständigen entsprechende Reparatur“ konkret auf sich? Gebrauchte Ersatzteile ja (BGH VA 11, 37), aber auch Richten statt teures Tauschen? Auch hier sieht das LG Itzehoe mit Recht Klärungsbedarf. Interessant ist sein Urteil ferner mit Blick auf die taktische Vorgehensweise des Geschädigten und seines Anwalts: Reparaturkosten in freier Werkstatt kalkulieren lassen (oder Alternativgutachten einholen) und dann dem VR die Reparaturabsicht mitteilen. Tritt er dem nicht eindeutig und unmissverständlich entgegen, hat der Geschädigte einen weiteren Trumpf in der Hand. Zusätzliche Hinweise zum praktischen Vorgehen im Schwerpunktbeitrag VA 09, 149 ff. und im Praxishinweis zu LG Stuttgart VA 12, 145. Übrigens: In der Stuttgarter Sache hat der VR die zugelassene Revision nicht eingelegt. Vermutlich wird auch die Itzehoer Sache nicht zum BGH gehen. Warum wohl?

     

    Weiterführender Hinweis

    • Arbeitshilfe Abrechnung des Fahrzeugschadens nach BGH: VA 12, 171
    Quelle: Ausgabe 03 / 2013 | Seite 38 | ID 37998810