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  • · Fachbeitrag · Unfallschadensregulierung

    Oft übersehen: Die erweiterte Kausalitätsbetrachtung

    • 1. Ein Geschwindigkeitsverstoß ist für den Schaden auch dann kausal - und bei der Haftungsabwägung nach § 17 StVG zu gewichten -, wenn der Unfall bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit zwar nicht vermieden, die Unfallfolgen aber wesentlich geringer ausgefallen wären.
    • 2. Ist eine Aufklärung, wie sich der Schaden bei verkehrsgerechtem Verhalten exakt ereignet hätte, mit zumutbarem forensischen Aufwand nicht zu leisten, kann der Verursacherbeitrag in Gestalt einer einheitlichen Haftungsquote angerechnet werden.

    (OLG Saarbrücken 14.8.14, 4 U 150/13, Abruf-Nr. 143228)

     

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    Der unfallbedingt verstorbene Ehemann der Kl. war Fahrer/Halter eines BMW Z4. Vor ihm fuhr der Bekl. mit einem bei der Bekl. haftpflichtversicherten SUV mit Anhänger. In der Absicht, auf der innerörtlichen Straße zu wenden, um wieder in Richtung Ortsmitte zu fahren, lenkte er sein Gespann zunächst auf den rechten Gehweg, um von dort aus in einem Zug zu wenden. Bei diesem Manöver fuhr der nicht angeschnallte Ehemann der Kl. von hinten auf das Gespann auf. Die Annäherungsgeschwindigkeit war zwar deutlich höher als 50 km/h. Das LG, sachverständig beraten, hat sich aber nicht davon überzeugen können, dass die Kollision bei Tempo 50 km/h vermeidbar gewesen wäre.

     

    Das LG hat die Bekl. hinsichtlich der Sachschäden nach einer Quote von 1/3 zu 2/3 zum Nachteil der Bekl., hinsichtlich der Personenschäden wegen des (zusätzlichen) Verstoßes gegen die Anschnallpflicht auf Basis 50 : 50 verurteilt. Beide Seiten haben Berufung eingelegt, mit denen sie sich ausschließlich gegen die Haftungsverteilung wenden.

     

    Das OLG weist beide Rechtsmittel zurück. Dem Bekl. legt der Senat unfallursächliche Verstöße gegen § 9 Abs. 5 und § 10 StVO (Anfahren vom Fahrbahnrand) zur Last. Aufseiten der Kl. sieht er gleichfalls einen unfallursächlichen Fahrfehler, entgegen dem LG allerdings kein Auffahrverschulden nach Anscheinsbeweisregeln. Die erforderliche „empirische Typizität“ sei nicht nachgewiesen, wenn sich ein Unfall, wie hier, im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Anfahrvorgang ereigne.

     

    Sodann geht das OLG auf das Hauptproblem ein: die Ursächlichkeit des Geschwindigkeitsverstoßes. Als solcher stand er fest (mind. 71, max. 105 km/h). Um bei der Haftungsabwägung nach § 17 StVG zulasten der Kl. berücksichtigt werden zu können, bedurfte es darüber hinaus eines zweifelsfrei erwiesenen Ursachenzusammenhangs. Davon, dass die Kollision bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit räumlich oder zeitlich vermeidbar gewesen wäre, hat sich auch das OLG nicht überzeugen können. Anders als das LG geht es nun einen entscheidenden Schritt weiter, indem es nach einem ursächlichen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeitsüberschreitung und den Unfallfolgen fragt.

     

    Nach Ansicht des OLG reicht es aus, wenn der Verkehrsverstoß „auf der Ebene der haftungsausfüllenden Kausalität“ für die Höhe des entstandenen Schadens ursächlich geworden ist. Davon sei hier sowohl für den Sach- als auch in Bezug auf den Personenschaden auszugehen. Begründung: Bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit hätte die Kollisionsgeschwindigkeit nur ca. ein Drittel der tatsächlichen Kollisionsgeschwindigkeit betragen. Es sei „nicht erfahrungswidrig“ anzunehmen, dass sowohl der Personen- als auch der Sachschaden in diesem Fall wesentlich geringer ausgefallen wären. Von einer genauen Unfallfolgenanalyse sieht der Senat ab - auch aus Gründen der Prozessökonomie. Im Anschluss an das KG (NJW 06, 1677) entscheidet er sich für eine pauschalierende Einheitslösung über sämtliche Schadenspositionen hinweg (Leitsatz 2). Abwägungsergebnis (ohne Berücksichtigung des Verstoßes gegen die Anschnallpflicht): 1/3 : 2/3 zum Nachteil der Bekl.

     

    Praxishinweis

    Zu-schnell-Fahrer kommen haftungsrechtlich oft ungeschoren davon, weil die Gerichte bei erwiesener ebenso wie bei nur möglicher Unvermeidbarkeit die Prüfung einstellen, so wie hier die Vorinstanz. Das OLG Saarbrücken vermeidet diesen Fehler, indem es die erforderliche Kausalitätsprüfung auf die Unfallfolgen ausdehnt. Insoweit von haftungsausfüllender Kausalität zu sprechen, ist freilich zumindest missverständlich.

     

    Zunächst geht es im Rahmen der Haftungsverteilung nach § 17 StVG um die Frage, ob der feststehende Geschwindigkeitsverstoß betriebsgefahrerhöhend berücksichtigt werden kann. Dazu müsste er sich auf den Unfall ausgewirkt haben. Zu bejahen ist das bei feststehender Vermeidbarkeit (räumlich oder zeitlich). Nach ständiger BGH-Rspr. aber auch dann, wenn die Unfallfolgen bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit deutlich geringer ausgefallen wären. Auch für diese zweite, weithin unbekannte Fragestellung gilt im Ausgangspunkt das Beweismaß des § 286 ZPO.

     

    Ob bei zulässiger Geschwindigkeit deutlich weniger passiert wäre oder - anders gefragt - ob die Geschwindigkeitsüberschreitung zu einem Mehr an Schaden geführt hat, bedarf sorgfältiger Aufklärung. Hinsichtlich der Fahrzeugbeschädigungen auf die allgemeine Lebenserfahrung (oder eine tatsächliche Vermutung) zurückzugreifen, wenn die reale Kollisionsgeschwindigkeit deutlich über der hypothetischen liegt, mag noch angehen. Doch selbst auf diesem relativ überschaubaren Feld ist Vorsicht geboten, denn die Formel „zulässiges Tempo = geringerer Fahrzeugschaden“ geht nicht immer auf. Er kann sogar höher sein, z.B., wenn im hypothetischen Szenario ein drittes Fahrzeug ins Spiel kommt. Im Übrigen: Eine Intensivierung der Beschädigungen kann schadensrechtlich auch neutral sein („kaputt ist kaputt“).

     

    Jedenfalls in Bezug auf die letztlich tödlichen Unfallverletzungen hätte das OLG auf eine genaue Unfallfolgenanalyse nicht verzichten dürfen. Dazu bestand umso mehr Anlass, als der BMW-Fahrer nicht nur zu schnell, sondern obendrein nicht angeschnallt war. Angeschnallt und Tempo 50 und er wäre höchstwahrscheinlich noch am Leben. Angesichts dessen Beerdigungskosten im Umfang von 1/2 zuzusprechen, ist mehr als fragwürdig.

     

    Der „forensische Aufwand“ ist entgegen dem OLG Saarbrücken kein Kriterium. Die ihm vorschwebende Beweismaßabsenkung auf das Niveau des § 287 ZPO kommt erst dann in Betracht, wenn es bei feststehender Unfallfolgen-Kausalität darum geht, das Ausmaß des Mehrschadens zu ermitteln und zu gewichten. Dabei alle Schadenspositionen (Sach- und Personenschaden) ohne Sachaufklärung über einen Kamm zu scheren, ist verfehlt. Das KG, Vorbild für das OLG Saarbrücken, hatte es ausschließlich mit Verletzungen eines Fußgängers zu tun, Sachschaden stand nicht im Raum. Ebenso lag es im Fall OLG Düsseldorf 20.6.05, I-1 U 237/04, Abruf-Nr. 090571, wo der Senat eine Parallele zur Einheitsquotenbildung bei Anschnallverstößen zieht. Bei alledem hätte das OLG Saarbrücken gut daran getan, die Revision zuzulassen, so wie das KG a.a.O. Zur höchstrichterlich in den Details nach wie vor ungeklärten Problematik der „erweiterten Kausalitätsbetrachtung“ näher Eggert VA 09, 42.

     

    Festzuhalten ist: Spätestens dann, wenn die „normale“ Vermeidbarkeitsprüfung für die Gegenseite günstig auszufallen droht (Achtung! Unfallgutachten und ihre Interpretation durch die Gerichte sind gerade hier besonders fehleranfällig), muss der Anwalt das Gericht ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer „erweiterten Kausalitätsbetrachtung“ aufmerksam machen. Dazu ist Sachverständigenbeweis anzutreten, bei Körperverletzungen auch durch medizinisches Gutachten. Zum Einfluss einer überhöhten Geschwindigkeit auf die Unfallfolgen informativ Golder (Unfallanalytiker) in NZV 07, 10.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Beitrag „Fehler bei der Haftungsverteilung und ihre Korrektur in der Rechtsmittelinstanz“, Eggert VA 14, 43.
    Quelle: Ausgabe 12 / 2014 | Seite 201 | ID 43055385