02.10.2025 · IWW-Abrufnummer 250489
Oberlandesgericht Brandenburg: Beschluss vom 21.07.2025 – 1 ORbs 98/25
1. Eine Krankheit stellt einen ausreichenden Entschuldigungsgrund dar, wenn sie nach ihrer Art und nach ihren Wirkungen, insbesondere nach dem Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar erscheinen lässt.
2. Ebenso wenig wie z.B. eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung automatisch die Verhandlungsunfähigkeit einschließt, führt nicht jede Erkrankung zur Verhandlungsunfähigkeit eines Betroffenen. Bei der Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit kommt es nicht allein auf die medizinische Schwere einer Gesundheitsstörung an. Entscheidend ist vielmehr, in welchem Ausmaß eine Erkrankung die einem Betroffenen in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Für die Klärung dieser Rechtsfrage kommt es allein auf die wirkliche Sachlage an; dem Tatgericht steht dabei kein Ermessensspielraum zu. Es ist gehalten, bei Zweifeln an einem berechtigten Fernbleiben im Termin von Amts wegen im Freibeweis, etwa durch Erkundigungen beim behandelnden Arzt oder durch eine amtsärztliche Untersuchung zu klären, ob das Ausbleiben genügend entschuldigt ist.
In pp.
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Zehdenick vom 23. November 2023 mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens, an das Amtsgericht Zehdenick zurückverwiesen.
Gründe
I.
1. Der Landrat des Landkreises Oberhavel, Dezernat IV, FB Verkehr und Ordnung, hat gegen die Betroffene mit Bußgeldbescheid vom 11. April 2022 wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um mindestens 33 km/h (nach Toleranzabzug), was mit dem Pkw amtliches Kennzeichen ... (Kennz. 01) am ... (Datum 01) um 1:02 Uhr in der … (Adresse 01), Fahrtrichtung Oranienburg, begangen worden sein soll, eine Geldbuße von 270,00 € festgesetzt sowie ein Fahrverbot von einem Monat unter Einräumung der Gestaltungsmöglichkeit nach § 25 Abs. 2a StVG angeordnet.
Nach form- und fristgerecht erhobenen Einspruch hat das Amtsgericht Zehdenick nach zahlreichen Terminverschiebungen, u.a wegen urlaubsbedingter Ortsabwesenheit des Verteidigers, Terminüberschneidung, Erkrankung der Betroffenen, zuletzt mit Verfügung vom 23. Oktober 2023 Termin zur Hauptverhandlung auf den 23. November 2023, 14:00 Uhr anberaumt. Ausweislich der Zustellungsurkunde wurde die Ladung der Betroffenen am 3. November 2023 zugestellt.
Mit Anwaltsschriftsatz vom 23. November 2023 teilte der Verteidiger dem Bußgeldgericht mit, dass seine Mandantin an einer „Corona-Infektion mit hohem Fieber“ erkrankt und bettlägerig sei und daher nicht zur Hauptverhandlung anreisen könne. Zum Nachweis übersandte der Verteidiger der Betroffenen eine ärztliche Bescheinigung der Fachärztin für Allgemeinmedizin ... (Name 01) aus ... (Adresse 02), über die „Arbeitsunfähigkeit“ vom 22. November 2023 bis zum 24. November 2023, festgestellt am 23. November 2023, mit der ICD-10 Diagnose „B34.9 G“. Nachdem das Bußgeldgericht ebenfalls am 23. November 2023 dem Verteidiger der Betroffenen mitgeteilt hatte, dass der „heutige Termin“ nicht aufgehoben werde, da bisher „kein Terminaufhebungsgrund bzw. keine Verhandlungs- oder Reiseunfähigkeit der Betroffenen glaubhaft gemacht“ worden sei, hat der Verteidiger mit weiterem Anwaltsschriftsatz ebenfalls vom 23. November 2023, 12:14 Uhr das Foto eines „Covid-19 Antigen“ Tests übersandt, das einen positiven Corona-Test belegen soll. Um 12:55 Uhr vermerkt die Bußgeldrichterin, dass der Termin um 14:00 Uhr „trotzdem nicht aufgehoben“ werde.
Nachdem zum Hauptverhandlungstermin am 23. November 2023 weder die Betroffene noch ihr Verteidiger erschienen waren, hat das Bußgeldgericht durch Urteil vom selben Tag den Einspruch der Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid Landrates des Landkreises Oberhavel, FB Verkehr und Ordnung, vom 11. April 2022 mit der Begründung verworfen, dass die Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt zur Hauptverhandlung nicht erschienen war. In den Urteilsgründen heißt es dazu:
„Die von der Betroffenen angegebenen Gründe vermögen das Fernbleiben nicht zu entschuldigen. Es wurde lediglich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und keine Bescheinigung über die Verhandlungsunfähigkeit bzw. Reisefähigkeit übersandt. Die Behauptung, dass die Betroffene Corona habe, wurde lediglich durch ein Foto eines positiven Testes und nicht durch Testnachweis eines Arztes belegt.“
Das Urteil nebst Gründe ist Bestandteil des Protokolls über die Hauptverhandlung vom 23. November 2023. Ebenfalls am 23. November 2023 verfügte die Bußgeldrichterin die förmliche Zustellung der Urteilsausfertigung per Empfangsbekenntnis mit Rechtsmittelbelehrung an den Verteidiger sowie die formlose Übersendung einer Urteilsabschrift an die Betroffene.
Mit Anwaltsschriftsätzen vom 20. März 2024 und vom 26. Juni 2024 bat die Betroffene „um Herreichung des Einstellungsbeschlusses“.
Erst am 10. Juli 2024 wurde die Urteilsabschrift dem Verteidiger der Betroffenen per Telefax zugestellt, was er mit Empfangsbekenntnis vom selben Tag bestätigt hat.
2. Mit Anwaltsschriftsatz vom 11. Juli 2024 hat der Verteidiger der Betroffenen Wiedereinsetzung in die Hauptverhandlung und Akteneinsicht beantragt sowie zugleich „gegen die Entscheidung des Gerichts Rechtsmittel sowie Rechtsbeschwerde eingelegt“. Zum Wiedereinsetzungsantrag wird unter Bezugnahme auf die Anwaltsschriftsätze vom 23. November 2023 ausgeführt, dass die Betroffene am Verhandlungstag an einer Corona-Infektion mit hohem Fieber gelitten habe und bettlägerig gewesen sei, was durch die „einzig mögliche“ ärztliche Bescheinigung nachgewiesen worden sei.
Mit Beschluss vom 29. November 2024 hat das Amtsgericht Zehdenick den Antrag der Betroffenen auf Wiedereinsetzung in die Hauptverhandlung verworfen; die dagegen erhobene sofortige Beschwerde hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin als Beschwerdekammer am 7. April 2025 (11 Qs 5/25 OWi) zurückgewiesen.
II.
Nachdem die Beschwerdekammer des Landgerichts Neuruppin den vorgreiflichen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Hauptverhandlung rechtskräftig zurückgewiesen hat, ist über die zugleich erhobene Rechtsbeschwerde zu entscheiden.
1. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Verwerfungsurteil des Amtsgerichts Zehdenick vom 23. November 2023 ist gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 OWiG statthaft und entsprechend den §§ 79 Abs. 3 OWiG, 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht bei Gericht angebracht worden.
Die Rechtsbeschwerdeeinlegung und zugleich Rechtsbeschwerdebegründung vom 11. Juli 2024, mit dem die Betroffene die unzureichende Berücksichtigung des Entschuldigungsschreibens, mithin die Verletzung rechtlichen Gehörs rügt (vgl. OLG Köln VRS 95, S. 383), genügt den an die Verfahrensrüge zu stellenden Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG.
Nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO muss der Tatsachenvortrag so vollständig sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Rechtsmittelbegründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn das tatsächliche Vorbringen zutrifft, was vorliegend der Fall ist.
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gibt einen Anspruch darauf, sich zu allen entscheidungserheblichen und dem Betroffenen nachteiligen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern (OLG Köln ZfS 2002, S. 254; BayObLG ZfS 2001, S. 185; Senatsbeschluss vom 10. Januar 2021, (1 Z) 53 Ss-OWi 586/21 (348/21); Senatsbeschluss vom 13. Oktober 2016, (1 Z) 53 Ss-OWi 588/16 (308/16); Senatsbeschluss vom 26. Februar 2024, 1 ORBs 93/24; Senatsbeschluss vom 9. November 2011 - 1 Ss (OWi) 208 Z/11 -; Senatsbeschluss vom 25. September 2006 - 1 Ss (OWi) 172 B/06 -; Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2007 - 1 Ss (OWi) 254 Z/07 -). Wird eine solche Rechtsverletzung geltend gemacht, muss zwar grundsätzlich dargelegt werden, was bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen worden wäre (BayObLG NJW 1992, S. 1907). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte ferner, die Ausführungen von Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen; die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachen müssen in den Entscheidungsgründen dargelegt werden (vgl. BVerfG NJW 1996, S. 2785).
Bei einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG kann ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG jedoch schon dann gegeben sein, wenn die Einspruchsverwerfung rechtsfehlerhaft war (vgl. OLG Köln VRS 94, S. 123). Die Rechtsmittelbegründung muss hierzu an sich in einer dem § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Form rügen, dass die Einspruchsverwerfung unzulässig war und welcher Sachvortrag infolge der Einspruchsverwerfung unberücksichtigt geblieben ist oder was der Betroffene im Fall seiner Anhörung vorgebracht hätte. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die Verletzung rechtlichen Gehörs darin liegen soll, dass erhebliches Verteidigungsvorbringen nicht zur Kenntnis genommen und berücksichtigt worden ist. Wird bei einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG das Entschuldigungsvorbringen des Betroffenen nicht berücksichtigt (vgl. BayObLG NJW 1992, S. 288; OLG Köln VRS 94, S. 123) oder ein Antrag auf Entbindung von der Erscheinungspflicht (§ 73 Abs. 2 OWiG) nicht oder rechtsfehlerhaft beschieden, bedarf es für die Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs keiner Angaben über Gegenstand und Inhalt etwaig dem Betroffenen „abgeschnittenen“ Vorbringens in der Hauptverhandlung; die Versagung des rechtlichen Gehörs liegt in diesen Fällen in der Nichtberücksichtigung des Entschuldigungs- bzw. Antragsvorbringens, nicht darin, dass dem Betroffenen die Möglichkeit genommen wird, sich zu dem Tatvorwurf zu äußern, bzw. dass durch eine unzulässige Einspruchsverwerfung die Einlassung des Betroffenen in der Sache unberücksichtigt bleibt (vgl. OLG Köln NZV 1999, S. 264; st. Senatsrechtsprechung, vgl. Senatsbeschluss vom 26. Februar 2024, 1 ORBs 93/24; Senatsbeschluss vom 10. Januar 2021, (1 Z) 53 Ss-OWi 586/21 (348/21); Senatsbeschluss vom 13. Oktober 2016, (1 Z) 53 Ss-OWi 588/16 (308/16); Senatsbeschluss vom 1. September 2011 - 1 Ss (OWi) 146 Z/11 -; Senatsbeschluss vom 9. November 2011 - 1 Ss (OWi) 208 Z/11 -; Senatsbeschluss vom 3. Januar 2006 - 1 Ss (OWi) 270 B/05 -, Senatsbeschluss vom 25. September 2006 - 1 Ss (OWi) 172 B/06 -; Senatsbeschluss vom 22. November 2007 - 1 Ss 251/07 -; Senatsbeschluss vom 15. Dezember 2007 - 1 Ss (OWi) 254 Z/07 -). Diesen Vorgaben wird die Rechtsbeschwerdebegründung noch gerecht, die rügt, das Amtsgericht habe rechtsfehlerhaft trotz vorgebrachter Entschuldigung ein Verwerfungsurteil erlassen und mit der auf das vorgelegte ärztliche Attest Bezug genommen wird. Aus dem Verwerfungsurteil ergibt sich, dass die Betroffene Entschuldigungsgründe vorgebracht hat. In diesen Fällen genügt es, wenn die Betroffene vorträgt, das Amtsgericht habe das Ausbleiben nicht als unentschuldigt ansehen dürfen (vgl. Senatsbeschluss vom 10. Januar 2021, (1 Z) 53 Ss-OWi 586/21 (348/21); Senatsbeschluss vom 13. Oktober 2016, (1 Z) 53 Ss-OWi 588/16 (308/16); Senatsbeschluss vom 9. November 2011 - 1 Ss (OWi) 208 Z/11 -; Senatsbeschluss vom 17. Juni 1999 - 1 Ss (OWi) 61 B/99; Senatsbeschluss vom 1. Oktober 2007 - 1 Ss (OWi) 166 B/07 -; OLG Karlsruhe NJW 1995, S. 2571; OLG Köln VRS 72, S. 442; OLG Köln VRS 92, S. 259, 260).
Unbeachtlich ist auch, dass die Ausführungen zum Entschuldigungsvorbringen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dargelegt werden und nicht noch einmal im Zusammenhang mit der im selben Schriftsatz eingelegten Rechtsbeschwerde. Die Wiederholung voran geschriebenes oder eine entsprechende Bezugnahme zu verlangen, würde eine bloße Förmelei darstellen und der Bedeutung des Verfassungsgrundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs nicht gerecht werden.
2. In der Sache hat die Rechtsbeschwerde mit der erhobenen Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs (vorläufigen) Erfolg.
Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung ist § 74 Abs. 2 OWiG eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift, die sich bei der Frage der genügenden Entschuldigung in Zweifelsfällen zu Gunsten des Betroffenen auswirkt (vgl. OLG Stuttgart Justiz 2004, 126 m. zahlr. N.; BayObLG StV 2001, 338). Entscheidend ist nicht, ob sich der Betroffene genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist (ganz h. Mg., vgl. statt vieler: BayObLG NZV 1998, S. 426; OLG Düsseldorf VRS 92, S. 259; OLG Hamm VRS 59, S. 43; OLG Koblenz VRS 60, S. 465; OLG Stuttgart NZV 1992, S. 462; ständige Senatsrechtsprechung: vgl. Senatsbeschluss vom 26. Februar 2024, 1 ORBs 93/24; Senatsbeschluss vom 17. Juni 1999 - 1 Ss (OWi) 61 B/99; Senatsbeschluss vom 1. Oktober 2007 - 1 Ss (OWi) 166 B/07; Senatsbeschluss vom 4. April 2008 - 1 Ss (OWi) 51 B/08; Senatsbeschluss vom 23. Februar 2009 - 1 Ss (OWi) 9 B/09; ausf. Göhler/Seitz, OWiG, 18. Aufl., § 74 Rdnr. 31 m.w.N.).
Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betroffenen einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Betroffenen unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (vgl. statt vieler: vgl. Senatsbeschluss vom 26. Februar 2024, 1 ORBs 93/24; Senatsbeschluss vom 8. April 2010, 1 Ss OWi 84 B/10; Senatsbeschluss vom 23. Februar 2009 - 1 Ss (OWi) 9 B/09; OLG Bamberg DAR 2008, 217). Dabei trifft den Betroffenen hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes zwar grundsätzlich keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis. Erforderlich ist jedoch, dass der Betroffene vor der Hauptverhandlung schlüssig einen Sachverhalt vorträgt oder vortragen lässt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen, dem Gericht somit hinreichende Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung zur Kenntnis gebracht sind (vgl. vgl. Senatsbeschluss vom 26. Februar 2024, 1 ORBs 93/24; Senatsbeschluss vom 8. April 2010 a.a.O.; OLG Bamberg a.a.O.). Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach ein Beschwerdeführer, um dem Gebot der Rechtswegerschöpfung als Voraussetzung für eine Erfolg versprechende Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs zu genügen, alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen hat, um eine Grundrechtsverletzung zu verhindern, wozu auch gehört, dass er seiner prozessualen Darstellungslast durch rechtzeitigen Vortrag aller ihn begünstigenden Umstände entsprochen hat (BVerfG NJW 2005, 3769; NStZ-RR 2005, 346).
Eine Krankheit stellt einen ausreichenden Entschuldigungsgrund dar, wenn sie nach ihrer Art und nach ihren Wirkungen, insbesondere nach dem Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar erscheinen lässt (vgl. Senatsbeschluss vom 26. Februar 2024, 1 ORBs 93/24; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 331; OLG Köln DAR 1987, 267). Ein Sachvortrag, der dem Gericht eine Bewertung von „Krankheit“ eines Betroffenen als Entschuldigungsgrund nach diesen Kriterien ermöglichen soll, erfordert für seine Schlüssigkeit daher zumindest die Darlegung eines krankheitswertigen Zustandes, also eines regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (siehe auch BSGE 35, 10 ff., 12). Dies kann durch die Vorlage ärztlicher Bescheinigungen, wie Atteste, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder Krankschreibungen erfolgen (vgl. vgl. Senatsbeschluss vom 26. Februar 2024, 1 ORBs 93/24; Senatsbeschluss vom 23. Februar 2009 - 1 Ss (OWi) 9 B/09; OLG Jena VRS 111, 148; OLG Jena ZfSch 2007, 532; OLG Naumburg ZfSch 2000, 514), ohne dass diesen die Art der Erkrankung zu entnehmen sein muss (vgl. BayObLG VRS 95, 279) und die so lange als genügende Entschuldigung zu gelten haben, als nicht deren Unglaubwürdigkeit oder Unbrauchbarkeit feststeht (OLG Frankfurt NJW 1988, 2965).
Verhandlungsfähigkeit bedeutet dabei, dass der Betroffene in der Lage sein muss, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Form zu führen, Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (BVerfG NStZ-RR 1996, 38; BGH NStZ 1996, 242).
Die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit entziehen sich einer pauschalen Festlegung; sie sind je nach Verfahrensart und Verfahrenslage unterschiedlich. Steht die Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit in den Tatsacheninstanzen in Rede, können sie nicht niedrig bemessen werden, weil die Einlassung des Betroffenen wesentliches Beweismittel ist, er selbst Anträge stellen und Zeugen befragen kann, vor Entscheidungen des Gerichts (neben seinem Verteidiger) gehört wird sowie sich persönlich - etwa zu Fragen des Fahrverbotes und im letzten Wort - äußern kann. Diese Rechte geben ihm die Möglichkeit, das Verfahren unabhängig von der Verteidigung mitzugestalten und sich zu verteidigen (BGH NStZ 1996, 242); sie können durch gesundheitliche Beeinträchtigungen in unterschiedlichem Umfang tangiert werden.
Ebenso wenig wie beispielsweise eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung automatisch die Verhandlungsunfähigkeit einschließt, führt nicht jede Erkrankung zur Verhandlungsunfähigkeit eines Betroffenen. Bei der Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit kommt es nicht allein auf die medizinische Schwere einer Gesundheitsstörung an. Entscheidend ist vielmehr, in welchem Ausmaß eine Erkrankung die einem Betroffenen in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt (vgl. BGH StV 1989, 239, 240).
Für die Klärung dieser Rechtsfrage kommt es allein auf die wirkliche Sachlage an; dem Tatgericht steht dabei kein Ermessensspielraum zu (OLG Karlsruhe StraFo 1999, 25; OLG Düsseldorf StV 1987, 9). Es ist gehalten, bei Zweifeln an einem berechtigten Fernbleiben im Termin von Amts wegen im Freibeweis, etwa durch Erkundigungen beim behandelnden Arzt oder durch eine amtsärztliche Untersuchung zu klären, ob das Ausbleiben genügend entschuldigt ist (vgl. vgl. Senatsbeschluss vom 26. Februar 2024, 1 ORBs 93/24; Senatsbeschluss vom 8. April 2010, 1 Ss OWi 84 B/10; Senatsbeschluss vom 23. Februar 2009 - 1 Ss (OWi) 9 B/09; BayObLG aaO.; OLG Hamm NStZ-RR 1998, 281; OLG Celle StraFo 1997, 79). Hierbei bestimmt der Begriff der „Zumutbarkeit“ immer mehr die Diktion der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. Senatsbeschluss a.a.O.; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 331; OLG Düsseldorf StV 1987, 9; OLG Hamm aaO.). Die Aufklärungspflicht des Gerichts setzt ein, wenn die an sich schlüssigen, eine Unzumutbarkeit des Erscheinens indizierenden Tatsachenbehauptungen vom Gericht nicht als glaubwürdig angesehen werden (vgl. KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., § 74 Rdnr. 35; Göhler/Seitz, OWiG, 18. Aufl., § 74 Rdnr. 29, jeweils m.w.N.).
Im vorliegenden Fall begründete das erst wenige Stunden vor der Hauptverhandlung vorgelegte Attest der Ärztin pp. (Name 01) aus pp. (Adresse 02) vom 23. November 2023, wonach die Betroffene mit der Diagnose „B34.9 G“ arbeitsunfähig sei, zumindest Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Betroffenen. Der ICD-10-Code „B34.9“ seht für „Virusinfektion, nicht näher bezeichnet“; das „G“ hinter dem Code bedeutet, dass die Diagnose gesichert ist, was darauf hinweist, dass die Diagnose durch weitere Untersuchungen bestätigt worden ist und die Sicherheit der Diagnose anzeigt.
Zwar mag der Umstand, dass der Praxisort 90 km bzw. über eine Stunde Fahrzeit (Pkw) vom Wohnort der Betroffenen entfernt ist, darauf hindeuten, dass es sich um ein so genanntes Gefälligkeitsattest handelt. Widersprüchlich ist auch, dass die Betroffene einerseits vorträgt, „mit hohem Fieber“ „bettlägerig“ gewesen zu sein, dann aber insgesamt zwei Stunden Fahrweg in Kauf genommen haben will, um einen Arzt aufzusuchen, denn anders lässt sich der Zusatz „G“ bei der Diagnose nicht erklären.
Die Tatrichterin hätte jedoch Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der ärztliche Bescheinigung zum Anlass nehmen müssen, um im Freibeweisverfahren den vorhandenen Zweifel nachzugehen und aufzuklären, ob der Betroffenen nach Art und Schwere seiner Erkrankung die Teilnahme an der Hauptverhandlung zugemutet werden kann (vgl. dazu OLG Hamm NJW 1965, 410; OLG Hamm VRS 93, 122). Denn in der erkennbar auf Veranlassung bzw. mit Billigung der Betroffenen erfolgten Vorlage des ärztlichen Attestes liegt konkludent die Befreiung der behandelnden Ärztin von der Pflicht zur Verschwiegenheit bezüglich der für die Zumutbarkeit des Erscheinens maßgeblichen Umstände (vgl. OLG Karlsruhe NStZ 1994, 141, 142; Göhler/Seitz, OWiG, 18. Aufl., § 74 Rdnr. 29 m.w.N.).
Der Senat verkennt nicht, dass in der Praxis häufig leichtfertig ausgestellte ärztliche Atteste vorgeschoben werden, um den Prozess zu verschleppen oder das Bußgeldgericht zu zermürben und somit ein so genanntes Regelfahrverbot in Wegfall geraten zu lassen. Hierfür sprechen im vorliegenden Fall die zahlreichen Anträge auf Terminverschiebung. Dies entbindet den erkennenden Bußgeldrichter jedoch nicht von der Verpflichtung, bei Anhaltspunkten für eine Erkrankung, die bei Vorlage eines ärztlichen Attestes nicht von der Hand zu weisen sind, diesen im Freibeweisverfahren konsequent nachzugehen. Falls der behandelnde Arzt telefonisch nicht erreichbar ist oder sich der das Attest bescheinigende Arzt dem Freibeweisverfahren nicht stellt oder Auskünfte verweigert, und falls die kurzfristige Einschaltung von Polizeibeamten zur Befragung des Arztes vor Ort nicht möglich ist, wird notfalls die Ladung des behandelnden Arztes zur Aufklärung der Verhinderungsgründe zu erwägen und eine entsprechende Zeugenladung mit den Mitteln des § 51 StPO durchzusetzen sein.
Lassen sich bei alledem Zweifel, ob der Betroffene genügend entschuldigt ist, im Freibeweisverfahren nicht klären, so darf der Einspruch nicht verworfen werden (vgl. OLG Düsseldorf VRS 78, 138; OLG Köln NJW 1993, 1345; Göhler/Seitz, OWiG, 18. Aufl., § 74 Rdnr. 32a m.w.N.). Da im vorliegenden Fall das Tatgericht die Frage der Entschuldigung bzw. Erkrankung der Betroffenen nicht aufgeklärt und bestehende Zweifel nicht ausgeräumt hat, unterliegt das (Verwerfungs-) Urteil der Aufhebung.