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  • · Fachbeitrag · Gutachten/Sachverständigenhonorar

    Bagatellgrenze für Schadengutachten ‒ ein Update

    | Wann immer bei Schadengutachtern das Thema „Bagatellgrenze“ auf den Tisch kommt, steigt die Stimmung. Denn die Bagatellgrenze zieht den Strich zwischen der wirtschaftlich eher nicht interessanten Kurzkalkulation und dem margenattraktiven Vollprodukt. Ihr Inhalt: Ist auch für den Laien erkennbar, dass der Schaden auf oberflächlichen Kleinkram begrenzt ist, ist das Vollgutachten der sprichwörtliche Schuss mit Kanonen auf Spatzen. Dann muss der Unfallgegner die Gutachtenkosten nicht erstatten. |

    Früher sprach man von 1.500 D-Mark

    Für die erste Annäherung macht die Rechtsprechung die Bagatellgrenze am Schadenbetrag fest. Ältere Leser erinnern sich: Die Bagatellgrenze wurde früher bei 1.500 DM angesiedelt. Vor etwa 15 Jahren hat der BGH das dann schlicht umgerechnet (BGH, Urteil vom 30.11.2004, Az. VI ZR 365/03, Abruf-Nr. 043098).

     

    Leitsatz b) aus dem Urteil lautet: „Für die Beurteilung, ob die Kosten eines Sachverständigengutachtens zum erforderlichen Herstellungsaufwand gehören und vom Schädiger zu ersetzen sind, kann im Rahmen tatrichterlicher Würdigung auch die von dem Gutachter ermittelte Schadenshöhe berücksichtigt werden.“

     

    Wichtig | Man beachte das Wörtchen „auch“ in diesem Satz. Es deutet an, dass die Schadenhöhe nicht das alleinige Merkmal ist.

    Entscheidend ist die ex ante-Sicht des Geschädigten

    Im Volltext der Entscheidung lautet die maßgebliche Passage: „Für die Frage der Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit einer solchen Begutachtung ist auf die Sicht des Geschädigten zum Zeitpunkt der Beauftragung abzustellen. Demnach kommt es darauf an, ob ein verständig und wirtschaftlich denkender Geschädigter nach seinen Erkenntnissen und Möglichkeiten die Einschaltung eines Sachverständigen für geboten erachten durfte. Diese Voraussetzungen sind zwar der Schadenminderungspflicht aus § 254 Abs. 2 BGB verwandt. Gleichwohl ergeben sie sich bereits aus § 249 BGB, so daß die Darlegungs- und Beweislast hierfür beim Geschädigten liegt.“

     

    Das Maß der Dinge sind also die Erkenntnismöglichkeiten des Geschädigten zum Zeitpunkt der Gutachtenbeauftragung.

    Die Schadenhöhe als erste Annäherung für das Gericht

    Um das Ganze praktikabel zu gestalten, sagt der BGH jedoch auch: „Für die Frage, ob der Schädiger die Kosten eines Gutachtens zu ersetzen hat, ist entgegen der Auffassung der Revision nicht allein darauf abzustellen, ob die durch die Begutachtung ermittelte Schadenshöhe einen bestimmten Betrag überschreitet oder in einem bestimmten Verhältnis zu den Sachverständigenkosten steht, denn zum Zeitpunkt der Beauftragung des Gutachters ist dem Geschädigten diese Höhe gerade nicht bekannt. Allerdings kann der später ermittelte Schadensumfang im Rahmen tatrichterlicher Würdigung nach § 287 ZPO oft ein Gesichtspunkt für die Beurteilung sein, ob eine Begutachtung tatsächlich erforderlich war oder ob nicht möglicherweise andere, kostengünstigere Schätzungen ‒ wie beispielsweise ein Kostenvoranschlag eines Reparaturbetriebs ‒ ausgereicht hätten.“

     

    Der BGH gibt dem Instanzrichter Freiheiten

    Das Landgericht hatte die Kosten des Gutachtens zugesprochen. Das hat der BGH gebilligt: „Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Beauftragung eines Sachverständigen sei erforderlich gewesen, weil der Schaden im Streitfall mehr als 1.400 DM (715,81 Euro) betragen habe und es sich deshalb nicht um einen Bagatellschaden gehandelt habe, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Betrag liegt in dem Bereich, in dem nach allgemeiner Meinung die Bagatellschadensgrenze anzusiedeln ist.“

     

    Aber Achtung: „revisionsrechtlich nicht zu beanstanden“ heißt, dass sich das Gericht im Rahmen seines Beurteilungsspielraums gehalten hat. Hätte das Landgericht die Schadenhöhe von 715,81 Euro nicht für ausreichend gehalten, hätte der BGH ziemlich sicher ebenfalls gesagt, dass das revisionsrechtlich nicht zu beanstanden sei.

     

    Warum gehen manche Gerichte derzeit in Richtung 1.000 Euro?

    Vielfach hat UE auf Urteile aufmerksam gemacht, die die Bagatellgrenze ‒ wohlbemerkt: immer als erste Annäherung ‒ eher bei 1.000 Euro als bei den alten 750 Euro sehen, wobei manche Gerichte die 1.000 Euro als Nettobetrag und andere als Bruttobetrag betrachten.

     

    Der Hintergrund liegt auf der Hand: 1.500 DM Schadenhöhe vor deutlich mehr als 15 Jahren mögen ein veritabler Unfallschaden gewesen sein. Die 750 Euro von heute sind ‒ insbesondere im Premiumsegment ‒ eher eine kleine SMART-repair-Maßnahme. Eine Spiegelkappe oder ein Rücklichtglas sprengen den Rahmen oft bereits.

     

    Würde ein Gericht einen 1.500 DM Schaden von damals auf heutige Verhältnisse umrechnen lassen, käme sicher ein wesentlich höherer Betrag als 1.000 Euro heraus. Die 1.000-Euro-Grenze ist eine mehr als moderate Abweichung von den 750 Euro. Und genau dort sieht UE das Risiko.

     

    Gerichtsprozesse um die Bagatellgrenze sind gefährlich

    In den Prozessen um die Bagatellgrenze, bei denen sich der Kläger noch schematisch an den 750 Euro festklammert, liegen die zur Erstattung eingeklagten Gutachtenkosten nicht selten bei mindestens der Hälfte des Reparaturkostenbetrags, oft gar über der Hälfte. Ein warnendes Beispiel liegt ja bereits vor: Bei Reparaturkosten von 839,91 Euro hatte der Geschädigte eines vor dem AG München entschiedenen Falles ebenfalls ein Gutachten eingeholt. Die Rechnung für diese Expertise belief sich auf (das ist kein Schreibfehler!) 940,04 Euro.

     

    Mag der Sachverständige nun auch noch so inbrünstig der Auffassung sein, sein Aufwand wäre doch groß gewesen: Dass bei einer solchen Relation von Schaden zu Gutachtenkosten das Gericht nach Wegen sucht, „Nein“ zu sagen, überrascht und verwundert uns nicht.

     

    Das Gericht kramte ein Urteil der Berufungskammer des LG München I vom 20.09.2001 (Az. 19 S 10340/01) heraus, in dem die der Meinung war, die damalige 1.000-DM-Grenzziehung müsse angesichts der gestiegenen Reparaturkosten deutlich angehoben werden. Unter Reparaturkosten von 2.500 oder gar 3.000 DM müsse der Geschädigte im Einzelnen begründen, warum ein Schadengutachten erforderlich sein solle. Daran orientiert hat das AG München die Klage auf Erstattung der Gutachtenkosten abgewiesen und in den Raum gestellt, die Bagatellgrenze liege bei 1.500 Euro, also den umgerechneten 3.000 DM aus der Berufungsentscheidung, auf die es Bezug nahm (AG München, Urteil vom 04.04.2014, Az. 331 C 34366/13, Abruf-Nr. 142486).

     

    Das ist zum Glück ein Einzelfall geblieben, die Bagatellgrenze hat sich beim AG München bei etwa 1.000 Euro brutto eingependelt. Doch muss man sehen: Jeder Prozess um die 750 Euro birgt, jedenfalls wenn es keine besonderen Umstände gibt, so ein Risiko. Das ist das Sägen an dem Ast, auf dem die Schadengutachter sitzen.

    Die Zahl allein ist es aber nicht

    Ein aktuelles Urteil des AG Nürnberg zeigt jedoch klar und deutlich: Allein auf den Schadenbetrag kann nicht abgestellt werden (AG Nürnberg, Urteil vom 06.06.2019, Az. 18 C 2692/19, Abruf-Nr. 209532, siehe UE 7/2019, Seite 4 → Abruf-Nr. 45988612). Da befindet sich das AG in guter Gesellschaft mit der oben zitierten BGH-Passage.

     

    Das Schadenbild

    Im Nürnberger Fall ging es um einen Stoßfänger. In der Tat ist es so, dass sich die Verkleidung oft zu einem „nix passiert“-Bild zurückverformt und darunter deutlicher Schaden verborgen bleibt. Das bedarf stets der Beurteilung, für die das Laienwissen nicht ausreicht.

     

    Es ist jedoch gefährlich, wenn sich krampfhaft an der 750-Euro-Grenze festhaltende Gutachter argumentieren, bei jedem Schaden könne Verborgenes darunter liegen. Bei einem oberflächlichen Blechschaden wird man bei den Gerichten nicht viel Gefolgschaft erwarten dürfen, und das mit dem oben geschilderten Risiko, dass ein verärgerter Richter die Latte für die Zukunft noch höher legt, als beim derzeitigen 1.000 Euro-Trend.

     

    Die Anhängezugvorrichtung

    Ein Klassiker ist auch die Anhängezugvorrichtung nach einem Heckaufprall. Mag sie auch den Schaden vom Fahrzeugkörper abgehalten haben und äußerlich einwandfrei aussehen, weiß der Geschädigte nie, welche Kräfte sich in den Wagenboden übertragen haben und ob das Teil selbst noch in Ordnung ist. Da ist ein Gutachten erforderlich (AG Wolfenbüttel vom 08.05.2018, Az. 17 C 270/17, Abruf-Nr. 201016).

     

    Die Totalschadenabgrenzung und die 130-Prozent-Grenzsuche

    Bei Fahrzeugen, die bereits im Wiederbeschaffungswert (WBW) sehr niedrig liegen, drängt sich die Erforderlichkeit des Gutachtens geradezu auf: Zum einen bedarf es da der Festlegung des WBW und des Restwerts. Zum anderen muss ggf. die 130-Prozent-Grenze beachtet werden.

     

    Und wenn dann noch eine Unwägbarkeit wie der denkbare Schaden hinter der Stoßfängerverkleidung hinzukommt, gibt es z. B. für das AG Heidenheim gar keine Zweifel mehr: Bei einem Fahrzeug, dessen WBW niedrig ist, ist ein Schadengutachten schon deshalb erforderlich, um in Abgrenzung zum WBW erkennen zu können, ob die Reparatur noch lohnt. Hinter einer großflächigen Eindellung des Stoßfängers können weitere Schäden verborgen sein, was dem Laien eine eigeständige Abschätzung unmöglich macht (AG Heidenheim, Urteil vom 28.04.2014, Az. 14 U 10/14, Abruf-Nr. 142005).

     

    Kein Gutachten heißt nicht kein Gutachter

    Ist die Bagatellgrenze unterschritten und liegen keine Sondergründe vor, gilt: „Kein Gutachten“ heißt nicht „kein Gutachter“. Allerdings muss der Geschädigte den Schadengutachter dann mit der Erstellung eines Produktes beauftragen, das der Situation angepasst ist.

     

    Das mag eine mit zwei oder drei Bildern garnierte Schadenprognose sein, die einen der Situation angepassten Preis hat. Die Kosten dafür sind dann durch den gegnerischen Haftpflichtversicherer zu erstatten (AG Berlin-Mitte, Urteil vom 24.09.2013, Az. 102 C 3011/13, Abruf-Nr. 133155; AG Böblingen, Urteil vom 28.01.2014, Az. 2 C 2391/13, Abruf-Nr. 140469; AG Hannover, Urteil vom 24.04.2013, Az. 562 C 1157/13, Abruf-Nr. 132191; AG Heidenheim, Urteil vom 27.12.2013, Az. 5 C 699/13, Abruf-Nr. 140087). Und auch damit funktioniert die Rechtsprechung „Reparatur gemäß gutachterlichen Vorgaben“.

     

    Situation nach beanstandetem Kostenvoranschlag

    Wenn der Geschädigte zunächst mit einem Kostenvoranschlag agiert, der jedoch vom Versicherer nicht akzeptiert wird, kann er anschließend ein Schadengutachten auf Kosten der Gegenseite in Auftrag geben (AG Bamberg, Urteil vom 15.05.2014, Az. 0102 C 569/14, Abruf-Nr. 143002; AG Köln, Urteil vom 18.03.2016, Az. 274 C 141/15, Abruf-Nr. 146707; AG Hattingen, Urteil vom 10.02.2017, Az. 16 C 92/16, Abruf-Nr. 191957; AG Freiburg im Breisgau, Urteil vom 28.01.2019, Az. 11 C 1714/18, Abruf-Nr. 208357).

     

    Weiterführende Hinweise

    • Textbaustein 452: Gutachten nach Kritik an Kostenvoranschlag (H) → Abruf-Nr. 45262280
    • Textbaustein 419: Gutachten geprüft - Bagatellschaden eingewandt (H) → Abruf-Nr. 44291071
    • Textbaustein 276: Bagatellgrenze immer brutto vergleichen (H) → Abruf-Nr. 42694919
    • Textbaustein 215: Kurzgutachten bei Bagatellschaden (H) → Abruf-Nr. 42690689
    Quelle: Ausgabe 07 / 2019 | Seite 15 | ID 45989131