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  • 14.06.2013 · IWW-Abrufnummer 132104

    Finanzgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 27.02.2013 – 2 K 3274/11

    1. Zur Begründundung von Zweifeln am Zugang innerhalb der Drei-Tages-Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO reicht ein abweichender
    Eingangsvermerk allein nicht aus.
    2. Die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO greift nicht ein, wenn fest steht, dass die Sendung nicht am Tag des Ausgangsvermerks
    des FA, sondern erst am Folgetag durch einen privaten Briefdienstleister der Deutschen Post AG übergeben wurde.


    Im Namen des Volkes
    Zwischenurteil
    In dem Finanzrechtsstreit
    hat der 2. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg in der Sitzung vom 27. Februar 2013 durch Vorsitzenden Richter am Finanzgericht
    … Richter am Finanzgericht … ehrenamtliche Richter …
    für Recht erkannt:
    1. Die Klage ist rechtzeitig erhoben worden.
    2. Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
    Tatbestand
    Durch Zwischenurteil ist zu klären, ob die Anfechtungsklage innerhalb der Klagefrist erhoben wurde.
    Die Klägerin ist eine ein Baugewerbe betreibende Kommanditgesellschaft.
    Aufgrund einer Betriebsprüfung änderte der Beklagte (das Finanzamt – FA) mit Bescheiden vom 20. April 2011 die von der Klägerin
    angefochtenen Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte 2005 bis 2007, die Gewerbesteuermessbescheide
    2005 bis 2007 und die Bescheide über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes zum 31. Dezember 2005
    und zum 31. Dezember 2006.
    Am 11. April 2011 erließ das FA ferner für 2008 einen Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen
    und des verrechenbaren Verlustes nach § 15 Abs. 4 EStG.
    Am 17. Mai 2011 legte die Klägerin gegen die Bescheide wegen
    gesonderter und einheitlicher Feststellung der Einkünfte 2005 bis 2008,
    gesonderter Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste zum 31. Dezember 2005 und zum 31. Dezember 2006 sowie
    Gewerbesteuermessbetrag 2005 und 2006
    Einsprüche ein.
    Mit am gleichen Tag formlos zur Post gegebener und an den Bevollmächtigten der Klägerin adressierter einheitlicher Einspruchsentscheidung
    vom 11. August 2011 wies das FA die Einsprüche als unzulässig (Gewerbesteuermessbescheid 2005) bzw. unbegründet (alle anderen
    Bescheide) zurück. Die Einspruchsentscheidung wurde nach dem durch Namenzeichen des Bearbeiters bestätigten Absendevermerk
    am 11. August 2011 zur Post aufgegeben. Ausweislich eines handschriftlichen Vermerks auf der dem Gericht in Kopie vorgelegten
    Einspruchsentscheidung vom 11. August 2011 („Eing. 16. August 2011”) sei diese dem Bevollmächtigten der Klägerin am 16. August
    2011 zugegangen.
    Mit Fax-Schreiben vom 16. September 2011 erhob die Klägerin Anfechtungsklage gegen die Bescheide wegen
    Gewerbesteuermessbetrag 2006,
    gesonderter und einheitlicher Feststellung der Einkünfte 2005 bis 2008 sowie
    gesonderter Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste zum 31. Dezember 2005 und zum 31. Dezember 2006,
    die sie mit Schreiben vom 21. November 2011 begründete.
    Das FA tritt der Klage entgegen. Zur Begründung trägt es mit Schriftsatz vom 16. Januar 2012 vor, die Klage sei unzulässig,
    weil sie nach Ablauf der Klagefrist erhoben worden sei.
    Mit Schreiben vom 7. Dezember 2012 erklärte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die Übernahme der anwaltlichen Vertretung
    der Klägerin. Am 13. Dezember 2012 wurde ihm antragsgemäß Akteneinsicht gewährt.
    Mit Beschluss vom 16. Dezember 2011 2 V 3348/11 hat der Senat den Antrag der Klägerin auf Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen
    Bescheide als unzulässig abgelehnt.
    Am 17. Januar 2013 führte der Berichterstatter einen Erörterungstermin durch, an dem weder die Klägerin noch ihr Prozessbevollmächtigter
    teilnahmen. Der Beklagte übergab eine Sendungsübersicht der Firma X, nach dem die Einspruchsentscheidung am 11. August 2012
    bei X eingegangen ist. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
    Mit Schriftsatz vom 29. Januar 2013 ließ die Klägerin ausführen, der Zeitpunkt der Zustellung der Einspruchsentscheidung könne
    vom Beklagten nicht nachgewiesen werden. Es spreche viel dafür, dass durch die Weitergabe der Sendung an die Deutsche Post
    AG die üblichen Zustellzeiten nicht eingehalten worden seien. Deshalb könne im Streitfall auch die Dreitagesvermutung nicht
    angewandt werden.
    Die Klägerin hat mit Schreiben vom 6. Februar 2013 (AS. 68) und der Beklagte mit Schreiben vom 20. Februar 2013 auf eine mündliche
    Verhandlung vor dem Senat verzichtet.
    Die fernmündlicher Auskunft von X (Tel. xxx) ergab:
    Die Angabe auf der Sendungsübersicht „keine Straße” bedeutet, dass sich die Empfängeranschrift außerhalb des Zustellbereichs
    von X befindet.
    Die Sendung mit der Nummer xxx xxxxx xxx ist am 11. August 2011 bei X in Y (Sortierzentrum) eingegangen und am 12. August
    2011 (Y) zur Weiterbeförderung an die Deutsche Post AG in Y übergeben worden.
    Wegen der Einzelheiten im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze und die dem Senat vorliegenden Steuerakten Bezug
    genommen.
    Entscheidungsgründe
    Die Klage ist rechtzeitig erhoben worden.
    Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, über diese Sachurteilsvoraussetzung der Klage durch Zwischenurteil vorab zu
    entscheiden (§ 97 FGO).
    Die bei der Zulässigkeit allein streitige Klagefrist nach § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO ist entgegen der Auffassung des Beklagten
    gewahrt, weil im Streitfall die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht anzuwenden ist.
    Bestreitet die Klägerin – wie hier – nicht den Zugang der Einspruchsentscheidung überhaupt, sondern behauptet lediglich, diese
    nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, so hat sie ihr Vorbringen im Rahmen des
    Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Sie muss Tatsachen vortragen, die den Schluss
    zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische – Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post – ernstlich
    in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des
    Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles,
    sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (BFH-Urteil vom 3. Mai 2001
    III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365).
    Im Streitfall hat die Klägerin ihr Vorbringen zwar nicht im Rahmen des Möglichen substantiiert. Zur Begründung von Zweifeln
    am Zugang innerhalb der Drei-Tages-Frist reicht – entgegen der Auffassung der Klägerin – ein abweichender Eingangsvermerk
    allein nicht aus (BFH-Urteil vom 17. Juni 1997 IX R 79/95, BFH/NV 1997, 828; BFH-Beschlüsse vom 27. Februar 1998 IX B 29/96,
    BFH/NV 1998, 1064; vom 30. November 2006 XI B 13/06 BFH/NV 2007, 389).
    Berechtigte Zweifel an dem rechtzeitigen Zugang der Einspruchsentscheidung ergeben sich jedoch aus den erstmalig von dem Beklagten
    in dem Erörterungstermin offen gelegten nähren Umständen bei der Versendung der Einspruchsentscheidung durch die Firma X.
    Ergeben sich Zweifel an der Richtigkeit der Zugangsvermutung, so hat das Finanzgericht (FG) den Sachverhalt unter Berücksichtigung
    dieses Vorbringens aufzuklären und die festgestellten oder unstreitigen Umstände im Wege freier Beweiswürdigung nach § 96
    Abs. 1 FGO gegeneinander abzuwägen. Die Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung bleibt mithin Gegenstand der Sachaufklärungspflicht
    des FG. Lediglich für den Fall, dass trotz Sachaufklärung keine Überzeugungsbildung möglich ist „im Zweifel”), muss auf die
    Beweislastregel des § 122 Abs. 2 2. Halbsatz AO zurückgegriffen werden (BFH-Urteile vom 27. November 2002 X R 17/01, BFH/NV
    2003, 586 und vom 9. Dezember 1999 III R 37/97, BStBl II 2000, 175, m. w. N.).
    Nach diesen Grundsätzen greift im Streitfall die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht ein. Denn zur Überzeugung
    des Senats steht fest, dass das FA die Einspruchsentscheidung vom 11. August 2011 am gleichen Tage der Firma X übergeben hat,
    die diese Sendung erst am Folgetag der Deutschen Post AG übergab. Letzteres ergibt sich nicht nur aus der telefonischen Auskunft,
    die der Vorsitzende Richter des 2. Senat eingeholt hat, sondern auch aus der Homepage von X (ww. x-service.de). Dort wird
    ausgeführt: „Bundesweite Sendungen außerhalb des X-Zustellbereiches übergeben wir am Folgetag der Deutschen Post AG zu deren
    aktuell gültigen Konditionen und AGB”.
    Dem Senat ist nicht bekannt, zu welcher Tageszeit die Weiterleitung der Sendung an die Deutsche Post AG erfolgt ist. Er geht
    deshalb davon aus, dass von dem Dreitageszeitraum des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO mindestens ein Drittel verstrichen ist, bevor
    die Deutsche Post AG mit der Zustellung der Sendung begann.
    Gibt ein Briefdienstleister, der vom Absender mit der Versendung beauftragt wurde, eine Sendung an ein anderes Unternehmen
    weiter, weil der Adressat nicht in dem eigenen Zuständigkeitsbereich wohnt, so beginnt mit dem Zeitpunkt der Übergabe an das
    weitere Unternehmen die Frist für die Zugangsvermutung nicht etwa neu zu laufen, sondern diese greift wegen der daraus resultierenden
    Zweifel, dass die Sendung der Klägerin nicht spätestens an dem Tag zugegangen ist, der nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO vermutet
    wird, insgesamt nicht mehr ein.
    Auf die Beweislastregel des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO kann zwar auch bei der Übermittlung eines Verwaltungsakts durch einen privaten
    Briefdienstleister zurückgegriffen werden (BFH-Beschlüsse vom 13. Februar 2008 XI B 218/07, BFH/NV 2008, 742; und vom 11.
    August 2008 III B 141/07, BFH/NV 2008, 1646). Gibt dieser die Sendung jedoch (erst) am Folgetag an ein anderes Unternehmen
    weiter, ist bereits ein Drittel des Zeitraums verstrichen, ohne dass die Sendung befördert worden wäre. Allein durch diesen
    Umstand wird die Zugangsvermutung nach der Überzeugung des Senats so schwer erschüttert, dass sie nicht mehr angewendet werden
    kann mit der Folge, dass es nun dem Beklagten oblegen hätte, Nachweisaktivitäten zu entfalten, zumal sich nach den Erfahrungen
    des Senats die Beförderungszeiten bei Briefsendungen (ggf. aus Spargründen) heute zunehmend verzögern. So gibt die Deutsche
    Post AG auf Ihrer Homepage unter dem Stichwort „Brieflaufzeiten” an, dass aus der Region „xx… Y” nur 93,8 % der Sendungen
    ihr Ziel einen Werktag nach dem Tag des Einwurfs erreichen (Laufzeitquote „E+1 Briefpost). Bundesweit sollen ca. 95 % der
    Briefe ihr Ziel nach einem Tag erreichen. Das FA hat weder behauptet noch belegt, dass überregionale Sendungen, die außerhalb
    des eigentlichen Zustellbezirks der Firma X zuzustellen sind und deshalb von dieser an die Deutsche Post AG weitergegeben
    werden (sogenannte Weiterleitungsfälle), nach den Erfahrungen der Vergangenheit bei normalem Betriebsablauf gleichwohl zeitnah
    befördert und zugestellt worden wären. Auch im Internet sind hierzu keine Angaben auffindbar. Beauftragt das FA einen Briefdienstleister
    mit der Abholung, Frankierung und Weiterleitung von überregionalen Briefsendungen an die Deutsche Post AG, so muss es sich
    einschlägig über die Abläufe informieren. Es kann sich nicht darauf verlassen, dass die „normalen” und von der Deutschen Post
    AG erwarteten und gemeinhin auch zuverlässig erfüllten Brieflaufzeiten auch in Weiterleitungsfällen eingehalten werden.
    Zu dem selben Ergebnis führt auch die folgende Überlegung: § 2 Nr. 3 der Post-Universaldienstleistungsverordnung (BGBl I 1999,
    2418), die der er Umsetzung der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 (ABl.
    EG 1998 Nr. L 15 S. 14) dient, sieht vor, dass von den an einem Werktag eingelieferten inländischen Briefsendungen – mit Ausnahme
    der Sendungen, die eine Mindesteinlieferungsmenge von 50 Stück je Einlieferungsvorgang voraussetzen – im Jahresdurchschnitt
    mindestens 80 vom Hundert an dem ersten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag und 95 vom Hundert bis zum zweiten auf
    den Einlieferungstag folgenden Werktag ausgeliefert werden müssen. Um auch den verbleibenden 5 vom Hundert der Sendungen noch
    angemessen Rechnung zu tragen, hat der Gesetzgeber in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO einen Dreitageszeitraum aufgenommen. Ist – wie
    im Streitfall – bereits ein Drittel dieses Zeitraums verstrichen, bevor die Deutsche Post AG mit deren Beförderung begonnen
    hat, liegen konkrete Anhaltspunkte vor, welche die ernsthafte Gefahr längerer Postlaufzeiten begründen (zu diesem Maßstab
    vergleiche BFH-Beschluss vom 4. September 2008 I R 41/08, BFH/NV 2008, 2042-2043), die die Zugangsvermutung so schwer erschüttern,
    dass sie nicht mehr anwendbar ist.
    Dieses Ergebnis belastet den Beklagten nicht unangemessen, denn dieser hat es in der Hand, mit welchem Briefdienstleister
    er die Einspruchsentscheidung versendet.
    Nach Lage der Akten spricht im Streitfall zwar viel dafür, dass der Bevollmächtigte der Klägerin die Einspruchsentscheidung
    am Montag, dem 15. August 2011, erhalten hat. Denn wenn die Deutsche Post AG die Sendung im Laufe des Freitags, 12. August
    2011, zur Beförderung übernommen hat, müsste sie in Anbetracht üblicher Postlaufzeiten am Montag, dem 15. August 2011 (Maria
    Himmelfahrt, gesetzlicher Feiertag nur im Saarland und in 1.700 Gemeinden in Bayern), in den Briefkasten des Bevollmächtigten
    der Klägerin eingeworfen worden sein.
    Da die Dreitagesvermutung jedoch nicht gilt und die Klägerin unter Verweis auf einen handschriftlichen Eingangsvermerk behauptet,
    dass die Einspruchsentscheidung erst am 16. August 2011 eingegangen sei, hat der Beklagte gemäß § 122 Abs. 2 2. Halbsatz den
    Zeitpunkt des Zugangs zu beweisen.
    Der Umstand, dass der Beklagte insoweit in Beweisnot ist, geht zu seinen Lasten mit der Folge, dass von einem Zugang der Einspruchsentscheidung
    erst am 16. August 2011 auszugehen ist. Dann ist die Klage am 16. September 2011 innerhalb der Monatsfrist des § 47 Abs. 1
    Satz 1 FGO rechtzeitig erhoben.
    Eine Kostenentscheidung unterbleibt, weil noch nicht feststeht, wer im Rechtsstreit endgültig unterliegen wird.

    VorschriftenAO § 122 Abs. 2 Nr. 1, FGO § 47 Abs. 1 S. 2, FGO § 96 Abs. 1, FGO § 97

    Karrierechancen

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