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  • 02.11.2010

    Finanzgericht Sachsen: Urteil vom 03.11.2009 – 5 K 783/07

    1. Soll ein Haftungsbescheid gegen den ehemaligen GmbH-Geschäftsführer hinsichtlich Umsatzsteuerverbindlichkeiten der Gesellschaft erlassen werden, ist für den Erlass des Haftungsbescheids das FA örtlich zuständig, in dessen Zuständigkeitsbereich sich der durch Gesellschaftsvertrag bestimmte Sitz der GmbH befindet. Das gilt auch dann, wenn die GmbH dort keine Betriebsstätte (mehr) hatte.

    2. Hat nach einer Sitzverlegung der GmbH das neu zuständige Finanzamt seine Zuständigkeit bestritten und die Aktenübernahme vom bisher zuständigen Finanzamt abgelehnt, ist hierin keine konkludente Zustimmungsgerklärung i.S. von § 26 Satz 2 AO zu sehen.

    3. Der von dem nach der Sitzverlegung der GmbH örtlich unzuständigen Finanzamt erlassene Haftungsbescheid ist auch unter Berücksichtigung von § 127 AO rechtswidrig und aufzuheben, wenn unter Berücksichtigung des Inhalts der Akten denkbar ist, dass das neu zuständige Finanzamt hinsichtlich des Auswahlermessens eine andere Entscheidung getroffen und ggf. andere potenzielle Haftungsschuldner in Anspruch genommen hätte.


    Im Namen des Volkes

    URTEIL

    In dem Finanzrechtsstreit

    hat der 5. Senat unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Finanzgericht Z., der Richterin am Finanzgericht L., des Richters am Finanzgericht Dr. H. sowie der ehrenamtlichen Richter G. und H. auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 03. November 2009 für Recht erkannt:

    1. Der Haftungsbescheid vom 18. Dezember 1998 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. April 2007 wird aufgehoben.

    2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

    3. Das Urteil wird hinsichtlich der Kostenentscheidung für vorläufig vollstreckbar erklärt. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung in dieser Höhe Sicherheit leistet.

    4. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.

    5. Die Revision wird nicht zugelassen.

    Tatbestand

    Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheides.

    Die Klägerin war seit dem 23. Oktober 1991 alleinige Geschäftsführerin der S. Logistik GmbH (Steuerschuldnerin). Das Stammkapital der Gesellschaft betrug 200.000 DM; hiervon hielt die Klägerin 60.000 DM und ihr Ehemann 140.000 DM; der Gesellschaftsanteil des Ehemannes wurde später an einen Herrn K. H. und von diesem an die Schwiegermutter der Klägerin veräußert. Mit Gesellschafterbeschluß vom 13. Dezember 1996 wurde Herr H. zum neuen Geschäftsführer bestellt; außerdem wurde die Firma der Gesellschaft in „K. Warenhandels GmbH” geändert und der Sitz der Gesellschaft von A.-B. nach H. verlegt. Mit einem weiteren Gesellschafterbeschluß vom 12. August 1997 wurde der Sitz der Gesellschafter nach S. verlegt; die Geschäftsräume sollten sich unter der Adresse … S., …straße 3 befinden. Die dementsprechende Eintragung in das Handelsregister erfolgte am 13. Januar 1998. Am 14. März 2001 wurde das Gesamtvollstreckungsverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet, am 26. Juni 2003 wurde das Verfahren mangels Masse eingestellt.

    Ausweislich der Dauerunterlagen ergaben Ermittlungen des Beklagten zum Ort der Geschäftsleitung zunächst, daß Anfang des Jahres 1997 noch Angestellte der GmbH unter der Adresse …straße 33 in A. tätig waren. Im April 1997 nahm der Beklagte mit der Steuerfahndung Rücksprache, ob Bedenken gegen eine eventuelle Aktenabgabe bestünden (Blatt 31 der Akten über die Betriebsprüfung/Steuerfahndung). Der Anwalt der GmbH teilte auf Anfrage des Beklagten im Juni 1997 mit, die GmbH habe den Ort ihrer Geschäftsleitung am Sitz der Gesellschaft. Nachdem an die GmbH an die Adresse in A. adressierte Post als unzustellbar zurückkam und eine am 10. Oktober 1997 durchgeführte Nachschau vor Ort ergab, daß das Betriebsgebäude leer stand und dem Verfall preisgegeben war, erkundigte sich der Beklagte erneut nach dem Ort der Geschäftsleitung. Diese Frage beantwortete der Anwalt der GmbH dahingehend, daß die Gesellschaft ihren Sitz in S. habe. Soweit noch Geschäfte geführt würden, würden diese von dort erledigt. Das Finanzamt S. dürfte demnach zuständig sein. Das Finanzamt S. teilte dagegen mit, die Nachschau des Vollziehungsbeamten unter der angegebenen Firmenanschrift habe ergeben, daß keine der bezeichneten Gesellschaften unter der Anschrift S., …straße 3, firmiere; dort sei eine Anwaltskanzlei ansässig. Die Übernahme der Akten wurde abgelehnt (Blatt 24 der Dauerunterlagen). Dem widersprach die GmbH, der Ort der Gesellschaft befinde sich am Gesellschaftssitz. Die GmbH habe in der …straße 3 in S. einen Büroraum angemietet, an diese Adresse gerichtete Post komme an (Blatt 26 der Dauerunterlagen).

    Ab Juli 1995 hatte eine Steuerfahndungsprüfung bei der GmbH stattgefunden; das Finanzamt A. war den Prüfungsfeststellungen gefolgt und hatte dementsprechende Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1993 bis 1995 erlassen. Der Umsatzsteuerbescheid 1993 wurde von der GmbH angefochten; nach Ergehen der Einspruchsentscheidung vom 03. Januar 1997 erhob die GmbH jedoch keine Klage. Der Umsatzsteuerbescheid 1994 wurde mit Einspruch und Klage angefochten; während des Klageverfahren erließ das Finanzamt unter Berücksichtigung der Einwendungen der GmbH einen geänderten Umsatzsteuerbescheid 1994, der von der GmbH wiederum mit Einspruch angefochten wurde (§ 68 Satz 1 a.F. der Finanzgerichtsordnung – FGO). Nach Ergehen der Einspruchsentscheidung vom 08. November 2004 erhob die GmbH keine Klage. Das gegen die Klägerin gerichtete Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wurde nach Erfüllung von Auflagen eingestellt (Blatt 55 der Gerichtsakte). Neben der Klägerin war ihr Schwiegervater, G. S. sen., Beschuldigter in dem Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung. Herr S. hat im Juli 1998 einen Schlaganfall erlitten (vgl. Mitteilung seiner Ehefrau – Blatt 71 der 2. Rechtsbehelfsakte der KW Warenhandels GmbH) und ist im Mai 2002 verstorben.

    Mit Haftungsbescheid vom 18. Dezember 1998 nahm der Beklagte die Klägerin (als alleinige Haftungsschuldnerin) für Umsatzsteuerverbindlichkeiten 1993 und 1994 sowie steuerliche Nebenleistungen (Zinsen und Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer) in Höhe von insgesamt 809.686,31 DM in Haftung. Zu der Darstellung der Tatbestandsvoraussetzung der Inhaftungnahme und den Ermessenserwägungen wird auf den den Parteien vorliegenden Haftungsbescheid verwiesen (Blatt 94 der 1. Haftungsakte). Die Klägerin hat gegen diesen Bescheid Einspruch eingelegt und die Aussetzung der Vollziehung beantragt. Sie hat mitgeteilt, sie habe aufgrund einer schweren Erkrankung ihre Aufgaben an ihren Schwiegervater, Herrn S. sen. delegiert gehabt (Blatt 62 der Rechtsbehelfsakte). Der Beklagte entsprach dem Aussetzungsbegehren bezüglich der Umsatzsteuer 1993 und 1994 mit Verwaltungsakt vom 07. Januar 1999 (Blatt 3 der Rechtsbehelfsakte). Mit der Einspruchsentscheidung setzte der Beklagte die Haftungssumme unter Berücksichtigung der geänderten Umsatzsteuerfestsetzung 1994 auf 160.315,20 EUR (313.549,28 DM) herab; im übrigen wies er den Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 12. April 2007 – Blatt 78 der Rechtsbehelfsakte).

    Die Klägerin macht geltend, sie sei seit 1992 aufgrund gesundheitlicher Probleme und der Betreuung ihrer im Jahr 1998 und 1993 geborenen Kinder nicht mehr zur persönlichen Amtsführung in der Lage gewesen. De facto habe ihr Schwiegervater G. S. sen. das Unternehmen geleitet; seit 1993 sei die Klägerin nicht mehr als Geschäftsführerin der Gesellschaft tätig gewesen. Die Klägerin habe im Hinblick auf ihren Ausfall organisatorische und personelle Vorkehrungen getroffen, indem sie für den Zeitraum Mitte 1992 bis Ende 1996 ihren Schwiegervater mit der Geschäftsleitung beauftragt habe. Dieser habe erfolgreich einen Möbelproduktionsbetrieb mit über 700 Mitarbeitern aufgebaut. Nach Verkauf dieses Unternehmens Ende der 70er-Jahre habe er sein know how in die Firma der Steuerschuldnerin eingebracht. Herr S. sei am 28. Mai 2002 verstorben. Zeit seines Lebens sei er wegen steuerlicher Sachverhalte mit dem Gesetz nicht in Konflikt geraten. Außerdem habe die Klägerin für die Abteilung Rechnungswesen/Buchhaltung/Steuern/Personal der Steuerschuldnerin zwei kompetente, fachkundige Mitarbeiterinnen, darunter eine geprüfte Bilanzbuchhalterin, eingestellt. Das Rechnungswesen sei im „Vier-Augen-Prinzip” erstellt und sodann durch den Unternehmensleiter S. geprüft worden. Irgendwelche Unregelmäßigkeiten oder Ungenauigkeiten seien hierbei nicht entdeckt worden. Herr S. habe der Klägerin laufend über den Gang der Geschäfte berichtet. Die Steuerschuldnerin habe außerdem einen Steuerberater beschäftigt, der sich über die Tätigkeiten der genannten Personen durch entsprechende Prüfungshandlungen im hier relevanten Zeitraum vergewissert habe. Die Klägerin bietet hierzu die Einvernahme der Steuerberaters S. D. sowie der ehemaligen Beschäftigten der Steuerschuldnerin V. S. und R. F. sowie ihres Ehemannes G. S. jun. als Zeugen an.

    Die Klägerin weist darauf hin, daß das gegen sie eingeleitete Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung eingestellt worden sei. Sie verkenne nicht, daß sich ihre Haftung schon aus der nominellen Bestellung zur Geschäftsführerin ergeben könne. Sie habe sich aber auf die ordnungsgemäße Vertretung durch Herrn S. und die ordnungsgemäße Erfassung aller umsatzsteuerlich relevanten Geschäftevorfälle durch die Mitarbeiterinnen der Steuerschuldnerin sowie auf die Kontrolltätigkeit des Steuerberaters verlassen dürfen. Im übrigen sei bereits vor Erlaß der Einspruchsentscheidung Zahlungsverjährung eingetreten, da die Klägerin in Bezug auf den streitgegenständlichen Haftungsbescheid vom 18. Dezember 1998 keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt habe.

    Die Klägerin hafte bereits nicht dem Grunde nach nicht, jedoch könne der angefochtene Haftungsbescheid aus deswegen keinen Bestand haben, weil der Beklagte den Grundsatz der anteiligen Tilgung nicht beachtet habe. Aus den beizuziehenden Insolvenzakten der Steuerschuldnerin ergebe sich, daß sich die Tilgungsquote auf höchstens 45 % belaufen dürfte.

    Die Klägerin erklärt desweiteren, der angefochtene Haftungsbescheid sei nichtig, weil er durch die örtlich unzuständige Behörde erlassen worden sei. Zum weiteren Vorbringen der Klägerin wird auf die Klagebegründung vom 07. Mai 2007 und die mit dieser vorgelegten Unterlagen sowie die Schriftsätze vom 28. Oktober 2009 und 30. Oktober 2009 verwiesen.

    Die Klägerin beantragt, den Haftungsbescheid vom 18. Dezember 1998 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 12. April 2007 aufzuheben.

    Die Klägerin beantragt weiterhin, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

    Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen; hilfsweise die Revision zuzulassen.

    Er hält an seiner in der Einspruchsentscheidung vertretenen Rechtsauffassung fest. Das Vorbringen der Klägerin, es sei ihr wegen Erkrankung oder ähnlicher Belastungen nicht möglich gewesen, den gesetzlichen Pflichten nachzukommen, entbinde sie nicht von ihrer Rechtsstellung als Geschäftsführerin. Bereits nach den Hinweisen des Finanzamtes auf steuerliche Unregelmäßigkeiten zur Umsatzsteuerjahreserklärung (Erinnerung und Schätzungsandrohung vom 16. März 1995) hätte sie sich selbst um die steuerlichen Belange der Gesellschaft kümmern müssen.

    Entgegen dem Vorbringen der Klägerin zum Ablauf der Zahlungsverjährungsfrist sie mit Schreiben vom 05. Januar 1999 die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheides beantragt und mit Verwaltungsakt vom 07. Januar 1999 in voller Höhe gewährt worden. Der Grundsatz der anteiligen Tilgung sei im Streitfall nicht maßgebend, da das Finanzamt die Steuern hätte vollstrecken können, wenn die zutreffende Steuer rechtzeitig festgesetzt bzw. angemeldet worden wäre. Auf die späteren Zahlungsschwierigkeiten der GmbH komme es dann nicht an.

    Auf die vom Gericht mitgeteilten Bedenken betreffend der örtlichen Zuständigkeit des Beklagten erklärt dieser, er sei zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides örtlich zuständig gewesen. Die örtliche Zuständigkeit zum Erlaß von Haftungsbescheiden regelte sich nach § 24 AO, wonach die Finanzbehörde zuständig sei, in deren Bezirk der Anlaß für die Amtshandlung hervortrete. Wegen des Sachzusammenhanges sei dies regelmäßig das für den Steuerschuldner zuständige Finanzamt. Für Körperschaften richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach § 20 AO. Nach § 20 Abs. 1 AO sei das FA zuständig, in dessen Bezirk sich die Geschäftsleitung befinde. Da sich der Ort der Geschäftsleitung nicht feststellen lasse, sei nach § 20 Abs. 2 AO das Finanzamt zuständig, in dessen Bezirk die Steuerpflichtige ihren Sitz habe. Den Sitz habe eine Körperschaft nach § 11 AO an dem Ort, der u.a. durch Gesellschaftsvertrag oder dergleichen bestimmt sei. Der Sitz nach § 11 AO bestimmt sich demnach nicht nach der Eintragung im Handelsregister.

    Daher begründe die Eintragung der GmbH im Handelsregister von S. nicht den Sitz nach § 11 AO. In S. habe sich ein Scheinsitz befunden, da dort nach den Feststellungen des Finanzamtes S. seitens der GmbH keinerlei Geschäftsleitungs- oder Arbeitgeberfunktionen oder sonstigen Aktivitäten vorgenommen worden seien. Daraus folge, dass nach § 20 Abs. 3 AO das Finanzamt zuständig sei, in dessen Bezirk sich der wertvollste Teil des Vermögens befinde. Da die GmbH zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt jedoch über keinerlei Vermögen verfügt habe, sei nach § 20 Abs. 4 AO das Finanzamt zuständig, in dessen Bezirk die Tätigkeit vorwiegend ausgeübt worden sei. Die GmbH sei vorwiegend im Zuständigkeitsbereich des Finanzamtes A. tätig gewesen. Sofern sich auch dies nicht feststellen lasse, greife die Ersatzzuständigkeit nach § 24 AO. Hiernach wäre das Finanzamt A. örtlich zuständig, da der Anlaß für die Amtshandlung im Amtsbezirk hervorgetreten sei.

    Sofern man die Meinung vertrete, es sei ein Zuständigkeitswechsel eingetreten, wäre § 26 AO zu beachten. Nach § 26 Satz 2 AO könne die bisher zuständige Finanzbehörde ein Verwaltungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens diene und die nunmehr zuständige Finanzbehörde zustimme. Das Haftungsverfahren habe zum Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide schon begonnen gehabt und sei fortgeführt worden im Sinne der Vorschrift.

    Die Interessen der Haftungsschuldnerin seien nicht berührt gewesen (was auch nicht vorgetragen worden sei), weshalb eine grundsätzlich gebotene Anhörung entbehrlich gewesen sei. Aufgrund der Verfahrensökonomie, insbesondere wegen des Gesamtvollstreckungsverfahrens sei es geboten gewesen, das Verfahren durch das Finanzamt A. durchführen zu lassen. Die Schreiben des Finanzamtes S. hätten so ausgelegt werden können, daß es ausdrücklich einer Fortführung des Verfahrens durch das Finanzamt A. zustimme.

    „Zur Frage, an welchem Ort sich die Geschäftleitung, der Sitz bzw. an welchem Ort überhaupt die GmbH geschäftlichen Aktivitäten entfaltete, die einen Sitz nach § 11 AO begründen, könnte der zu diesem Zeitpunkt im Handelsregister eingetragene Geschäftsführer, Herr H., geeignete Tatsachen zur Sachverhaltsaufklärung vortragen. Deshalb beantrage ich, Herrn H. als Zeugen zu laden.”

    Sofern sich eine Verletzung von Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit ergeben sollte, wäre dieser Mangel nach § 127 AO unbeachtlich, da keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Diese Vorschrift gelte auch für Ermessensentscheidungen, sofern der Ermessenspielraum so eingeengt sei, daß nur eine Entscheidung hätte getroffen werden können. § 127 AO wolle die Aufhebung dann ausschließen, wenn der Fehler für die Entscheidung der Behörde nicht kausal geworden sein könne (BFH BStBl. 1986, 169). Eine solche Ermessensreduzierung habe hier vorgelegen. Der (etwaige) Verfahrensfehler habe unter keinen Umständen die Entscheidung beeinflußt. Es sei praktisch ausgeschlossen gewesen, daß Herr S. als Haftungsschuldner in Anspruch genommen worden wäre. Ein dahingehendes Auswahlermessen habe nicht bestanden, da Herr S. unter keinen Umständen die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme nach § 69 AO erfüllt habe. Es hätten keine konkreten Tatsachen vorgelegen, die es rechtfertigen könnten Herrn S. als Verfügungsberechtigten im Sinne des § 35 AO anzusehen. Nach der amtlichen Begründung zu dieser Vorschrift, sei Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO jeder, der wirtschaftlich über Mittel, die einem anderen gehören, verfügen könne und als Verfügungsberechtigter auftrete. Nach dem im Gesetz zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers sei in der Verfügung über die Mittel eines anderen eine herausragende, tatsächlich wahrgenommene Machtbefugnis zu erblicken, die es rechtfertigt, sie als eigenständiges Kriterium für den Übergang der Verpflichtung zur Erfüllung der steuerlichen Pflichten zu wählen und einem solchermaßen Verfügenden dem gesetzlichen Vertreter gleichzustellen (Niedersächsisches FG, EFG 2009, 1610).

    Da sich mithin keinerlei konkrete Tatsachen finden ließen (daß die Klägerin behaupte, Aufgaben delegiert zu haben, sei verständlich, dies habe sie jedoch nicht durch Tatsachen zu untermauern vermocht), die es rechtfertigen würden, von einer Verfügungsberechtigung des Herrn S. im Sinne des § 35 AO auszugehen, sei eine Haftungsinanspruchnahme des Herrn S. daher keineswegs naheliegend gewesen, sondern nur eine entfernte Möglichkeit, die sich allenfalls auf bloße Vermutung stützen ließe. Im übrigen sei dieser Einwand zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht einmal vom klägerischen Vertreter vorgetragen worden. Deswegen sei es rechtlich in keiner Weise geboten gewesen, Herrn S. als faktischen Geschäftsführer in die Ermessenerwägungen mit einzubeziehen. „Über den Umfang der tatsächlichen Verfügungsbefugnis kann Frau S. S. entscheidungserhebliche Tatsachen vortragen. Deshalb beantrage ich, die Klägerin als Zeugin zu laden.”

    Zu den weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die Steuerakten der GmbH, die Haftungs- und Rechtsbehelfsakten und das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

    Entscheidungsgründe

    Die Klage ist begründet. Der angefochtene Haftungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung – FGO). Der Haftungsbescheid ist rechtswidrig, weil das Finanzamt A. zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides örtlich nicht mehr zuständig war.

    1. Die Sache war zu entscheiden, denn es waren keine erheblichen Gründe für eine Vertagung gegeben (§ 155 FGO i.V. mit § 277 Zivilprozeßordnung – ZPO). Die Beteiligten sind der mündlichen Verhandlung ferngeblieben, obwohl sie ordnungsgemäß geladen und gemäß § 91 Abs. 2 FGO über die Folgen ihres Ausbleibens belehrt worden waren. Ein ausdrücklicher Antrag auf Vertagung wurde nicht gestellt; auch waren erhebliche Gründe für eine Verlegung nach Aktenlage nicht gegeben.

    2. Da die der Abgabenordnung 1977 (AO) für Verwaltungsakte wie den Erlaß von Haftungsbescheiden keine besondere Vorschrift über die örtliche Zuständigkeit enthält, ist gemäß § 24 AO diejenige Finanzbehörde örtlich zuständig, in deren Bezirk der Anlaß für die Amtshandlung hervortritt. Für den Erlaß eines Haftungsbescheides ist das wegen des Sachzusammenhanges regelmäßig die für den Steuerschuldner (hier die KW Warenhandels GmbH) zuständige Finanzbehörde (vgl. Bundesfinanzhof – BFH – Urteil vom 23. Juli 1998, VII R 141/97, BFH/NV 1999, 433 m.w.N.).

    Nach § 20 Abs. 1 AO ist für die Besteuerung u.a. von Körperschaften nach dem Einkommen und Vermögen das Finanzamt örtlich zuständig, in dessen Bezirk sich die Geschäftsleitung befindet. Befindet sich die Geschäftsleitung nicht im Geltungsbereich des Gesetzes oder läßt sich der Ort der Geschäftsleitung nicht feststellen, so ist das Finanzamt örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Steuerpflichtige ihren Sitz hat (§ 20 Abs. 2 AO). Geschäftsleitung ist der Mittelpunkt, der geschäftlichen Oberleitung (§ 10 AO). Dieser befindet sich dort, wo der für die Geschäftsführung maßgebliche Wille gebildet wird. Bei einer an mehreren Orten tätigen Geschäftsführung ist der Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung da, wo sich die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse in organisatorischer und wirtschaftlicher Hinsicht bedeutungsvollste Stelle befindet. Entscheidend ist, wo nach den tatsächlichen Verhältnissen des Einzelfalles dauernd die für die Geschäftsführung nötigen Maßnahmen von einiger Wichtigkeit angeordnet werden. Für die Beurteilung sind Art und Umfang, Struktur und Eigenart des Unternehmens zu berücksichtigen. Bei einer Gesellschaft befindet sich der Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung regelmäßig an dem Ort, an dem die zur Vertretung der Gesellschaft befugte Person die ihr obliegende geschäftsführende Tätigkeit entfaltet. Dies ist bei einer GmbH im allgemeinen der Ort, wo sich das Büro ihres Geschäftsführers befindet (Bundesfinanzhof – BFH – Urteil vom 23. Januar 1991, I R 22/90, BStBl II 1991, 554 m.w.N.). Die örtliche Zuständigkeit des Finanzamtes für die Besteuerung endet mit dem Zeitpunkt, in dem ein anderes Finanzamt zuständig wird. Maßgebend sind die Verhältnisse zur Zeit des Erlasses des Steuerbescheides (vgl. BFH Urteil vom 16. Juli 1986, I R 78/79, BFH/NV 1987, 326).

    Die für die Umsatzsteuer zuständige Finanzbehörde bestimmt sich in erster Linie nach § 21 Abs. 1 AO. Maßgeblich ist danach der Ort, von dem aus der Unternehmer ganz oder vorwiegend sein Unternehmen betreibt. Das ist im allgemeinen der Ort, an dem die Geschäftsleitung ihren Sitz hat, selbst wenn der Unternehmer dort keine Betriebsstätte hat (vgl. BFH Urteil vom 19. Dezember 2000, VII R 86/99, BFH/NV 2001, 742). Den Sitz hat eine Körperschaft nach Maßgabe des § 11 AO an dem Ort, der durch den Gesellschaftsvertrag bestimmt ist.

    3. Im Streitfall war das Finanzamt A. zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides vom 18. Dezember 1998 nicht mehr örtlich zuständig. Denn mit dem Gesellschafterbeschluß vom 12. August 1997 war der Sitz der GmbH nach S. verlegt worden. Da der Sitz der GmbH nach § 11 AO durch diesen, den Gesellschaftervertrag ändernden Gesellschafterbeschluß, bestimmt worden ist, konnte die vom Beklagten beantragte Einvernahme des Zeugen H. zu der Frage, „an welchem Ort sich die Geschäftleitung, der Sitz bzw. an welchem Ort überhaupt die GmbH geschäftlichen Aktivitäten entfaltete, die einen Sitz nach § 11 AO begründen würden” unterbleiben. Denn für die Frage des Sitzes nach § 11 AO kommt es auf die „Entfaltung geschäftlicher Aktivitäten” nicht an. Außerdem waren nach den Feststellungen des Beklagten die von der GmbH genutzten Geschäftsräume in A., in denen sich wohl auch der Sitz der Geschäftsleitung befunden hat, seit Oktober 1997 verlassen und dem Verfall preisgegeben; andere Geschäftsräume im Bezirk des Beklagten hatte die Steuerpflichtige nicht inne.

    Der Beklagte ist auch nicht auf Grundlage einer Zuständigkeitsvereinbarung mit dem Finanzamt S. tätig geworden (§ 26 Satz 2 AO). Im Streitfall fehlt es zum einen an einer ausdrücklichen Zustimmungserklärung des Finanzamtes S.. Dieses hat in Verkennung seiner Zuständigkeit die Aktenübernahme abgelehnt. Hierin ist keine konkludente Zustimmungserklärung zu sehen, denn wer eine Rechtsposition nicht erkennt, kann sie auch nicht übertragen haben wollen.

    4. Der Umstand, daß das beklagte Finanzamt am 18. Dezember 1998 örtlich nicht zuständig für den Erlaß des Haftungsbescheides gewesen ist, führt nach § 125 Abs. 3 Nr. 1 AO nicht schon deshalb zur Nichtigkeit des Verwaltungsaktes, weil Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden sind. Denn nach § 127 AO kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 125 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Diese Vorschrift bezieht sich jedoch nur auf gebundene Verwaltungsakte, weil bei Ermessensentscheidungen – wie z.B. einem Haftungsbescheid – in der Regel nicht angenommen werden kann, daß keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (BFH Urteile vom 18. Juli 1985, VI R 41/82, BStBl II 1986, 169 und vom 10. Dezember 1987, IV R 77/86, BStBl. II 1988, 322). Dies kann nur dann der Fall sein, wenn der Ermessensspielraum der Finanzbehörde im Einzelfall so weit eingeengt ist, daß sich nur eine Entscheidung als ermessensfehlerfrei erweist (Ermessensreduzierung auf Null – vgl. BFH Urteil vom 18. Mai 1994, I R 21/93, BStBl. II 1994, 697; FG Münster, Urteil vom 04. Juli 1991, 1 K 6779/90, EFG 1992, 107 m.w.N.).

    Die Inanspruchnahme der Klägerin als Haftende (neben anderen als Gesamtschuldner in Betracht kommenden Haftenden) stellt eine Ermessensentscheidung nach § 191 Abs. 1 i.V.m. § 5 AO dar, die nach § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) daraufhin zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründet werden, andernfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen – die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners – aus der Entscheidung erkennbar sein. Danach muß das Finanzamt grundsätzlich zum Ausdruck bringen, warum es den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle einer anderen, ebenfalls für die Haftung in Betracht kommenden Person in Anspruch nimmt. Bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners ist die Finanzbehörde nicht gehalten, die Begründung der Ausübung des Auswahlermessens auf Personen zu erstrecken, die als Haftungsschuldner nicht ernsthaft in Betracht kommen; entfernt liegende Überlegungen braucht sie daher nicht anzustellen (vgl. BFH Beschluß vom 18. Juli 2008 VII B 184/07, BFH/NV 2008, 1805 m.w.N.).

    Im Streitfall hat die Klägerin dem Beklagten im Einspruchsverfahren mitgeteilt, sie habe aufgrund einer schweren Erkrankung ihre Aufgaben als Geschäftsführerin an ihren Schwiegervater delegiert. Ausweislich der Steuerakten war dieser neben der Klägerin Beschuldigter in dem Steuerstrafverfahren (Blatt 71 der Rechtsbehelfsakte der Steuerschuldnerin). Aus dem in der Umsatzsteuerakte der Steuerschuldnerin befindlichen Schriftverkehr ist außerdem ersichtlich, daß der Ehemann der Klägerin, Herr G. S. jun., gegenüber dem Finanzamt als Vertreter der Steuerschuldnerin aufgetreten ist. So hat der Beklagte Schreiben an die GmbH bezüglich der Umsatzsteuer 1994 z.Hd. Herrn G. S. jun. adressiert. Die Überlegung, die Haftungsinanspruchnahme der Herren S. sen. und jun. zu prüfen, war daher naheliegend. Denn nach dem Inhalt der vorliegenden Akten kamen beide ernsthaft als mögliche Haftungsschuldner in Betracht. Weder in dem Haftungsbescheid noch in der Einspruchsentscheidung finden sich aber Anhaltspunkte dafür, ob und mit welchem Ergebnis der Beklagte eine Inhaftungnahme des Herrn S. sen. und des Herrn S. jun. in seine Ermessenserwägungen mit einbezogen hat.

    Auf die vom Beklagten beantragte Einvernahme der Klägerin zur der Frage, welchen Umfang die tatsächliche Verfügungsbefugnis ihres Schwiegervaters hatte, konnte verzichtet werden. Ob Herr S. sen. tatsächlich als Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO in Haftung zu nehmen war ist nämlich nicht entscheidungserheblich. Der angefochtene Haftungsbescheid erweist sich deswegen als rechtswidrig, weil es unter Berücksichtigung des Inhalts der Akten denkbar ist, daß ein anderes Finanzamt hinsichtlich des Auswahlermessens eine andere Entscheidung getroffen hätte. Der angefochtene Haftungsbescheid war nach alledem aufzuheben.

    5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der in § 115 Abs. 2 FGO genannten Zulassungsgründe gegeben ist. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht aufgrund § 151 Abs. 1 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

    VorschriftenAO § 10, AO § 11, AO § 20 Abs. 1, AO § 20 Abs. 2, AO § 21 Abs. 1, AO § 24, AO § 125, AO § 127, AO § 191 Abs. 1, AO § 5, FGO § 102