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Keine Verpflichtung des Betriebsstätten-FA zur sog. Schattenveranlagung bei fehlerhafter Einbehaltung der Lohnsteuer für beschränkt Steuerpflichtige
| Das FG Niedersachsen (16.4.25, 9 K 155/22 ; Rev. BFH VI R 8/25, Einspruchsmuster ) hat aktuell entschieden, dass der Lohnsteuer-Haftungstatbestand mit dem Entstehen der Einkommensteuer mit Ablauf des Kalenderjahres (§ 36 Abs. 1 EStG) weiterhin an den Lohnsteueranspruch und nicht an den bereits entstandenen Einkommensteueranspruch anknüpft mit der Folge, dass damit die vorläufig entstandene Lohnsteuerschuld des Arbeitnehmers Grundlage der Haftung bleibt, und nicht dessen Einkommensteuerschuld. |
Im Streitfall hatte eine GmbH für zwei ihrer beschränkt steuerpflichtigen Arbeitnehmer (Ehepaar aus den Niederlanden) die Lohnsteuer fehlerhaft nach Lohnsteuerklasse I anstatt nach Lohnsteuerklasse VI einbehalten und an das beklagte FA abgeführt. Im Anschluss an eine Lohnsteueraußenprüfung erließ der Beklagte (Betriebsstätten-FA) einen Haftungsbescheid über Lohnsteuer und sonstige Lohnsteuerabzugsbeträge für die Zeit von Januar 2016 bis Dezember 2019. Im Einspruchs- und Klageverfahren begehrte die Klägerin die Aufhebung dieses Haftungsbescheides u. a. mit der Begründung, dass die tatsächliche Einkommensteuerschuld der Arbeitnehmer niedriger sei und eine Haftung aufgrund der Akzessorietät und des Fehlens eines Strafcharakters auszuscheiden habe. Zur Begründung legte die Klägerin die Einkommensteuerbescheide 2016 und 2019 sowie die Einkommensteuererklärungen 2017 und 2018 für die Arbeitnehmerin vor. Für den Arbeitnehmer fügte die Klägerin lediglich Berechnungen über die sich ergebende Einkommensteuerschuld sowie niederländische Steuerbescheide zum Nachweis der niederländischen Einkünfte bei. Das FA reduzierte daraufhin die Haftungsbeträge lediglich bezüglich der Arbeitnehmerin für 2016 und 2019, da sich aus den Einkommensteuerbescheiden eine gegenüber den Lohnsteuerbeträgen geringere Einkommensteuerschuld ergab. Im Übrigen lehnte das FA eine weitere Reduzierung der Haftungsbeträge ab. Wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung seien keine Einkommensteuerbescheide 2017 und 2018 erlassen worden. Das Betriebsstätten-FA sei nicht verpflichtet, insoweit sog. Schattenveranlagungen aufgrund von Einkommensteuererklärungen oder ‒ wie im Fall des anderen Arbeitnehmers ‒ vorgelegten Steuerberechnungen durchzuführen.
Das FG folgte im Ergebnis der Argumentation des FA und wies die Klage als unbegründet ab. Der Wortlaut des § 38a Abs. 1 S. 1 EStG (Jahreslohnsteuer) und § 42d Abs. 1 Nr. 1 und 3 EStG sprechen aus Sicht des Gerichts dafür, dass sich die Haftung nach Ablauf des Kalenderjahres auf diese Jahreslohnsteuer bezieht und nicht auf eine zu diesem Zeitpunkt entstehende Einkommensteuer des Arbeitnehmers. Auch steuersystematisch sei diese Auslegung geboten. § 42d EStG sei Teil der Steuererhebungsvorschriften. Das EStG trenne streng nach Lohnsteuerabzugsverfahren und Veranlagungsverfahren (§ 46 EStG). Das Lohnsteuerabzugsverfahren beschränke sich auf die Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit und hat keine Bindungswirkung für die für ein späteres Veranlagungsverfahren. Aus den gleichen Gründen ist nach Auffassung des FG auch nicht von Belang, ob eine abgegebene Einkommensteuererklärung wie im Streitfall infolge Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht in einen Einkommensteuerbescheid mündet oder sich aufgrund von vorgelegten Berechnungen ggf. eine geringere Einkommensteuerschuld ergibt. Alles andere würde dazu führen, dass das Betriebsstätten-FA des Arbeitgebers in solchen Fällen sog. Schattenveranlagungen durchführen und die Aufgaben des Veranlagungsfinanzamts übernehmen müsste. Eine derartige Vermischung von Lohnsteuerabzugs- und Veranlagungsverfahren wäre steuersystematisch verfehlt und verfassungsrechtlich nicht geboten. Denn danach ist die Haftung für die Jahreslohnsteuer ohne Betrachtung der tatsächlichen Einkommensteuerschuld keine Strafsteuer. Diese Haftung entspreche vielmehr den gesetzlichen Vorschriften.
PRAXISTIPP | Die Entscheidung des FG liegt zwar auf der Linie der älteren Rechtsprechung des BFH (12.1.01, VI R 102/98, BStBl. II 03, 151). Diese Rechtsauslegung sieht sich jedoch aktuell zunehmender Kritik im Schrifttum ausgesetzt. Es darf daher mit Spannung erwartet werden, wie sich der VI. Senat des BFH hierzu verhält. In jedem Fall sollten steuerlichen Berater vorhandene Einkommensteuerbescheide der betroffenen Arbeitnehmer vorlegen oder eine entsprechende Veranlagung bei deren Wohnsitz-FÄ anstoßen, um den Nachweis einer geringeren Einkommensteuerschuld zu führen. Jedenfalls hat das FG Berlin-Brandenburg (23.2.17, 4 K 4083/15, DStRE 18, 646; 13.11.18, 9 V 9023/18, EFG 19, 132) solche Steuerbescheide berücksichtigt und die Haftung reduziert. Kann eine Vorlage nicht erfolgen, bleiben nur die Vorlage von entsprechenden Steuerberechnungen und ein Offenhalten betroffener Lohnsteuerhaftungsbescheide. |