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  • 23.06.2025 · IWW-Abrufnummer 248730

    Finanzgericht Niedersachsen: Urteil vom 16.04.2025 – 9 K 155/22

    1. Trotz der substantiellen Einwendungen eines Teils des steuerrechtlichen Schrifttums spricht für das Gericht Überwiegendes dafür, dass der Haftungstatbestand mit dem Entstehen der Einkommensteuer mit Ablauf des Kalenderjahres (§ 36 Abs. 1 EStG) weiterhin an den Lohnsteueranspruch und nicht an den bereits entstandenen Einkommensteueranspruch anknüpft. Damit bleibt die vorläufig entstandene Lohnsteuerschuld des Arbeitnehmers Grundlage der Haftung, und nicht dessen Einkommensteuerschuld. Der Wortlaut des § 38a Abs. 1 Satz 1 EStG ( Jahreslohnsteuer ) und § 42d Abs. 1 Nr. 1 und 3 EStG sprechen dafür, dass sich die Haftung nach Ablauf des Kalenderjahres auf diese Jahreslohnsteuer bezieht und nicht auf eine zu diesem Zeitpunkt entstehende Einkommensteuer des Arbeitnehmers.

    2. Auch steuersystematisch ist diese Auslegung geboten. § 42d EStG ist Teil der Steuererhebungsvorschriften. Das EStG trennt streng nach Lohnsteuerabzugsverfahren und Veranlagungsverfahren (§ 46 EStG). Das Lohnsteuerabzugsverfahren beschränkt sich auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und hat keine Bindungswirkung für die für ein späteres Veranlagungsverfahren.

    3. Aus den gleichen Gründen ist auch nicht von Belang, ob eine abgegebene Einkommensteuererklärung wie im Streitfall infolge Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht in einen Einkommensteuerbescheid mündet oder sich aufgrund von vorgelegten Berechnungen ggf. eine geringere Einkommensteuerschuld ergibt. Alles andere würde dazu führen, dass das Betriebsstättenfinanzamt des Arbeitgebers in solchen Fällen sog. Schattenveranlagungen durchführen und die Aufgaben des Veranlagungsfinanzamts übernehmen müsste. Eine derartige Vermischung von Lohnsteuerabzugs- und Veranlagungsverfahren wäre steuersystematisch verfehlt und verfassungsrechtlich nicht geboten. Denn danach ist die Haftung für die Jahreslohnsteuer ohne Betrachtung der tatsächlichen Einkommensteuerschuld keine Strafsteuer. Diese Haftung entspricht vielmehr den gesetzlichen Vorschriften.

    4. Ersetzt das Finanzamt während eines Klageverfahrens den mit der Klage angefochtenen Haftungsbescheid durch einen anderen Haftungsbescheid, in dem es erstmals seine Ermessenserwägungen erläutert, so wird dieser Bescheid zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens (Anschluss an BFH, Urteil vom 16. Dezember 2008 I R 29/08, BFHE 224, 195, BStBl. II 2009, 539; zur Kritik an dieser Rechtsprechung s. Anmerk. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 24/2009 Anm. 3). Im weiteren Verlauf jenes Verfahrens sind danach die nunmehr angestellten Ermessenserwägungen in vollem Umfang zu berücksichtigen.


    Finanzgericht Niedersachsen, Urteil vom 16.04.2025, Az. 9 K 155/22

    Tatbestand

    Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheides über Lohnsteuer und Lohnsteuerabzugsbeträge für die Zeit von Januar 2016 bis Dezember 2019.

    Die Klägerin ist eine GmbH mit Sitz in B. Gegenstand des Unternehmens ist im Wesentlichen die Erbringung von Dienstleistungen im Umweltservicebereich und in artverwandten Bereichen. Im streitgegenständlichen Zeitraum waren X (Geschäftsführer) und Y als Arbeitnehmer für die Klägerin tätig. Sie hatten ihren ausschließlichen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden. Für keine der beiden Personen war ein Antrag auf unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland gestellt worden. Herr X erzielte zusätzlich zu seiner Geschäftsführervergütung weitere Einkünfte in den Niederlanden. Frau Y erzielte ausschließlich Einkünfte aus ihrer Arbeitnehmertätigkeit für die Klägerin. Die jeweilige Lohnsteuer nebst Folgesteuern wurde nach Steuerklasse I einbehalten und abgeführt.

    Im Anschluss an eine Lohnsteueraußenprüfung erließ der Beklagte am 4. Januar 2022 einen Haftungsbescheid über Lohnsteuer und sonstige Lohnsteuerabzugsbeträge für die Zeit von Januar 2016 bis Dezember 2019. Dabei wurden folgende Haftungsbeträge festgesetzt:


    Lohnsteuer:    67.185,98 €
    Solidaritätszuschlag:    3.895,11 €
    Ev. Kirchensteuer:    2.928,86 €

    Die Lohnsteueraußenprüfung hatte festgestellt, dass die Klägerin als Arbeitgeberin den Steuerabzug vom Arbeitslohn für den Geschäftsführer X und die Arbeitnehmerin X nicht in richtiger Höhe vorgenommen hatte. Es handele sich um beschränkt steuerpflichtige Arbeitnehmer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Die Lohnversteuerung nach Lohnsteuerklasse I sei unzutreffend gewesen. Es habe eine Nachversteuerung nach Lohnsteuerklasse VI zu erfolgen, weil weder die Arbeitnehmer noch die Klägerin die Bescheinigung nach § 39d Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zur Durchführung des Lohnsteuerabzugs für beschränkt einkommensteuerpflichtige Arbeitnehmer vorgelegt hätten (§ 39d Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 39c Abs. 1 EStG). Zeitgerechte Anträge zur Berücksichtigung der Steuerklasse I und der ID-Nummern seien erst für das Kalenderjahr 2021 gestellt worden. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den Prüfungsbericht vom 20. Dezember 2021 Bezug genommen.

    Hiergegen legte die Klägerin am 1. Februar 2022 Einspruch ein. Zur Begründung führte sie an, dass Y nur Einnahmen aus dem Arbeitsverhältnis mit der Klägerin gehabt habe. Aus beigefügten Berechnungslisten auf Basis der Jahreslohnsteuerbescheinigungen sei ersichtlich, dass der Lohnsteuerabzug nach der Steuerklasse I der festzusetzenden Einkommensteuer der Streitjahre entspreche und daher kein Raum mehr für eine Haftungsinanspruchnahme sei. X habe neben dem Arbeitsverhältnis bei der Klägerin noch Einkünfte in den Niederlanden erzielt. Diese ergäben sich aus beigefügten niederländischen Steuerbescheiden. Auch in diesem Fall ergebe sich aus den beigefügten Berechnungslisten, dass der Lohnsteuerabzug nach der Steuerklasse I der festzusetzenden Einkommensteuer der Streitjahre entspreche und daher auch hier eine Haftung auszuscheiden habe. Bezüglich der Einzelheiten der Berechnungslisten wird auf die Anlagen 2 und 4 des Einspruchsschreibens Bezug genommen. Gleichwohl hatte der Einspruch hatte keinen Erfolg (vgl. Einspruchsentscheidung vom 26. August 2022). Erwägungen zur Ausübung des Auswahlermessens sind weder im Haftungsbescheid vom 4. Januar 2022 noch in der Einspruchsentscheidung enthalten.

    Mit der vorliegenden Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren aus dem Einspruchsverfahren weiter. Danach stehen die im Haftungsbescheid getroffenen Feststellungen ausdrücklich nur insoweit im Streit, als sie auf die Haftungsinanspruchnahme aufgrund der Anwendung der unzutreffenden Lohnsteuerklasse (Steuerklasse I statt VI) bei den beiden Arbeitnehmern X und Y entfallen. Im Übrigen seien die Feststellungen unstreitig.

    Zur Begründung trägt im Wesentlichen Folgendes vor: Der Haftungsbescheid sei rechtswidrig, denn für den Streitzeitraum festzusetzenden Einkommensteuer liege unterhalb der nach Steuerklasse I einbehaltenen und abgeführten Lohnsteuer. Hierzu beruft sich die Klägerin auf den Beschluss des FG Berlin- Brandenburg vom 13. August 2018 (9 V 9023/18).

    Noch im laufenden Klageverfahren hat der Beklagte daraufhin den angefochtenen Haftungsbescheid vom 4. Januar 2022 aufgehoben und durch einen neuen (geänderten) Haftungsbescheid vom 6. März 2023 ersetzt, der zum Gegenstand des Verfahrens (§ 68 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) geworden ist. Aus dem vorliegenden Einkommensteuerbescheid 2016 der Arbeitnehmerin Y ergebe sich, dass ihre tatsächliche Einkommensteuerschuld niedriger sei, als der nach Steuerklasse I zu niedrig einbehaltene und abgeführte Lohnsteuerabzugsbetrag. Aufgrund der Akzessorietät der Lohnsteuerhaftung der Arbeitgeberin mit der entsprechenden Einkommensteuerschuld der Arbeitnehmerin entfiele insoweit der Haftungsanspruch gegenüber der Arbeitgeberin. Im Übrigen sei die Haftungsinanspruchnahme der Klägerin zu Recht erfolgt. Für die übrigen Zeiträume lägen keine Einkommensteuerbescheide vor, schlichte Steuerberechnungen reichten nicht.

    Im neuen Haftungsbescheid vom 6. März 2023 weist der Beklagte in den Erläuterungen darauf hin, dass dieser Bescheid den Haftungsbescheid vom 4. Januar 2022 ersetze. Zudem wird (erstmals) wörtlich ausgeführt, dass die Inanspruchnahme der Klägerin nicht unbillig sei. Sie hätte sich mit der vorrangigen Inanspruchnahme vor anderen Haftungsschuldnern (Vertreterhaftung/Geschäftsführer) einverstanden erklärt.

    Hiergegen richtet sich die weitere Klagebegründung der Klägerin: Zwar habe das FG Berlin-Brandenburg in dem bereits zitierten Beschluss vom 13. November 2018 (9 V 9023/18) ausgeführt, dass das Finanzamt nicht zur Durchführung einer sogenannten "Schattenveranlagung" verpflichtet sei. In der einschlägigen Kommentarliteratur werde jedoch die gegenteilige Auffassung vertreten (vgl. hierzu nur Krüger, in: Schmidt, EStG, § 42d Rn. 60, sowie Hermann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 42d EStG, Anm. 74, jeweils mit weiteren Nachweisen). Diese Sichtweise erscheine auch vor dem Hintergrund sachgerecht, dass die Feststellungslast für das Entstehen und die Höhe des Lohnsteueranspruchs und des daran anknüpfenden Haftungsanspruchs grundsätzlich das Finanzamt trage. Vorliegend seien dem Finanzamt alle maßgeblichen Informationen mitgeteilt worden, sodass ohne umfangreiche Schattenveranlagung festgestellt werden könne, dass keine Haftungsansprüche bestünden.

    Nachdem das beklagte Finanzamt auf ihrem Standpunkt im Schriftsatz vom 24. April 2023 beharrt hat, hat die Klägerin die Einkommensteuererklärungen von Y für 2017 bis 2019 vorgelegt.

    Da in der Folge am 18. August 2023 der Einkommensteuerbescheid 2019 ergangen ist und sich auch aus dem Bescheid eine geringere Steuerschuld ergeben hat als nach Steuerklasse I im Lohnsteuerabzugsverfahren einbehalten und abgeführt worden ist, hat der Beklagte die Haftungsbeträge insoweit erneut gemindert und den Haftungsbescheid vom 6. März 2023 durch den Haftungsbescheid vom 31. März 2025 ersetzt.

    Der Beklagte hat bezüglich der übrigen Einkommensteuererklärungen darauf hingewiesen, dass für die Jahre 2017 und 2018 bereits Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Ohne Vorlage der Einkommensteuerbescheide sei eine weitere Minderung der Haftungssumme nicht möglich.

    Die Klägerin macht hiergegen geltend, dass trotz etwaigen Eintritts der Festsetzungsverjährung feststehe, dass eine entsprechende Einkommensteuerschuld nicht entstanden sei. Die Abgabe einer Steuererklärung sei gar nicht erforderlich gewesen. Daher werde auch auf die Vorlage der Steuererklärungen für den Geschäftsführer X verzichtet. Da die Haftung des Arbeitgebers ausdrücklich nur Schadensersatz-, aber keinen Strafcharakter haben solle, scheide eine Inanspruchnahme vorliegend aus. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt die Steueridentifikationsnummer der Frau Y vorgelegen habe.

    Hinzu komme, dass das beklagte Finanzamt die Besteuerung nach Steuerklasse VI vornehmen möchte, weil die angeblich erforderliche Bescheinigung nicht vorgelegt worden sei. Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass diese Bescheinigung ohnehin nur bis zum Ende des Kalenderjahres hätte aufbewahrt werden müssen, in jedem Fall aber noch beantragt werden könne, da der von dem Finanzamt in Bezug genommene § 39d EStG nicht mehr existiere und die entsprechende Antragsfrist auch an keiner anderen Stelle in das Gesetz übernommen worden sei. Äußerst vorsorglich werde die entsprechende Bescheinigung daher hiermit beantragt.

    Der fehlende Abruf der ELStAM-Daten für den Arbeitnehmer X liege überdies nicht im Verschulden der Klägerin. Die Klägerin habe den Abruf für X analog zu Y gestartet. Hierauf habe sie allerdings eine Fehlermeldung erhalten, die vermutlich, wie bereits von dem Beklagten ausgeführt, auf die Inaktivität der ID-Nummer zurückzuführen sei. Weshalb die ID-Nummer inaktiv sein solle, sei nicht bekannt. Dies sei offenbar auf technische Schwierigkeiten seitens der Finanzverwaltung zurückzuführen. Sodann sei mitgeteilt worden, dass die Nummer offenbar "automatisch" inaktiv gesetzt worden sei, über das BZSfSt solle diese Nummer nun aber wieder aktiviert werden. Jedenfalls könne es nicht zu Lasten der Klägerin gehen.

    Die Klägerin weist zudem darauf hin, dass § 39d EStG seit dem Veranlagungszeiträum 2012 nicht mehr existiere. Dies habe folgende Konsequenzen: Die vom Finanzamt genannte einjährige Antragsfrist für die Bescheinigung sei damit nicht mehr gültig, da sie auch anderweitig nicht in das Gesetz aufgenommen worden sei. Mit Schriftsatz vom 25. September 2023 sei daher ein Antrag für die entsprechenden Veranlagungszeiträume gestellt worden. Die von der Lohnsteueraußenprüferin geforderten Bescheinigungen hätten nur jeweils bis zum Ende des Kalenderjahres aufbewahrt werden müssen. Der Prüfungsfeststellung fehle es somit an einer gesetzlichen Grundlage (§ 39 Abs. 3 EStG a. F.). Die Argumentation bezüglich der Papierbescheinigung sei daraufhin aufgegeben worden. Das Finanzamt begründe nunmehr die Versteuerung nach Steuerklasse VI damit, dass die Klägerin entgegen der Verpflichtung nach § 39e Abs. 5 Satz 3 EStG die elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale nicht abgerufen habe, obwohl dies monatlich hätte geschehen müssen. Es sei also festzuhalten, dass die ursprüngliche Argumentation auf der veralteten Rechtsnorm § 39d EStG basiere und sich die jetzige Argumentation auf zum damaligen Zeitpunkt zukünftige Regelungen berufe. Eine Teilnahme am ELStAM-Verfahren für beschränkt Steuerpflichtige sei erst in einer späteren programmtechnischen Ausbaustufe vorgesehen gewesen. Dies gelte auch dann, wenn für diesen Arbeitnehmerkreis auf Anforderung des Finanzamts oder aus anderen Gründen (z. B. früherer Wohnsitz im Inland) steuerliche Identifikationsnummern vorlägen. In diesen Fällen habe das Betriebsstättenfinanzamt des Arbeitgebers derzeit noch auf Antrag Papierbescheinigungen für den Lohnsteuerabzug auszustellen.

    Bezüglich des von der Finanzverwaltung genannten Punktes "diese Auffassung liefe darauf hinaus, dass die den Arbeitgeber obliegende Pflichten im Lohnsteuerabzugsverfahren entgegen der gesetzlichen Systematik auf die Finanzbehörde verlagert würde" verweist die Klägerin auf § 39e Abs. 5 Satz 4 EStG, welcher bereits in seiner derzeitigen Fassung seit 2017 Anwendung findet. Komme der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen nach den Sätzen 1 und 3 sowie nach Abs. 4 Satz 2, 3 und 5 nicht nach, sei danach das Betriebsstättenfinanzamt für die Aufforderung zum Abruf und zur Anwendung der Lohnsteuerabzugsmerkmale sowie zur Mitteilung der Beendigung des Dienstverhältnisses und für die Androhung und Festsetzung von Zwangsmitteln zuständig." Im vorliegenden Fall sei der Beklagte untätig geblieben und habe erst im Rahmen der Lohnsteueraußenprüfung den Sachverhalt thematisiert. Die ELStAM-Anmeldung sei im Übrigen rückwirkend zum 1. Januar 2020 erfolgt.

    § 39c Abs. 2 EStG i.V.m. § 39 Abs. 3 EStG sei nicht anwendbar. § 39 Abs. 3 EStG beziehe sich nach dem Gesetzeswortlaut auf Fälle, bei denen eine Papierbescheinigung für die Lohnsteuerabzugsmerkmale ausgestellt werden solle für Arbeitnehmer ohne Identifikationsnummer. Dies sei bei Y unzutreffend, da eine Identifikationsnummer vorliege. Vorsorglich deshalb seien die Papierbescheinigungen für den Lohnsteuerabzug für die jeweiligen Veranlagungszeiträume mit Schriftsatz vom 25. September 2023 beantragt worden.

    Für Fälle, bei denen die Lohnsteuerabzugsmerkmale nachträglich bekannt würden, stelle grundsätzlich § 41c EStG eine Berichtigungsnorm dar. Sofern unterjährig nach Steuerklasse VI versteuert werde, könne beispielsweise selbst nach Ablauf des Kalenderjahres bis Ausstellung der Lohnsteuerbescheinigung eine Berichtigung von zu viel entrichteter Lohnsteuer erfolgen. Die zeitliche Beschränkung auf die Erstellung der Lohnsteuerbescheinigung, dürfe vorliegend nicht greifen, da die Steuer unter Vorbehalt der Nachprüfung stehe.

    Hinsichtlich des Einwands der Festsetzungsverjährung für die Steuerjahre 2017 und 2018 als Hindernis für die Erteilung von Einkommensteuerbescheiden verweist die Klägerin auf die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 15 der Abgabenordnung (AO).

    Auch für X liege eine Identifikationsnummer vor. Während bei Y die erhöhte Lohnsteuer noch durch eine Antragsveranlagung zur Einkommensteuer geheilt werden könne, ergebe sich bei X aufgrund der Einbeziehung der ausländischen Einkünfte als Progressionseinkünfte eine unzumutbare Belastung. Die Steuerklasse VI gelte bei Arbeitnehmern, die nebeneinander von mehreren Arbeitgebern Arbeitslohn in der Bundesrepublik Deutschland bezögen, für die Einbehaltung der Lohnsteuer vom Arbeitslohn aus dem zweiten und weiteren Dienstverhältnis. Da X kein zweites Dienstverhältnis in Deutschland habe, sei bei ihm die Steuerklasse I zutreffend. Des Weiteren sei anzumerken, dass die Heilungsmöglichkeit mittels Antragsveranlagung durch die Einbeziehung der ausländischen Einkünfte quasi wegfalle. Im Grunde liege hierdurch eine Diskriminierung eines EU-Ausländers vor.

    § 39c EStG sei keine Bestrafungsnorm. Sinn und Zweck des § 39c EStG - Ermittlung der Lohnsteuer nach der ungünstigen Steuerklasse VI - sei, dass der Arbeitnehmer zur Mitteilung der für den Abruf des ELStAM erforderlichen Daten angehalten werden solle. Bei der Veranlagung seien aber die tatsächlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers zugrunde zu legen. § 39c EStG habe daher nur Auswirkungen auf den Lohnsteuerabzug des laufenden Kalenderjahres. Nach Ablauf des Kalenderjahres könne der Arbeitgeber aus der Nichtbeachtung des § 39c EStG zwar im Wege der Haftung in Anspruch genommen werden. Der Arbeitgeber könne aber gegenüber dem Haftungsbescheid nachweisen, dass eine Steuerverkürzung nicht eingetreten sei, denn es gelte der Grundsatz der Akzessorietät der Haftung gegenüber der Steuerschuld des Arbeitnehmers.

    Die Klägerin beantragt,

    den Haftungsbescheid über Lohnsteuer und sonstige Lohnsteuerabzugsbeträge für die Zeit von Januar 2016 bis Dezember 2019 vom 4. Januar 2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26. August 2022, diese wiederum in Gestalt des Haftungsbescheides vom 31. März 2025, insoweit aufzuheben, als darin die Klägerin aufgrund der Anwendung der Steuerklasse VI als Haftungsschuldnerin in Anspruch genommen wird.

    Der Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Der Beklagte begründet den Klageabweisungsantrag wie folgt: Bei den beiden angestellten Arbeitnehmern der Klägerin, die von der Lohnsteuer-Haftungsinanspruchnahme betroffen seien, handele es sich um niederländische Staatsbürger ohne Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Für Y sei keine Identifikationsnummer nach § 139b AO erteilt worden. Lediglich für X - den Geschäftsführer der Klägerin - sei aufgrund eines früheren Wohnsitzes im Inland bis 2010 eine Identifikationsnummer vergeben worden. Beide Arbeitnehmer unterlägen hinsichtlich ihrer Löhne der deutschen Einkommensbesteuerung, weil sie für eine in Deutschland ausgeübte Tätigkeit gezahlt worden seien (Art. 14 Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland - Niederlande (DBA-NL): Versteuerung im Tätigkeitsstaat). Für eine Verlagerung des Besteuerungsrechts in den Ansässigkeitsstaat (Niederlande) nach der Bestimmung des Art. 14 Abs. 2 DBA-NL lägen keine Anhaltspunkte vor.

    Bei der Klägerin als Arbeitgeberin hätten nach den Feststellungen der Lohnsteuer-Außenprüfung keine amtlichen Bescheinigungen über den Lohnsteuerabzug mit dem entsprechenden Lohnsteuerabzugsmerkmal der Steuerklasse I (§ 38 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 EStG) im Lohnkonto der betroffenen Arbeitnehmer vorgelegen. Insoweit läge regelmäßig ein Verschulden der jeweiligen Arbeitnehmer vor. Ein Verschulden sei gegeben, wenn der Arbeitnehmer vorsätzlich oder fahrlässig die Vorlage oder Rückgabe der Lohnsteuerabzugsbescheinigung verzögert (siehe auch Lohnsteuerrichtlinien - LStR - 39c Abs. 1 Satz 2).

    § 39c Abs. 1 Satz 1 EStG bestimme, dass der Arbeitgeber die Lohnsteuer nach Steuerklasse VI zu ermitteln habe, solange der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zum Zweck des Abrufs der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale (§ 39e Abs. 4 S. 1 EStG) die ihm zugeteilte Identifikationsnummer sowie den Tag der Geburt schuldhaft nicht mitteile oder das Bundeszentralamt für Steuern die Mitteilung elektronischer Lohnsteuerabzugsmerkmale ablehne. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Haftungsinanspruchnahme der Klägerin nach § 42d Abs. 1 EStG seien dem Grunde nach unzweifelhaft erfüllt. Der vorrangigen Inanspruchnahme vor etwaigen anderen (Haftungs-)schuldnern habe die Klägerin im Übrigen zugestimmt.

    Zwar bestehe aufgrund des Akzessorietätsgrundsatzes eine enge Bindung der im Lohnsteuerabzugsverfahren anzumeldenden Lohnsteuer mit der endgültigen Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers. Die Lohnsteuer sei nicht verselbständigt, sondern als Vorauszahlungsschuld auf die Einkommensteuer ausgestaltet und somit als eine durch die Festsetzung der jährlichen Einkommensteuerschuld bedingte Steuerschuld konzipiert. Der Rechtsgrund für eine Lohnsteuerzahlung sei nur so lange in der Lohnsteueranmeldung zu sehen, bis ein Einkommensteuerbescheid erlassen worden sei. Allerdings führe die voraussetzungslose Bindung der Lohnsteuerhaftung an die endgültige Einkommensteuerschuld dazu, dass das Betriebsstättenfinanzamt des Arbeitgebers zur Feststellung der endgültigen Einkommensteuerschuld für eine Vielzahl von Arbeitnehmern "Schattenveranlagungen" durchführen und neben Lohneinkünften auch alle etwaigen weiteren Einkünfte, seine Werbungskosten, Sonderausgaben sowie außergewöhnlichen Belastungen ermitteln müsse, obwohl hierfür an sich nicht das Betriebsstätten-, sondern das Veranlagungsfinanzamt zuständig sei und obwohl der Arbeitgeber keinen arbeitsvertraglichen Anspruch gegen den Arbeitnehmer habe, ihm die Besteuerungsgrundlagen mitzuteilen. Zur Vermeidung sogenannter "Schattenveranlagungen" sei deshalb ein entsprechender Nachweis des Arbeitgebers erforderlich, aus dem sich die Besteuerungsgrundlagen des jeweiligen Arbeitnehmers sicher entnehmen lassen (Einkommensteuerbescheid). Die Überbürdung dieser Nachweispflicht auf die Arbeitgeberin sei vorliegend auch angemessen, zumal sie es von vornherein in der Hand gehabt habe, ihre Haftung zu vermeiden, wenn sie den gesetzlichen Erfordernissen Rechnung getragen und entsprechende amtliche Bescheinigungen zu den jeweiligen Lohnkonten genommen hätte oder bei deren Fehlen die Lohnsteuer nach Steuerklasse VI einbehalten und abgeführt hätte. Abgesehen davon stehe es der Klägerin frei, ihre Beschäftigten in Regress zu nehmen.

    Die Haftungsschuld knüpfe primär an die Lohnsteuerschuld und damit auch an die Jahres-Lohnsteuer und nicht an die letztendlich entstandene Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers an. Die Haftung des Arbeitgebers für Lohnsteuer nach § 42d EStG sei in ihrem Entstehen akzessorisch; sie hänge von einer Steuerschuld ab (§ 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AO. Mit "Steuerschuld" könne dabei aber nur die Jahres-Lohnsteuer i. S. v. § 38a Abs. 1 Satz 1 EStG gemeint sein. Insoweit sei der Wortlaut des § 42d Abs. 1 Nr. 1 und 3 EStG ("Lohnsteuer") klar gefasst. Der Wortlautauslegung entspreche auch die Systematik des EStG. § 42d EStG sei Teil des Abschnitts "VI. Steuererhebung" unter dem Gliederungspunkt "2. Steuerabzug vom Arbeitslohn (Lohnsteuer)" und damit den Bestimmungen zugeordnet, die das Lohnsteuer-Abzugsverfahren regeln. Das EStG trenne das Lohnsteuer-Abzugsverfahren von dem Veranlagungsverfahren nach § 46 EStG. Der Arbeitgeber müsse die Lohnsteuer unabhängig davon erheben, ob später eine Einkommensteuer-Veranlagung durchzuführen sei oder nicht (vgl. auch § 46 Abs. 4 EStG; § 42d Abs. 3 Satz 3 EStG). Das Lohnsteuerabzugsverfahren beschränke sich auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und habe keine Bindungswirkung für ein späteres Veranlagungsverfahren. Eine Verknüpfung beider ergebe sich nur durch § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG in der Weise, dass die auch im Haftungswege erhobene Lohnsteuer auf die Einkommensteuer angerechnet werde.

    Von der Entstehung sei das Erlöschen des Lohnsteueranspruchs zu unterscheiden. Die Lohnsteuer sei als Vorauszahlungsschuld auf die Einkommensteuer eine auflösend bedingte Schuld. Sie werde dennoch nicht mit Ablauf des Kalenderjahres "hinfällig", sondern erlösche durch Eintritt der Bedingung erst dann, wenn die Einkommensteuer festgesetzt werde. Das Erlöschen der Lohnsteuer nach § 47 AO sei ohne Einfluss auf die Haftungsschuld; denn die Bedingung trete in der Person des Arbeitnehmers ein. Sie bilde keine Tatsache, die auch für den anderen Gesamtschuldner, den Arbeitgeber, sowie für dessen Schuld, die Haftungsschuld, wirke. Das komme auch in § 42 Abs. 3 Satz 3 EStG zum Ausdruck. Danach könne der Arbeitgeber auch in Anspruch genommen werden, wenn es nicht zu einer Veranlagung des Arbeitnehmers komme. Die Haftung sei also nicht streng akzessorisch an die Einkommensteuerschuld geknüpft. Dies habe zwei Folgen: Die einmal entstandene Lohnsteuerschuld bilde den Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Lohnsteuer-Zahlungen bis zur Veranlagung der Arbeitnehmer. Zugleich sei sie weiter Grundlage für den Haftungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber. Der systemimmanenten Trennung von Lohnsteuerabzug und Einkommensteuerveranlagung widerspreche es zudem, dem Arbeitgeber materielle Einwände aus der Person des Arbeitnehmers zuzubilligen. Es käme dann nämlich zu einer sogenannten "Schattenveranlagung". Das Finanzamt könne nicht einzelne Einwendungen isoliert prüfen, sondern müsse, um die Höhe der Einkommensteuer zutreffend zu berechnen, alle weiteren Einkünfte des Arbeitnehmers, seine Werbungskosten, Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen einbeziehen, und dies, obschon nicht das Veranlagungs-Finanzamt, sondern das Betriebsstätten-Finanzamt zuständig ist, und obwohl der Arbeitgeber keinen (arbeits-/dienstrechtlichen) Anspruch gegen den Arbeitnehmer hat, ihm die Besteuerungsgrundlagen mitzuteilen.

    Die am Wortlaut und der Systematik von § 42d Abs. 1 EStG orientierte Auslegung werde auch dem Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte gerecht. Das Erheben der Einkommensteuer solle durch das Hinzuziehen des Arbeitgebers billiger und einfach ausgestaltet werden. Dem widerspreche es, wenn der Arbeitgeber in dem zur Sicherung seiner Plichten konstituierten Haftungsverfahren sämtliche Einwendungen aus der Person des Arbeitnehmers vorbringen und damit erreichen könne, dass alle Leistungsfähigkeitsmerkmale des Steuerschuldners bei seiner Inanspruchnahme geprüft werden müssten. Es sei die Eigenart des Lohnsteuer-Abzugs von der Quelle - dessen Teil die Haftung gem. § 42d EStG sei -, dass der Arbeitgeber die persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers über die Lohnsteuer-Abzugsmerkmale hinaus nicht kenne und daher stets nur zum Abzug einer bestimmten rechnerisch zu ermittelnden Quote der Auszahlung an den Arbeitnehmer verpflichtet werden könne. Diese Auffassung entspreche dem Sicherungszweck der Arbeitgeberhaftung.

    Bei den beiden Arbeitnehmern der Klägerin lägen unterschiedliche Voraussetzungen für den Lohnsteuerabzug vor:

    Frau Y komme gebürtig aus Deutschland und habe bis Anfang April 2014 auch dort gelegt/gewohnt. Ihr sei deshalb mit der allgemeinen Einführung der ID-Nummern nach § 139a Abgabenordnung (AO) Mitte 2007 eine solche zugeteilt worden. Der Klägerin als Arbeitgeberin seien zwar sowohl die ID-Nummer als auch das Geburtsdatum der Arbeitnehmerin Y bekannt gewesen. Die Klägerin habe jedoch entgegen ihrer Verpflichtung nach § 39e Abs. 5 Satz 3 EStG die elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale (ELStAM) nicht abgerufen, obwohl dies monatlich zu erfolgen habe. An diesem Umstand habe sich im Übrigen bis heute auch nichts geändert. Die ELStAM-Daten seien der Klägerin gegenüber deshalb als nicht bekannt gegeben gewertet worden (§ 39e Abs. 6 Satz 1 EStG).

    Steuerklasse VI gelte nach § 38b Abs. 1 Nr. 6 EStG bei Arbeitnehmern, die nebeneinander von mehreren Arbeitgebern Arbeitslohn beziehen, für die Einbehaltung der Lohnsteuer vom Arbeitslohn aus dem zweiten und einem weiteren Dienstverhältnis sowie in den Fällen des § 39c EStG. Diese Steuerklasse stelle gewissermaßen die Grundsteuerklasse dar, da bei ihr keine persönlichen Freibeträge (Grundfreibetrag, Alleinstehenden-Entlastungsbetrag, Ehegattensplitting usw.) berücksichtigt würden. Bei allen anderen Steuerklassen würden dem Arbeitnehmer Begünstigungen in Form solcher Freibeträge zugesprochen. Für die Berechtigung, diese für seinen Arbeitnehmer in Anspruch nehmen zu können, trage der Arbeitgeber nach den allgemeinen Beweislastregeln die Feststellungslast. Dies geschehe durch Abruf der ELStAM-Daten. Denn nur dadurch sei gewährleistet, dass dem Arbeitnehmer tatsächlich z.B. die Lohnsteuerklasse I (oder eine andere Lohnsteuerklasse als VI) zustehe. Durch den Abruf der ELStAM-Daten und die damit verbundene Verknüpfung der ELStAM-Daten des Arbeitnehmers mit der Wirtschaftsidentifikationsnummer des Arbeitgebers nach § 39e Abs. 3 Satz 4 EStG werde zudem die Lohnsteuerklasse I für weitere Arbeitgeber gesperrt und damit sichergestellt, dass Arbeitnehmer die Freibeträge nicht zu Unrecht mehrfach in Anspruch nehmen könnten.

    Bei fehlenden Lohnsteuerabzugsmerkmalen habe der Arbeitgeber deshalb die Lohnsteuererhebung nach der Steuerklasse VI durchzuführen (vgl. BMF-Schreiben vom 7. August 2013, BStBl. 2013 I S. 951, Tz. 93 sowie BFH-Urteil vom 12. Januar 2001, VI R 102/98, BFHE 194, 372, BStBl II 2003, 151). Diese Regelung sei insbesondere der Abgeltungswirkung des Lohnsteuerabzugs geschuldet (§ 46 Abs. 4 EStG).

    Die Klägerin sei der Verpflichtung zum Lohnsteuerabzug nach Steuerklasse VI gleichwohl nicht nachgekommen. Sie hafte daher nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG für die zu wenig einbehaltene und abgeführte Lohnsteuer.

    Bei Herrn X handele es sich um einen Fall des § 39c Abs. 1 Nr. 1 EStG. Danach habe der Arbeitgeber die Lohnsteuer nach Steuerklasse VI zu ermitteln, solange der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zum Zweck des Abrufs der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale (§ 39e Abs. 4 Satz 1 EStG) die ihm zugeteilte Identifikationsnummer sowie den Tag der Geburt schuldhaft nicht mitteile oder das Bundeszentralamt für Steuern die Mitteilung elektronischer Lohnsteuerabzugsmerkmale ablehne. Zwar verfüge auch Herr X aufgrund seines Wohnsitzes im Inland von März 2009 bis August 2010 über eine ID-Nummer nach § 139a AO. Jedoch habe er diese nicht seiner Arbeitgeberin mitgeteilt. Denn nach den Feststellungen der Lohnsteueraußenprüfung habe sich diese Angabe nicht in dessen Lohnkonto befunden und sei entsprechend auch nicht auf dessen Lohnsteuerbescheinigungen angegeben worden. Sofern man dennoch aufgrund des Zusammentreffens der Arbeitnehmer- und Arbeitgebereigenschaft bei Herrn X als Geschäftsführer der Klägerin letzterer die Kenntnis der ID-Nummer des Herrn X zurechnen wolle, würden für ihn die Ausführungen zu Y gleichermaßen gelten. Denn die Klägerin habe die ELStAM-Daten auch für Herrn X bis heute noch immer nicht abgerufen.

    Die Klägerin sei der Verpflichtung zum Lohnsteuerabzug nach Steuerklasse VI nicht nachgekommen. Sie hafte deshalb nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG für die zu wenig einbehaltene und abgeführte Lohnsteuer.

    Der Arbeitgeber hafte nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG für die in gesetzlich vorgeschriebener Höhe einzubehaltene und abzuführende Lohnsteuer, nicht für die Einkommensteuer des Arbeitnehmers.

    Gerade die Abgeltungswirkung der Lohnsteuer (§ 46 Abs. 4 EStG) mache es zwingend erforderlich, dass die Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer den gesetzlichen Vorschriften entsprechend korrekt durchgeführt werde.

    Bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Klägerin sei der Lohnsteuerabzug quasi in das Belieben des Arbeitgebers gestellt, der nach den mehr oder weniger zufälligen Kenntnissen über die allgemeinen Besteuerungsgrundlagen seiner Arbeitnehmer über die Höhe der einzubehaltenen und abzuführenden Lohnsteuer entscheiden könne. In einem evtl. späteren Lohnsteuerhaftungsverfahren - sofern es denn überhaupt zu einem solchen komme - sei es dann Aufgabe der Finanzverwaltung, die tatsächliche Höhe der Einkommensteuerschuld jedes einzelnen Arbeitnehmers zu ermitteln, um dann festzustellen, ob die Anrechnung des fehlerhaften Lohnsteuerabzugs trotzdem für die Entrichtung der Einkommensteuer des Arbeitnehmers ausgereicht habet - oder eben nicht (sog. "Schattenveranlagungen"). Diese Auffassung liefe darauf hinaus, dass die den Arbeitgeber obliegenden Pflichten im Lohnsteuerabzugsverfahren entgegen der gesetzlichen Systematik auf die Finanzbehörde verlagert würden. Zur Vermeidung solcher "Schattenveranlagungen" sei deshalb ein entsprechender Nachweis des Arbeitgebers erforderlich, aus dem sich die Besteuerungsgrundlagen des jeweiligen Arbeitnehmers sicher entnehmen ließen. Bei diesem sicheren Nachweis könne es sich nur um einen Einkommensteuerbescheid des Arbeitnehmers handeln, denn nur in diesem würden die Besteuerungsgrundlagen des Arbeitnehmers festgestellt.

    Die beiden Arbeitnehmer der Klägerin, X und Y, hätten sich durch die Nichtabgabe bzw. verspätete Abgabe der Steuererklärungen dafür entschieden, die Abgeltungswirkung des Lohnsteuerabzugs für sich in Anspruch zu nehmen. Für 2017 und 2018 sei für beide Arbeitnehmer bereits Festsetzungsverjährung eingetreten.

    Entscheidungsgründe
    1. Die Klage ist unbegründet.

    Der Haftungsbescheid über Lohnsteuer und sonstige Lohnsteuerabzugsbeträge für die Zeit von Januar 2016 bis Dezember 2019 vom 4. Januar 2022, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26. August 2022, ersetzt durch den Haftungsbescheid vom 6. März 2023, zuletzt ersetzt durch den Haftungsbescheid vom 31. März 2025, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

    Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Haftungsinanspruchnahme liegen hinsichtlich des noch streitigen Teils des angefochtenen Haftungsbescheides dem Grunde und der Höhe nach vor (dazu unter a.). Das beklagte Finanzamt ist im Übrigen seiner Pflicht zur Ausübung des eingeräumten Auswahlermessens rechtsfehlerfrei nachgekommen (dazu unter b.).

    Gemäß § 42d Abs. 1 EStG haftet der Arbeitgeber u. a. für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat (Abs. 1 Nr. 1).

    Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig (vgl. BFH, Urteil vom 20. September 2016 X R 36/15, Sammlung der Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 2017, 593 m. w. N.). Das Finanzamt hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es zur Haftung heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich um eine vom Gericht voll überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Finanzamtes an, ob und wen es als Haftungsschuldner in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur um Rahmen des § 102 Abs. 1 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch) überprüfbar.

    a. Die Verwirklichung des Haftungstatbestandes des § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG ist hinsichtlich der Arbeitnehmer Y und X gegeben, weil der Beklagte die Nachzahlung der Differenzbeträge zwischen einer Lohnversteuerung nach Lohnsteuerklasse I und einer Lohnsteuerklasse VI zu Recht beansprucht.

    aa. Die Klägerin ist als inländische Arbeitgeberin (§ 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) zur Einbehaltung und Abführung der auf den ausgezahlten Löhnen ihrer Angestellten lastenden Lohn- und Annexsteuern verpflichtet. Das steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Auch ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die streitbefangenen Lohneinkünfte - soweit sie für eine in Deutschland ausgeübte Tätigkeit gezahlt wurden - gemäß Art. 14 Abs. 1 des Doppelbesteuerungsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden vom 10. Dezember 2012 (Bundesgesetzblatt - BGBl.- I 2012, 1414) der deutschen Einkommensbesteuerung unterliegen. Das Gericht sieht deshalb von Ausführungen hierzu ab.

    bb. Der Klägerin als Arbeitgeberin sind zwar sowohl die ID-Nummer als auch das Geburtsdatum der Arbeitnehmerin Y bekannt gewesen. Die Klägerin hat jedoch entgegen ihrer Verpflichtung nach § 39e Abs. 5 Satz 3 EStG die elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale (ELStAM) nicht abgerufen, obwohl dies monatlich zu erfolgen hat. Die ELStAM-Daten sind der Klägerin gegenüber deshalb zu Recht als nicht bekannt gegeben gewertet worden (§ 39e Abs. 6 Satz 1 EStG). Bei fehlenden bzw. nicht vorliegenden Lohnsteuerabzugsmerkmalen hat daher der Arbeitgeber - im Streitfall die Klägerin - die Lohnsteuererhebung nach der Steuerklasse VI durchzuführen (vgl. BMF, Schreiben vom 7. August 2013, IV C 5-S 2363/13/10003, 2013/0755076, BStBl. I 2013, 951, Tz. 93 sowie BFH, Urteil vom 2. September 2021 VI R 47/18, BFH/NV 2022, 99).

    cc. Gleiches gilt im Falle des Arbeitnehmers X. Auch hier hat die Klägerin die streitbefangene Lohnsteuer entgegen den gesetzlichen Vorgaben (§ 39c Abs. 1 Nr. 1 EStG) nicht nach der Lohnsteuerklasse VI, sondern nach der Lohnsteuerklasse I eingehalten und abgeführt.

    Danach hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer nach Steuerklasse VI zu ermitteln, solange der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zum Zweck des Abrufs der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale (§ 39e Abs. 4 Satz 1 EStG) die ihm zugeteilte Identifikationsnummer sowie den Tag der Geburt schuldhaft nicht mitteilt oder das Bundeszentralamt für Steuern die Mitteilung elektronischer Lohnsteuerabzugsmerkmale ablehnt. Zwar verfügte auch Herr X aufgrund seines Wohnsitzes im Inland von März 2009 bis August 2010 über eine ID-Nummer nach § 139a AO. Jedoch hat er diese nicht seiner Arbeitgeberin, der Klägerin, mitgeteilt. Denn nach den Feststellungen der Lohnsteueraußenprüfung hat sich diese Angabe nicht in dessen Lohnkonto befunden und war entsprechend auch nicht auf dessen Lohnsteuerbescheinigungen angegeben worden.

    Selbst wenn man die Kenntnis dieser Angaben des Geschäftsführers X der Klägerin zurechnen würde, ändert das im Ergebnis nichts an der Erfüllung des Haftungstatbestandes, denn die Klägerin hat die entsprechenden ELStAM-Daten auch für diesen Arbeitnehmer bis heute noch immer nicht abgerufen.

    Dem Umstand, dass die Lohnsteueraußenprüfung noch von Rechtsgrundlagen ausgegangen ist (§ 39d EStG), die in den Streitjahren bereits außer Kraft waren, steht der Rechtmäßigkeit der Haftungsinanspruchnahme der Klägerin nicht entgegen, da die auf den Streitfall anwendbaren Vorschriften dieses rechtfertigen.

    dd. Auch der Höhe nach ist die Haftung für die noch streitbefangenen Lohnsteuerbeträge rechtmäßig. Eine Reduzierung auf sich aus dem Betriebsstättenfinanzamt vorgelegten Einkommensteuerberechnungen oder Einkommensteuererklärungen 2017 und 2018 aus Sicht der Klägerin ergebenden Einkommensteuerbeträge ist nicht möglich.

    Nach Ablauf des Kalenderjahres haftet der Arbeitgeber für die Jahreslohnsteuerschuld (§ 38a Abs. 1 Satz 1 EStG). Das ist die Lohnsteuer, die sich nach den Besteuerungsmerkmalen für den Jahresarbeitslohn ergibt (§ 38a Abs. 2 EStG). Danach besteht nach dem Gesetzeswortlaut auch insoweit ein Gleichklang zwischen der Jahreslohnsteuer und der möglichen Haftung des Arbeitgebers.

    (1) Umstritten ist, ob sich der Haftungstatbestand mit dem Entstehen der Einkommensteuer mit Ablauf des Kalenderjahres (§ 36 Abs. 1 EStG) weiterhin an den Lohnsteueranspruch oder aber an den bereits entstandenen Einkommensteueranspruch anlehnt, ob also die vorläufig entstandene Lohnsteuerschuld oder die endgültige Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers Grundlage der Haftung ist. Davon hängt im Einzelfall ab, ob bei einer Haftungsinanspruchnahme z.B. steuermindernde Faktoren, die erst im Rahmen einer Veranlagung des Arbeitnehmers zu Tage treten, zugunsten des Arbeitgebers zu berücksichtigen sind.

    (a) Nach der Rechtsprechung des BFH und eines Teils des steuerrechtlichen Schrifttums ist die Haftung auch nach Ablauf des Kalenderjahres an der Lohnsteuer ausgerichtet und der Arbeitgeber kann daher keine Einwendungen aus der Person des Arbeitnehmers gegen die Lohnsteuerhaftung geltend machen (etwa BFH, Urteile vom; vom 12. Januar 2001 VI R 102/98, BStBl. II 2003, 151; Wagner in: Brandis/Heuermann, Ertragsteuerrecht, § 42d EStG, Rz. 35; Thomas, DStZ 1994, 545; ders. DStR 1995, 273; Heuermann, DB 1994, 2411; Eisgruber in: Kirchhof/Seer, Kommentar zum EStG, § 42d Rz. 9).

    Da die Haftung nach § 42d EStG, § 191 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG akzessorisch sei, sei eine Steuerschuld des Arbeitnehmers Tatbestandsvoraussetzung für die Haftung. Daraus folge aber nicht eine Begrenzung auf die Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers. Ansonsten sei eine Schattenveranlagung im Haftungsverfahren durchzuführen (Eisgruber in: Kirchhof/Seer, Kommentar zum EStG, § 42d Rz. 9). Der Arbeitgeber habe jedoch keinen entsprechenden Informationsanspruch gegenüber dem Arbeitnehmer, weil hierfür eine Rechtsgrundlage fehle. Die Haftungsschuld betreffe ausschließlich die Lohnsteuer, die verfahrensmäßig abgetrennt vom Veranlagungsverfahren erhoben werde und für das das Wohnsitzfinanzamt zuständig sei. Die Haftung hinge zwar in ihrem Entstehen von der Steuerschuld ab; mit "Steuerschuld" könne aber nur die Jahreslohnsteuer i.S.d. § 38a Abs. 1 Satz 1 EStG gemeint sein. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des § 42d Abs. 1 Nr. 1 und 3 EStG ("Lohnsteuer"). Der Wortlautauslegung entspreche auch die Systematik des EStG. Der Arbeitgeber müsse die Lohnsteuer unabhängig davon erheben, ob später eine Einkommensteuerveranlagung durchzuführen ist oder nicht (Wagner: in Brandis/Heuermann, Ertragsteuerrecht, § 42d EStG, Rz. 35; so auch ausdrücklich BFH, Urteil vom 6. März 2008 VI R 5/05, BStBl. II 2008, 597, Rz. 14). Eine übermäßige Inanspruchnahme könne zum einem über die Anrechnung und den Regress korrigiert werden. Zum anderen sei bei Veranlagungsfällen das Auswahlermessen eingeschränkt (Eisgruber in: Kirchhof/Seer, Kommentar zum EStG, § 42d Rz. 9).

    Das Lohnsteuerabzugsverfahren habe keine Bindungswirkung für die Veranlagung und sei nur über die Anrechnung nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG damit verbunden. Dieser systemimmanenten Trennung widerspräche es, wenn dem Arbeitgeber materiell-rechtliche Einwendungen des Arbeitnehmers zuzubilligen wären (Wagner in: Brandis/Heuermann, Ertragsteuerrecht, § 42d EStG, Rz. 35; BFH, Urteil vom 12. Oktober 1995 I R 39/95, BStBl. II 1996, 87).

    (b) Das FG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 23. Februar 2017 4 K 4083/15, DStRE 2018, 646; Beschluss vom 13. November 2018 9 V 9023/18, EFG 2019, 132) ist zu der Überzeugung gelangt, dass aufgrund des Grundsatzes der Akzessorietät eine Haftungsinanspruchnahme ausscheide, wenn eine Steuerverkürzung nicht eingetreten sei. Denn die Haftung des Arbeitgebers nach § 42d EStG habe Schadensersatz- und keinen Strafcharakter. Dementsprechend dürfe eine Haftungsinanspruchnahme nur für die gesetzlich entstandene Lohnsteuer erfolgen. Da die Lohnsteuer eine besondere Erhebungsform der Einkommensteuer darstelle (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG), scheide eine Haftung zudem aus, wenn (zweifelsfrei) feststehe, dass eine Einkommensteuerschuld nicht oder nicht in Höhe des Lohnsteuerabzugs entstanden sei. Dies setze aber einen dahingehenden Nachweis des Arbeitgebers voraus, etwa durch Vorlage des Einkommensteuerbescheides des Arbeitnehmers für den betreffenden Veranlagungszeitraum.

    (c) Nach einem anderen Teil des steuerrechtlichen Schrifttums muss der Arbeitgeber jedenfalls bei Inanspruchnahme nach Ablauf des Kalenderjahres alle Einwendungen geltend machen können, die auch dem Arbeitnehmer zustehen würden. Es obliege aber dem Arbeitgeber, sämtliche Tatsachen für die steuermindernden Umstände vorzutragen. Das Betriebsstättenfinanzamt müsse nicht von sich aus nachforschen (vgl. Krüger in: Schmidt, EStG, 43. Aufl. 2024, § 42d Rz. 60). Andernfalls könne die Haftungsschuld weitergehen als die Steuerschuld und obwohl das Lohnsteuerabzugsverfahren nur vorläufigen Charakter habe, würde sich für den Arbeitgeber der Lohnsteuerabzugsbetrag zum Haftungsbetrag verfestigen (so Bleschick in: Herrmann/Heuer /Raupach, EStG/KStG, § 42d EStG Rz. 74). Der Grundsatz der Akzessorietät zwischen Haftungsschuld und Steuerschuld, auf dem § 44 Abs. 1 AO beruhe, werde nur so gewahrt. Jedenfalls sei der Haftungsumfang des Arbeitgebers für die Lohnsteuer nach Ablauf des Kalenderjahres im Falle der Veranlagung des Arbeitnehmers auf dessen endgültiger Einkommensteuerschuld zu begrenzen (Krüger in: Schmidt, EStG, 43. Aufl. 2024, § 42d Rz. 2).

    Teilweise wird vertreten, der Charakter der Lohnsteuer als eine Art Vorauszahlung (§ 36 Abs. 2 Nr. 2, § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG) und die Sicherungsfunktion der Haftung des Arbeitgebers sprächen eher dafür, nach Entstehen des zu sichernden Steueranspruchs gegen den Arbeitnehmer auf dessen Einkommensteuerschuld abzustellen (Hummel in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42d Rz. A 59 ff.). Stehe nämlich fest, dass keine die bereits einbehaltene und abgeführte Lohnsteuer übersteigende Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers bestehe, sei es bereits unverhältnismäßig (und nicht nur ermessenfehlerhaft), den Arbeitgeber in Haftung zu nehmen, obwohl ein Sicherungsbedürfnis des Steuergläubigers nicht existiere (Hummel in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42d Rz. A 60 m.w.N.). Die damit verbundene "Schattenveranlagung" von Arbeitnehmern resultiere letztlich aus dem Nebeneinander von materieller Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers und formeller Entrichtungsschuld des Arbeitgebers, die nicht nur über die Anrechnung (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG), sondern auch über die Haftung des Arbeitgebers nach § 42d EStG miteinander verbunden seien. Dies ergebe sich auch aus § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG ("soweit"). Die damit verbundene "Schattenveranlagung" sei folglich unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zugunsten des Arbeitgebers hinzunehmen, zumal mittlerweile ca. 98% der Arbeitnehmer ohnehin veranlagt würden. Eine darüberhinausgehende Haftung des Arbeitgebers widerspreche dem Sinn und Zweck des § 42d EStG, sei unverhältnismäßig und könne nicht allein mit der Technik des Lohnsteuerabzugsverfahrens bzw. einer einfacheren Steuerverwaltung durch die Finanzämter gerechtfertigt werden. Eine Haftung des Arbeitgebers ohne entsprechende Einkommensteuerschuld wäre keine Einkommensbesteuerung i.S.d. Art. 106 des Grundgesetzes (GG) und daher verfassungsrechtlich fraglich. Eine Gesetzes- und Ertragskompetenz für eine Strafsteuer eigener Art zulasten des Arbeitgebers lasse sich verfassungsrechtlich nicht begründen (Hummel in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42d Rz. A 61). Der Begriff der "Lohnsteuer", für die der Arbeitgeber hafte, sei teleologisch und verfassungskonform so auszulegen, dass nach Entstehung der Einkommensteueranspruch eine eventuelle Haftung des Arbeitgebers wegen nicht ordnungsgemäß einbehaltener und abgeführter Lohnsteuer auf die entstandene Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers begrenzt sei (Hummel in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42d Rz. A 63).

    (d) Das Gericht kann letztlich offenlassen, ob man dem Arbeitgeber - ggf. im Rahmen der Ermessensausübung - eine Reduzierung der Lohnsteuerhaftungssumme zugutekommen lassen kann, wenn er den entsprechenden Einkommensteuerbescheid des Arbeitnehmers vorlegt und damit der Beklagte im Streitfall rechtmäßig die Haftungssumme reduziert hat. Das Gericht wäre ohnehin aufgrund des finanzgerichtlichen Verböserungsverbots an einer entsprechenden Erhöhung der Lohnsteuerhaftungsbeträge gehindert.

    Hinsichtlich der noch streitigen Haftungszeiträume liegen jedenfalls Einkommensteuerbescheide der beiden Arbeitnehmer nicht vor. Schon daraus kann abgeleitet werden, dass gerade nicht feststeht, dass die Einkommensteuerschuld hinter den geforderten Lohnsteuerbeträgen zurückbleibt.

    Im Fall des Arbeitnehmers X hat die Klägerin nicht einmal die Einkommensteuererklärungen vorgelegt, sondern lediglich Einkommensteuerberechnungen. Im Raume steht dabei, dass sich unter Berücksichtigung weiterer niederländischer Einkünfte sogar eine höhere Einkommensteuerschuld ergeben könnte, da die weiteren Einkünfte im Rahmen des Progressionsvorbehalts Steuersatz erhöhend wirken.

    Bei der Arbeitnehmerin Y konnten zwar Einkommensteuererklärungen für die noch streitigen Zeiträume 2017 und 2018 eingereicht werden. Eine Veranlagung zur Einkommensteuer ist allerdings wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung unterblieben.

    Trotz der substantiellen Einwendungen eines Teils des steuerrechtlichen Schrifttums (siehe unter (c)) spricht für das Gericht Überwiegendes dafür, dass sich der Haftungstatbestand mit dem Entstehen der Einkommensteuer mit Ablauf des Kalenderjahres (§ 36 Abs. 1 EStG) weiterhin an den Lohnsteueranspruch und nicht an den bereits entstandenen Einkommensteueranspruch anlehnt. Damit bleibt die vorläufig entstandene Lohnsteuerschuld des Arbeitnehmers Grundlage der Haftung, und nicht dessen Einkommensteuerschuld. Der Wortlaut des § 38a Abs. 1 Satz 1 EStG ("Jahreslohnsteuer") und § 42d Abs. 1 Nr. 1 und 3 EStG sprechen dafür, dass sich die Haftung nach Ablauf des Kalenderjahres auf diese Jahreslohnsteuer bezieht und nicht auf eine zu diesem Zeitpunkt entstehende Einkommensteuer des Arbeitnehmers.

    Die Haftung hängt zwar in ihrem Entstehen von der Steuerschuld ab; mit "Steuerschuld" kann aber nach dem Verständnis des Gerichts nur die Jahreslohnsteuer i.S.d. § 38a Abs. 1 Satz 1 EStG gemeint sein. Dies ergibt sich auch aus dem Wortlaut des § 42d Abs. 1 Nr. 1 und 3 EStG ("Lohnsteuer"). Auch steuersystematisch ist diese Auslegung geboten. § 42d EStG ist Teil der Steuererhebungsvorschriften. Das EStG trennt streng nach Lohnsteuerabzugsverfahren und Veranlagungsverfahren (§ 46 EStG). Das Lohnsteuerabzugsverfahren beschränkt sich auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und hat keine Bindungswirkung für die für ein späteres Veranlagungsverfahren (BFH, Urteil vom 9. Oktober 1992 VI R 97/90, BStBl. II 1993, 166; FG München, Urteil vom 22. April 2013 7 K 2640/11, EFG 2014, 175, aufgehoben aus anderen Gründen durch BFH, Urteil vom 18. Dezember 2014, BFH/NV 2015, 997). Eine Verbindung zwischen beiden Verfahren ergibt sich lediglich über die Steueranrechnung (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG).

    Im Ergebnis bezieht sich im Streitfall die Haftung der Klägerin allein auf die (Jahres-)Lohnsteuer und nicht auf die individuelle Einkommensteuer der betroffenen Arbeitnehmer. Dagegen spricht auch nicht, dass die Lohnsteuer eine besondere Erhebungsform der Einkommensteuer ist, denn gleichwohl muss zwischen Lohn- und Einkommensteuerschuld unterschieden werden: Weder entstehen und verjähren Lohnsteuer- und Einkommensteuerschuld gleichzeitig noch decken sie sich betragsmäßig. Gesamtschuldner sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemäß § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG lediglich hinsichtlich der bei Lohnzufluss (vgl. § 38 Abs. 2 Satz 2 EStG) entstehenden Entrichtungsschuld. Ob der Arbeitnehmer überhaupt Einkommensteuer schuldet (z.B. weil er anderweitige Verluste hat), ist unabhängig von einer etwaigen Lohnsteuerschuld. Deshalb ist im Zusammenhang mit der Lohnsteuer auch nicht von Bedeutung, ob und wann der Arbeitnehmer eine Einkommensteuererklärung abzugeben hat oder tatsächlich abgibt (so zu Recht: BFH, Urteil vom 6. März 2008 VI R 5/05, BStBl. II 2008, 597).

    Aus den gleichen Gründen ist auch nicht von Belang, ob eine abgegebene Einkommensteuererklärung wie im Streitfall infolge Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht in einen Einkommensteuerbescheid mündet oder sich aufgrund von vorgelegten Berechnungen ggf. eine geringere Einkommensteuerschuld ergibt. Alles andere würde dazu führen, dass das Betriebsstättenfinanzamt des Arbeitgebers in solchen Fällen sog. Schattenveranlagungen durchführen und die Aufgaben des Veranlagungsfinanzamts übernehmen müsste. Abgesehen von Fragen des Rechtsschutzes gegen aus Sicht des Arbeitgebers unrichtige Schattenveranlagungen hält das Gericht eine derartige Vermischung von Lohnsteuerabzugs- und Veranlagungsverfahren steuersystematisch für verfehlt und verfassungsrechtlich nicht für geboten. Denn danach ist die Haftung für die Jahreslohnsteuer - ohne Betrachtung der tatsächlichen Einkommensteuerschuld - keine Strafsteuer. Diese Haftung entspricht vielmehr den gesetzlichen Vorschriften.

    b. Der Beklagte ist auch seiner Pflicht zur Ausübung des eingeräumten Auswahlermessens rechtsfehlerfrei nachgekommen.

    Zwar ist im ersten Zugriff zu beanstanden, dass sich weder im Haftungsbescheid vom 4. Januar 2022 noch in der Einspruchsentscheidung vom 26. August 2022 entsprechende Erwägungen zur Ausübung des Auswahlermessens finden. Solche Erwägungen sind vielmehr erstmals im Klageverfahren im "ersetzenden" Haftungsbescheid vom 6. März 2023 in den Erläuterungen kundgetan worden. Sowohl in diesem Haftungsbescheid als auch im aktuellen Haftungsbescheid vom 31. März 2025 findet sich der Hinweis, dass die Klägerin als Haftende anstatt des Arbeitnehmers in Anspruch genommen worden sei, weil ein Haftungsausschluss nicht vorliege und sie sich mit der Inanspruchnahme einverstanden erklärt habe.

    Ersetzt das Finanzamt während eines Klageverfahrens den mit der Klage angefochtenen Haftungsbescheid durch einen anderen Haftungsbescheid, in dem es erstmals seine Ermessenserwägungen erläutert, so wird nach der Rechtsprechung des BFH dieser Bescheid zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens (Urteil vom 16. Dezember 2008 I R 29/08, BFHE 224, 195, BStBl. II 2009, 539; zur Kritik an dieser Rechtsprechung s. Anmerk. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 24/2009 Anm. 3). Im weiteren Verlauf jenes Verfahrens sind danach die nunmehr angestellten Ermessenserwägungen in vollem Umfang zu berücksichtigen.

    Zwar war Herr X als Geschäftsführer der Klägerin für den ordnungsgemäßen Lohnsteuerabzug verantwortlich, was regelmäßig für seine vorrangige Inanspruchnahme spricht. Im Streitfall hat sich jedoch die Klägerin als Arbeitgeberin unwidersprochen nach Aktenlage mit ihrer Inanspruchnahme als Haftungsschuldnerin für Lohnsteuer einverstanden erklärt. In diesem Fällen ist gleichwohl ihre Inanspruchnahme regelmäßig ermessensgerecht (BFH, Urteil vom 24. August 2017 VI R 58/15, BFHE 259, 321, BStBl. II 2018, 72).

    2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 136 Abs. 1, 137 Satz 1 FGO.

    Eine Kostenquotelung scheidet vorliegend aus. Zwar hat der Beklagte im Klageverfahren die Haftungsbeträge aufgrund der Vorlage der Einkommensteuerbescheide 2016 und 2019 der Arbeitnehmerin Y entsprechend durch die ersetzenden Haftungsbescheide vom 6. März 2023 bzw. 31. März 2025 gemindert, was im Ergebnis angesichts des ursprünglichen Streitgegenstandes zu einem teilweisen Obsiegen der Klägerin führt. Die Minderung erfolgte jedoch aufgrund der schuldhaft verspäteten Vorlage der Einkommensteuerbescheide durch die Klägerin erst im Klageverfahren. Daher entsprach es billigem Ermessen, auch diese Kosten der Klägerin aufzuerlegen, denn es oblag in keinem Fall dem Beklagten, entsprechend nachzuforschen und die Einkommensteuerbescheide anzufordern.

    3. Die Zulassung der Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache, zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten (§ 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FGO).

    VorschriftenEStG § 38a Abs. 1, Abs. 2, EStG § 42d Abs. 1 Nr. 1