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  • 16.11.2022 · IWW-Abrufnummer 232294

    Finanzgericht Münster: Urteil vom 29.04.2022 – 10 K 1297/20 G,U,F

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Münster

     
    Tenor:

    Die Bescheide für 2015 bis 2017 über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, die Bescheide für 2015 bis 2017 über den Gewerbesteuermessbetrag sowie die Bescheide für 2015 bis 2017 über Umsatzsteuer, jeweils vom 15.7.2019 und in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 2.4.2020, werden dahingehend geändert, dass im Rahmen der Ermittlung des Gewinns aus Gewerbebetrieb keine weiteren Hinzurechnungen für Sachentnahmen in Höhe von jeweils EUR 1.999,20 sowie keine entsprechenden Umsatzsteuerverbindlichkeiten in Höhe von jeweils EUR 319,20 berücksichtigt werden sowie die Umsatzsteuer jeweils um EUR 319,20 herabgesetzt wird.

    Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

    Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.

    Die Revision wird zugelassen.
     
    Tatbestand:

    1
    Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte (Finanzamt --FA--) zusätzlich zu den Pauschbeträgen, welche in den für die Streitjahre 2015 bis 2017 jeweils gültigen amtlichen Richtsatzsammlungen für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben betreffend den Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Einzelhandel) vorgesehen sind, weitere Hinzuschätzungen für Nicht-Lebensmittel, sog. „Non-Food-Artikel“, vornehmen durfte.

    2
    Der Kläger betrieb in den Streitjahren 2015 bis 2017 als Einzelkaufmann unter der Firma „XXX“ (Handelsregister ... des Amtsgerichts E., HRA ...) zwei Supermarkt Filialen in der Z.-Straße 01 und 02 in E. Seinen Gewinn ermittelte der Kläger durch Betriebsvermögensvergleich gem. § 4 Abs. 1 i.V.m. § 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Das Warensortiment des Klägers umfasste neben Lebensmitteln und Getränken sowie Genussmitteln (etwa Tabakwaren) auch sog. Non-Food-Artikel, insbesondere Wasch- und Putzmittel, Hygiene- und Kosmetikprodukte sowie Schreibwarenartikel. Auf die hierzu mit Schriftsatz des Klägers vom 21.9.2021 als Anlagen übersandten Warengruppenübersichten für die Streitjahre wird Bezug genommen. Nach eigenen Angaben tätigte der Kläger in den Streitjahren ‒ mit Ausnahme von Tabakwaren ‒ Entnahmen aus dem gesamten Warensortiment. Gesonderte Aufzeichnungen über seine Warenentnahmen führte der Kläger nicht. Vielmehr berücksichtigte der Kläger im Rahmen seiner Gewinnermittlungen unter Anwendung des jeweils gültigen BMF-Schreibens betreffend die Pauschbeträge für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben Gewinnerhöhungen im Umfang der dort genannten Pauschbeträge für den Gewerbezweig „Nahrungs- und Genussmittel (Eh.)“. Hierbei stellte der Kläger auf einen Zweipersonen-Haushalt ab. Der Kläger wurde insoweit zunächst erklärungsgemäß veranlagt.

    3
    Ab dem x.x.2019 führte das Finanzamt für ...-Betriebsprüfung ... (BP-FA) in den Betrieben des Klägers eine Außenprüfung betreffend Umsatzsteuer, gesonderte Feststellung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb sowie Gewerbesteuer für die Jahre 2015 bis 2017 durch. Hierbei stellte das BP-FA fest, dass der Kläger keine gesonderten Aufzeichnungen über Warenentnahmen geführt habe. Zwar könne die Bewertung von Warenentnahmen in bestimmten Branchen ‒ unter anderem auch für den Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Eh.) ‒ nach Pauschsätzen vorgenommen werden, die von der Finanzverwaltung festgesetzt und mit der Richtsatzsammlung fortgeschrieben werden würden. Allerdings sei die Einordnung der Betriebe des Klägers in den Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Eh.) nur bedingt erfüllt, da das Warensortiment in den Streitjahren auch Non-Food-Artikel umfasst habe. Auch aus diesem Warensegment habe die Möglichkeit von unentgeltlichen Entnahmen bestanden, ohne dass der Kläger hierzu gesonderte Aufzeichnungen gefertigt habe. Die durch das BMF jährlich veröffentlichten Pauschbeträge für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben seien aber ausschließlich für die Sachentnahmen bzw. unentgeltlichen Wertabgaben von Nahrungsmitteln und Getränken anzuwenden. Deshalb sei der Pauschbetrag auf den Bereich der Lebensmittel und Getränke beschränkt und beinhalte nicht zusätzlich das komplette Non-Food-Warenangebot eines Vollsortiment-Supermarkts. Da der Kläger bisher keine Aufzeichnungen über die Entnahme von Non-Food-Artikel gefertigt habe, müsse die Bewertung der Sachentnahmen bzw. unentgeltlichen Wertabgaben im Schätzungswege erfolgen (§ 162 AO). Hierbei bestehe die Möglichkeit von einem pauschalen Ansatz je Monat und Mandantenhaushalt in Abhängigkeit von der Verkaufsfläche ‒ hier in Bezug auf die Fläche der Filiale Z.-Straße 01 ‒ auszugehen. Auf dieser Grundlage werde der pauschale Ansatz mit EUR 140,-- netto pro Monat zzgl. 19 % Regelumsatzsteuersatz, demnach mit EUR 1.680,-- zzgl. EUR 319,20 Umsatzsteuer je Kalenderjahr, geschätzt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Betriebsprüfungsbericht vom xx.xx.2019 (Tz. 2.2) Bezug genommen.

    4
    Das FA schloss sich der Auffassung des BP-FA an und erließ unter dem Datum vom 15.7.2019 für die Streitjahre entsprechend geänderte Bescheide über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, über den Gewerbesteuermessbetrag sowie geänderte Umsatzsteuerbescheide. Hierin erhöhte das FA die laufenden Einkünfte aus Gewerbebetrieb gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG bzw. den Gewinn aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 7 Satz 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) um EUR 1.680,-- (für 2015 und 2016) bzw. EUR 1.667,-- (für 2017). Die Bemessungsgrundlage für unentgeltliche Wertabgaben zum allgemeinen Steuersatz von 19 % gemäß § 3 Abs. 1b des Umsatzsteuergesetzes (UStG) erhöhte das FA je Streitjahr entsprechend um EUR 1.680,--. Dies führte zu Umsatzsteuererhöhungen i.H.v. jeweils EUR 319,20.

    5
    Gegen die v.g. Änderungsbescheide legte der Kläger fristgemäß Einspruch ein. Zur Begründung führte er aus, es bestehe bereits dem Grunde nach keine Schätzungsbefugnis. Eine Ergänzung der Pauschbeträge für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben nach den einschlägigen BMF-Schreiben durch weitere Hinzuschätzungen für Non-Food-Artikel widerspreche dem Grundgedanken der Vereinfachung und damit dem mit den BMF-Schreiben verfolgten Zweck. Zudem würden auch Non-Food-Artikel zum üblichen Warensortiment im Gewerbezweig Lebensmittel und Getränke zählen. Bereits seit den sechziger Jahren hätten Lebensmittelmärkte immer auch Non-Food-Artikel, beispielsweise Waschmittel, im Warensortiment. Daher sei davon auszugehen, dass das BMF mit den Pauschbeträgen das gesamte Warensortiment abdecken wolle. Dies werde auch in der Vorbemerkung Nr. 5 der jeweiligen BMF-Schreiben explizit klargestellt. Dort heiße es nämlich, dass die pauschalen Werte im jeweiligen Gewerbezweig das allgemein übliche Warensortiment berücksichtigen. In den Vorbemerkungen heiße es weiter, dass lediglich Tabakwaren nicht in den Pauschbeträgen enthalten seien. Hätte das BMF den gesamten Bereich der Non-Food-Artikel ausklammern wollen, hätte das BMF Non-Food-Artikel insgesamt als Ausnahmen angegeben und nicht nur Tabakwaren. Schließlich spreche gegen eine Hinzuschätzungsbefugnis auch Nr. 6 der Vorbemerkungen in den einschlägigen BMF-Schreiben. Demgemäß sei bei gemischten Betrieben nicht für jeden einzelnen Gewerbezweig ein gesonderter Pauschbetrag anzusetzen, sondern nur der jeweils höhere Pauschbetrag. Dadurch werde eine Kumulierung der Pauschbeträge verhindert. Etwas anderes könne daher nicht für einen Vollsortiment-Lebensmittelmarkt gelten. Wenn das Finanzamt der Auffassung wäre, ein Pauschbetrag für das Non-Food-Warensortiment wäre pauschal feststellbar und grundsätzlich anzusetzen, dürfte auch in diesem Fall nur der jeweils höhere Betrag gewählt werden. Bei den Gewerbezweigen Schuh-, Bekleidungs- und Drogeriegeschäften sowie bei Unterhaltungselektronik hänge der Verbrauch stark von den persönlichen Vorlieben ab. Aus diesem Grund habe das BMF für andere nicht im BMF-Schreiben aufgeführte Gewerbezweige keine pauschalen Entnahmewerte festgelegt, da diese nicht einfach und sicher anhand von statistischen Werten hätten ermittelt werden können. Aus den gleichen Überlegungen müsse eine pauschale Schätzung von Entnahmen von Non-Food-Artikeln ausscheiden. Schließlich sei die Höhe der Schätzung von netto EUR 140,-- zzgl. 19 % Umsatzsteuer pro Monat im Zusammenhang mit der Größe der Verkaufsfläche nicht nachvollziehbar.

    6
    Mit insgesamt fünf isolierten Einspruchsentscheidungen jeweils vom 2.4.2020 wies das FA die Einsprüche des Klägers als unbegründet zurück. Zur Begründung wiederholte das FA die Auffassung des BP-FA, die vom BMF veröffentlichten Pauschbeträge für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben würden für sämtliche Gewerbezweige lediglich Nahrungsmittel und Getränke umfassen. Dies ergebe sich bereits aus Textziffer 1 der Vorbemerkungen in den jeweiligen BMF-Schreiben. Demnach würden die Pauschbeträge auf Grundlage der vom statistischen Bundesamt ermittelten Aufwendungen privater Haushalte für Nahrungsmittel und Getränke festgesetzt. Die weiteren Vorbemerkungen in den BMF-Schreiben könnten sich daher lediglich auf diesen Bereich des Warensortiments beziehen. Folglich könne sich Textziffer 5 der Vorbemerkungen in dem jeweils einschlägigen BMF-Schreiben lediglich auf das allgemein übliche Warensortiment im Bereich der Lebensmittel und Getränke beziehen. Entsprechend habe auch das Finanzgericht München mit Urteil vom 23.4.2009 (Aktenzeichen: 14 K 4909/06) entschieden, dass sich die Höhe des Eigenverbrauchs laut der amtlichen Richtsatzsammlung allein am Bedarf an Lebensmitteln eines Privathaushalts bemesse. Vergleiche man die Pauschbeträge für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben für den Einzelhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln mit denen für die übrigen Einzelhandelsunternehmen, würden die Pauschbeträge andernfalls für den vorliegenden Einzelhandel, der alle diese Waren anbiete, im Vergleich zu den übrigen Pauschbeträgen sehr niedrig erscheinen. Daher sei nicht anzunehmen, dass weitere Waren, die nicht in den Bereich Lebensmittel und Getränke gehören, in diesen niedrigen Werten auch noch enthalten sein sollen. Eine Erweiterung des Pauschbetrags auf das gesamte breite Warensortiment von großen Vollsortiment-Supermärkten würde darüber hinaus dem Ziel der Richtsatzsammlung zuwiderlaufen, mit der Schätzung nach Richtsätzen bzw. Pauschbeträgen den tatsächlichen Verhältnissen mit der größten Wahrscheinlichkeit am nächsten zu kommen. Somit hätten die Einnahmen für Non-Food-Artikel vorliegend gesondert geschätzt werden müssen. Hierbei hätte das FA zutreffend die Werte des statistischen Bundesamtes für 2013 wie folgt zugrunde gelegt:

    7
    Die Entscheidung enthält an dieser Stelle ein Bild oder eine Grafik.

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    Auf die sich ergebende Summe sei ein weiterer pauschaler Abschlag von 25 % vorgenommen worden, um zu berücksichtigen, dass einzelne Waren überhaupt nicht im Warensortiment des Klägers und andere Waren zum ermäßigten Steuersatz von 7 % enthalten seien. Hieraus hätte sich zutreffend ein Ansatz von gerundet EUR 1.680,-- (EUR 1.126,-- x 75 % x 2 Personen) ergeben.

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    Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage. Zur Begründung wiederholt und vertieft der Kläger im Wesentlichen seine Ausführungen aus den Einspruchsverfahren, durch den Ansatz der amtlichen Pauschbeträge für die Sachentnahmen bzw. unentgeltlichen Wertabgaben seien alle Entnahmen aus dem üblichen Warensortiment eines Lebens- und Genussmitteleinzelhändlers, zu dem seit jeher auch Non-Food-Artikel zählten, berücksichtigt. Zur Ergänzung trägt der Kläger vor, Textziffer 1 der Vorbemerkungen in den jeweils einschlägigen BMF-Schreiben erläutere lediglich den Ursprung und die Herkunft der Pauschbeträge für unentgeltliche Wertabgaben, beinhalte aber keine Einschränkung auf ein bestimmtes Warensortiment. Bereits der Titel des BMF Schreibens „Pauschbeträge für Sachentnahmen (Eigenverbrauch)“ spreche gegen die Vermutung des FA und schränke den Anwendungsbereich der Pauschbeträge keineswegs ein. Den „reinen“ Lebensmittel- und Getränkehändler, der nach dem Verständnis des FA keinen einzigen Non-Food-Artikel führe, gebe es nicht. Spätestens seit den sechziger Jahren würden von Lebensmitteleinzelhändlern neben Nahrung und Genussmitteln insbesondere auch Hygieneartikel und Waschmittel angeboten werden. Diese Tatsache dürfte dem BMF bei Erstellung der Richtsatzsammlungen bekannt gewesen sein. Gleichwohl sei dieser Gewerbezweig nicht aus der Aufzählung ausgenommen worden, was dafür spreche, dass das BMF (seit Jahren unverändert) auch Non-Food-Artikel dem allgemein üblichen Warensortiment eines Lebensmitteleinzelhändlers zuordne und somit auch die Vereinfachung der pauschalen Erfassung von Entnahmen dieser Artikel ermöglichen wolle. Andernfalls liefe die Vereinfachungsregelung nicht nur für diesen Gewerbezweig, sondern z.B. auch für den Getränkeeinzelhändler, der regelmäßig auch Non-Food-Artikel wie Gläser anbiete, ins Leere. Es sei kaum vorstellbar, dass das BMF eine Vereinfachungsregelung schaffe, die in der Praxis keine Anwendung finde. Entgegen der Auffassung des FA ergebe sich auch aus dem Urteil des Finanzgerichts München vom 23.4.2009 (Aktenzeichen: 14 K 4909/06) nichts anderes. Obwohl das Warensortiment des betroffenen Lebensmitteleinzelhändlers neben Nahrungsmitteln ‒ wie vorliegend ‒ auch Hygieneartikel umfasst habe und diese Non-Food-Artikel regelmäßig entnommen worden seien, habe das Finanzgericht ausdrücklich die Vornahme von Zuschlägen auf die Pauschbeträge für Sachentnahmen verneint. Wie selbstverständlich habe das Finanzgericht München Non-Food-Artikel dem Gewerbezweig des Lebens- und Genussmitteleinzelhandels zugeordnet und die Pauschbeträge uneingeschränkt berücksichtigt. Da der Kläger somit zulässigerweise von der durch das BMF eingeräumten Wahlmöglichkeit zur Vereinfachung der Aufzeichnung von Entnahmen Gebrauch gemacht habe, habe der Kläger folglich auch seine Aufzeichnungspflichten nicht verletzt. Entsprechend könne sich bereits dem Grunde nach keine Schätzungsbefugnis des FA ergeben. Die vorgenommenen Hinzuschätzungen wären aber auch der Höhe nach rechtswidrig. Die gewonnenen Schätzungsergebnisse des FA seien weder schlüssig noch wirtschaftlich möglich und vernünftig. Die Hinzuschätzungsbeträge würden auf nicht genauer erläuterten Werten des Statistischen Bundesamtes beruhen. Später habe die Betriebsprüfung die Hinzuschätzungsbeträge in Abhängigkeit von der Verkaufsfläche des Standorts pauschal angesetzt. Ob die Verkaufsfläche Einfluss auf die pauschalen Schätzbeträge gehabt habe, sei genauso wenig nachvollziehbar wie die Höhe der „Erfahrungswerte“. In der Einspruchsentscheidung habe das FA die Hinzuschätzungsbeträge schließlich wiederum mit Durchschnittswerten des Statistischen Bundesamtes zu rechtfertigen versucht. In Ermangelung näherer Erläuterungen erscheine die vermeintliche Ermittlung willkürlich und verkenne außerdem, dass die Werte des statistischen Bundesamtes bereits alle in einem Haushalt lebenden Personen einbeziehen würden. Eine Multiplikation des ermittelten Hinzuschätzungsbetrags pro Kopf scheide folglich bereits aus diesem Grund aus. Des Weiteren sei unschlüssig, auf welcher Basis die Quoten, mit denen die statistischen Werte für Lebenshaltungskosten multipliziert worden seien, gewählt wurden. Die Quoten würden zufällig ausgesucht erscheinen. Ob hierdurch tatsächlich der Sortimentstiefe habe Rechnung getragen oder doch eher der durch die Betriebsprüfung gewählte pauschale Ansatz verplausibilisiert werden sollen, erscheine zumindest fragwürdig. Die Ermittlung der Hinzuschätzungsbeträge werfe daher eine Reihe von Fragen auf und wirke insgesamt weder schlüssig noch nachvollziehbar.

    10
    Der Kläger beantragt,

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    die Bescheide für 2015 bis 2017 über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, die Bescheide für 2015 bis 2017 über den Gewerbesteuermessbetrag sowie die Bescheide für 2015 bis 2017 über Umsatzsteuer, jeweils vom 15.7.2019 und in Gestalt der Einschussentscheidungen vom 2.4.2022, dahingehend zu ändern, dass im Rahmen der Ermittlung des Gewinns aus Gewerbebetrieb keine weiteren Hinzurechnungen für Sachentnahmen in Höhe von jeweils EUR 1.999,20 sowie keine entsprechenden Umsatzsteuerverbindlichkeiten in Höhe von jeweils EUR 319,20 berücksichtigt werden sowie die Umsatzsteuer jeweils um EUR 319, 20 herabgesetzt wird,

    12
    hilfsweise,

    13
    die Revision zuzulassen.

    14
    Das Finanzamt beantragt,

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    die Klage abweisen,

    16
    hilfsweise,

    17
    die Revision zuzulassen.

    18
    Dass FA ist weiterhin der Auffassung, der Pauschbetrag für einen Einzelhandel mit Lebens- und Genussmitteln beziehe sich nicht auf andere Entnahmen, wie beispielsweise die von Tabakwaren, Bekleidung, usw. Diese seien daher gesondert aufzuzeichnen. Der Einsatz von modernen Kassen- und Warenwirtschaftssystemen ermögliche es den Steuerpflichtigen, dieser Einzelaufzeichnungspflicht ohne große Erschwernisse nachzukommen. Zudem sei zu berücksichtigen, dass nach der Aufstellung des Klägers 13 Warengruppen im Non-Food-Bereich lägen, aus denen der Kläger Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben steuerfrei belassen wolle. Auch dies zeige, dass die Pauschbeträge nicht für den Non-Food-Bereich gelten würden.

    19
    Am 29.4.2022 hat der Senat den Rechtsstreit mit den Beteiligten mündlich verhandelt. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte, insbesondere die wechselseitig ausgetauschten Schriftsätze samt Anlagen, sowie die vorliegenden Steuerakten Bezug genommen.

    Entscheidungsgründe:

    20
    Die zulässige Klage ist begründet.

    21
    I. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger dadurch in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Zwar hat das FA dem Grunde nach zu Recht von seiner Schätzungsbefugnis Gebrauch gemacht (dazu unter 1.). Das FA hat aber der Höhe nach zu Unrecht zusätzlich zu den Pauschbeträgen für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben nach den für die Streitjahre jeweils einschlägigen BMF-Schreiben weitere gewinnerhöhende Hinzuschätzungen für die Entnahme sog. Non-Food-Artikel vorgenommen (dazu unter 2.).

    22
    1. Entgegen der Auffassung des Klägers war das FA berechtigt, die Höhe der Entnahmen des Klägers aus seinem Betrieb nach § 162 der Abgabenordnung (AO) zu schätzen (Eröffnung der Schätzungsbefugnis).

    23
    a. Gem. § 162 Abs. 1 Satz 1 AO hat die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie sie nicht ermitteln oder berechnen kann. Nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO ist unter anderem insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann. Grundsätzlich sind Aufzeichnungen über die Entnahme von Gegenständen durch den Unternehmer aus seinem Unternehmen für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1b Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) getrennt nach Steuersätzen vorzunehmen. Dabei wirken die Aufzeichnungsverpflichtungen nach dem UStG unmittelbar auch für Zwecke der Einkommensbesteuerung, wobei das nach den Vorschriften des EStG ermittelte Einkommen nach § 7 Satz 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) wiederum maßgeblich für den Gewerbeertrag und damit auch für den Gewerbesteuermessbetrag ist (vgl. BFH-Urteil vom 2.3.1982 ‒ VIII R 225/80, BStBl II 1984, 504; BFH-Beschluss vom 19.3.2007 ‒ X B 191/06, BFH/NV 2007, 1134).

    24
    Demnach war der Kläger in den Streitjahren verpflichtet, die unstreitig ‒ mit Ausnahme von Tabakwaren ‒ aus dem gesamten Warensortiment vorgenommenen Sachentnahmen sowohl für Zwecke der Umsatzsteuer als auch für Zwecke der Einkommen- und Gewerbesteuer aufzuzeichnen. Da der Kläger seinen Aufzeichnungspflichten nicht nachgekommen ist, waren die Sachentnahmen sowie die unentgeltlichen Wertabgaben nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO zu schätzen (vgl. hierzu allgemein BFH-Beschluss vom 19.3.2007 ‒ X B 191/06, BFH/NV 2007, 1134; BFH-Urteil vom 23.4.2015 ‒ V R 32/14, BFH/NV 2015, 1106).

    25
    b. Die Schätzungsbefugnis des FA war nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger etwa gem. § 148 AO von der Aufzeichnungspflicht über Sachentnahmen befreit gewesen wäre. Gem. § 148 Satz 1 AO können die Finanzbehörden für einzelne Fälle oder bestimmte Gruppen von Fällen Erleichterungen bewilligen, wenn die Einhaltung der durch die Steuergesetze begründeten Buchführungs-, Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten Härten mit sich bringt und die Besteuerung durch die Erleichterung nicht beeinträchtigt wird.

    26
    Eine solche Befreiung nach § 148 Satz 1 AO kann zwar nicht nur durch Verwaltungsakt, sondern auch durch Allgemeinverfügung erfolgen (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 148 AO Tz. 15). Die jährlich fortgeschriebenen amtlichen Richtsatzsammlungen des BMF samt der darin enthaltenen Pauschbeträge für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben stellen keine solche Allgemeinverfügung dar, durch die der Steuerpflichtige von den Aufzeichnungspflichten nach § 22 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1b Nr. 1 UStG befreit werden würde. Vielmehr stellen die jährlichen Richtsatzsammlungen samt der Pauschbeträge für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben aufgrund der darin enthaltenen Erfahrungswerte lediglich Hilfestellungen für die mangels vorhandener Aufzeichnungen erforderliche Schätzung dar.

    27
    2. Die Schätzung des FA ist der Höhe nach rechtswidrig, soweit das FA über die Pauschbeträge für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben betreffend den Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Eh.), die der Kläger im Rahmen seiner Gewinnermittlungen bereits gewinnerhöhend berücksichtigt hat, hinaus weitere Hinzuschätzungen für die Entnahme sog. Non-Food-Artikel vorgenommen hat (dazu unter a.). Die Höhe der zu schätzenden Sachentnahmen bzw. unentgeltlichen Wertabgaben richtet sich vorliegend allein nach den Pauschbeträgen der amtlichen Richtsatzsammlungen für den Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Eh.) (dazu unter b.).

    28
    a. aa. Ziel einer jeden Schätzung gem. § 162 AO ist der Ansatz derjenigen Besteuerungsgrundlagen, die die größtmögliche Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben (vgl. BFH-Urteile vom 31.8.1967 ‒ V 241/64, BStBl. III 1967, 686: vom 18.12.1984 ‒ VIII R 195/82, BStBl II 1986, 226). Daher sind im Rahmen einer Schätzung gem. § 162 Abs. 1 Satz 2 AO alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Schätzungsergebnisse müssen insgesamt schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein (BFH-Urteil vom 19.1.1993 ‒ VIII R 128/84, BStBl. II 1993, 594). Das Schätzungsergebnis muss insgesamt plausibel sein (BFH-Beschluss vom 26.10.199 ‒ I B 20/95, BFH/NV 1996, 378). Anders als bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen (§ 102 FGO) ist die Schätzung des Finanzamts im Klageverfahren in vollem Umfang nachprüfbar (vgl. BFH-Urteil vom 17.10.2001 ‒ I R 103/00, BStBl II 2004, 171).

    29
    bb. Die durch das FA vorgenommene schätzweise Ermittlung der Entnahmen und unentgeltlichen Wertabgaben von Non-Food-Artikeln durch den Kläger wird den vorgenannten Anforderungen nicht gerecht. Zum einen widersprechen sich die unterschiedlichen Angaben des FA zu den herangezogenen Schätzgrundlagen. Zum anderen sind die unterschiedlichen Schätzmethoden auch jeweils für sich gesehen nicht schlüssig.

    30
    Das FA führt in den Erläuterungen zu den vorliegend streitigen Schätzbescheiden jeweils vom 15.7.2019 aus, der Festsetzung bzw. Feststellung lägen die Ergebnisse der beim Kläger durchgeführten Außenprüfung ‒ Prüfungsbericht vom xx.xx.2019 ‒ zugrunde. In dem erwähnten Betriebsprüfungsbericht vom xx.xx.2019 hat das BP-FA zu den streitigen Schätzungen unter Tz. 2.2 ausgeführt, es bestehe in Abhängigkeit von der Verkaufsfläche die Möglichkeit eines pauschalen Ansatzes der Sachentnahmen, vorliegend i.H.v. netto EUR 140,-- pro Monat zzgl. 19 % Regelumsatzsteuersatz. Hierzu ist für denSenat bereits nicht nachvollziehbar, welchen Einfluss die Verkaufsfläche eines Lebensmitteleinzelhandels auf den für die Schätzung von Entnahmen und unentgeltlichen Wertabgaben maßgeblichen Bedarf eines Privathaushalts an den betreffenden Artikeln haben sollte. Darüber hinaus ist auch in keiner Weise nachvollziehbar, wie das BP-FA den vorliegend herangezogenen Pauschalwert i.H.v. EUR 140,-- pro Monat zzgl. Umsatzsteuer in Abhängigkeit von der Verkaufsfläche des Lebensmittelgeschäfts des Klägers ermittelt haben will. Bereits aus diesen Gründen erscheint die Schätzung des FA weder plausibel noch nachvollziehbar.

    31
    Hinzu kommt, dass das FA zur Begründung der Schätzungshöhe in seinen Einspruchsentscheidungen jeweils vom 2.4.2020 ‒ abweichend von Tz. 2.2 des Betriebsprüfungsberichts vom xx.xx.2019 ‒ wiederum ausgeführt hat, die Hinzuschätzungen seien auf Grundlage der monatlichen Lebenshaltungskosten für einen 2-Personen-Haushalt ‒ basierend auf den Werten des Statistischen Bundesamtes für 2013 aus der Kategorie „Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen über 5.000 Euro“ ‒ ermittelt worden. Zwar ist die Finanzbehörde an eine einmal gewählte Schätzungsmethode grundsätzlich nicht gebunden (BFH-Beschluss vom 12.6.1990 ‒ IV B 187/89, BFH/NV 1991, 459). Allerdings muss der Steuerpflichtige zweifelsfrei nachvollziehen können, ob das Finanzamt sein Schätzungsergebnis in rechtlich zulässiger und einwandfreier Weise gewonnen hat (BFH-Urteile vom 2.12.2004 ‒ III R 49/03, BStBl. II 2005, 483; vom 19.7.2011 ‒ X R 48/08, BFH/NV 2011, 2032). Dem wird die Schätzung durch das FA aufgrund der widersprüchlichen Angaben in den streitigen Änderungsbescheiden (unter Verweis auf Tz. 2.2 des Betriebsprüfungsberichts vom xx.xx.2019) einerseits und in den Einspruchsentscheidungen vom 2.4.2020 andererseits nicht gerecht. Die hierdurch hervorgerufenen Unklarheiten werden noch dadurch verstärkt, dass auch das BP-FA im Rahmen der Betriebsprüfung ursprünglich eine Ermittlung der Hinzuschätzungsbeträge anhand der jährlichen Veröffentlichungen des statistischen Bundesamtes über die privaten Konsumausgaben aus der Kategorie „Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen über 5.000 Euro“ vorgesehen hatte, hiervon aber ‒ ohne erkennbare Begründung ‒ wieder Abstand genommen hat. Zudem war das BP-FA hierbei von anderen statistischen Werten ausgegangen als das FA in seinen Einspruchsentscheidungen vom 2.4.2020. Auch hierfür ist keine nachvollziehbare Begründung ersichtlich.

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    Die in den Einspruchsentscheidungen vom 2.4.2020 enthaltene Kalkulation erscheint auch nicht als rechnerische Überprüfung der durch das BP-FA ermittelten Schätzungshöhe anhand einer weiteren eigenständigen Schätzungsmethode. Bemerkenswert ist nämlich, dass beide Schätzungsmethoden, trotz der einer jeden Schätzung naturgemäß innewohnenden Ungenauigkeiten, exakt zu den gleichen Ergebnissen kommen. Vor diesem Hintergrund ist naheliegend, dass das FA lediglich die ursprüngliche ‒ nach den o.g. Ausführungen unplausible ‒ Begründung des BP-FA auszutauschen versuchte, ohne das Schätzungsergebnis der Höhe nach zu verändern, und dabei ein für das Ergebnis „passendes“ Zahlenwerk herangezogen hat. Dieses Zahlenwerk ist für den Senat jedoch nicht nachvollziehbar. Vergleicht man die in den Einspruchsentscheidungen vom 2.4.2020 im Einzelnen aufgeführten „Statistischen Werte 2013“ mit den unter der genannten Kategorie (zwei Personen-Haushalt mit einem monatlichen Nettoeinkommen über EUR 5.000) durch das Statistische Bundesamt veröffentlichten Werten (Statistisches Bundesamt, Fachserie 15, Heft 5, EVS 2013; abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Konsumausgaben-Lebenshaltungskosten/Publikationen/Downloads-Konsumausgaben/evs-aufwendung-privater-haushalte-2152605139004.pdf? __blob=publicationFile), so stimmen die Angaben durch das FA nicht mit den veröffentlichten Zahlen des statistischen Bundesamtes überein (Fachserie 15, Heft 5, EVS 2013, S. 156 f.). Zudem ist nicht nachvollziehbar, warum das FA im Rahmen seiner Hinzuschätzung auf die statistischen Daten für das Jahr 2013 abgestellt haben will, sind doch vorliegend die Veranlagungszeiträume 2015 bis 2017 im Streit. Des Weiteren ist nicht nachvollziehbar, wie die jeweiligen Quoten für die vorgenommenen Abschläge zur vermeintlichen Berücksichtigung der Sortimentstiefe des Klägers zwischen 10 % und 80 % gebildet wurden. Schließlich ist nicht plausibel, warum das FA die so ermittelten Entnahmebeträge nicht in Umsätze zum Regelsteuersatz sowie in Umsätze zum ermäßigten Steuersatz aufgeteilt hat.

    33
    b. In Wahrnehmung seiner eigenen Schätzbefugnis (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 AO) ist der Senat der Auffassung, dass die Höhe der Sachentnahmen und unentgeltlichen Wertabgaben allein nach den Pauschbeträgen der jeweils einschlägigen amtlichen Richtsatzsammlungen für den Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Eh.) zu bemessen ist. Hierauf hat der Kläger aufgrund der Selbstbindung der Verwaltung einen Rechtsanspruch. Eine Hinzuschätzung weiterer Beträge für die Entnahme sog. Non-Food-Artikel ist ‒ jedenfalls in dem vorliegenden Streitfall ‒ unzulässig.

    34
    Verwaltungsanweisungen sind zwar keine Rechtsnormen. Sie binden nur die nachgeordneten Verwaltungsbehörden, nicht aber die Gerichte (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG). Der Steuerpflichtige kann im Allgemeinen aus ihnen unmittelbar keinen vor den Gerichten verfolgbaren Rechtsanspruch herleiten. Haben derartige Verwaltungsanweisungen aber ‒ wie vorliegend die amtlichen Richtsatzsammlungen ‒ auf Erfahrung der Verwaltung beruhende Schätzungen zum Inhalt, sind sie nach ständiger Rechtsprechung des BFH aus Gründen der Gleichbehandlung auch von den Steuergerichten zu beachten, solange sie im Einzelfall offensichtlich nicht zu falschen Ergebnissen führen (vgl. BFH-Urteile vom 30.10.1975 ‒ IV R 142/72, BStBl. II 1976, 192; vom 7.11.1975 ‒ III R 134/73, BStBl. II 1976, 207; vom 27.10.1978 ‒ VI R 8/76, BStBl. II 1979, 54; vom 26.4.1995 ‒ XI R 81/93, BStBl. II 1995, 754; vom 7.12.2005 ‒ I R 123/04, BFH/NV 2006, 1097; vom 4.2.2010 ‒ II R 1/09, BFH/NV 2010, 1244; vom 11.11.2010 ‒ VI R 16/09, BStBl II 2011, 966; vom 10.11.2011 ‒ V R 35/10, juris). Insoweit besteht eine Selbstbindung der Verwaltung.

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    Haben die Finanzbehörden derartige Vereinfachungsregelungen getroffen, so dürfen sie nicht willkürlich in Einzelfällen, die offensichtlich von der Verwaltungsanweisung gedeckt werden, die Anwendung ablehnen. Allerdings sind allgemeine Verwaltungsanweisungen nicht wie Gesetze auszulegen (vgl. BFH-Urteil vom 8.12.1993 ‒ XI R 69/92, BFH/NV 1994, 500). Maßgebend ist nicht, wie das Gericht eine solche Anweisung verstünde, wenn sie Gesetz wäre, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte und wie sie dementsprechend verfahren ist (BFH-Urteil vom 27.10.1978 ‒ VI R 8/76, BStBl. II 1979, 54). Ist objektiv zweifelhaft, ob ein bestimmter Fall unter eine der Vereinfachung der Verwaltung dienende Anweisung fällt, so ist es nach der Rechtsprechung des BFH Sache der Verwaltungsbehörden zu entscheiden, ob die Vereinfachungsregelung anzuwenden ist oder nicht. Die Finanzgerichte können dann die Finanzbehörden nicht zwingen, die Verwaltungsanweisung auch auf einen Fall anzuwenden, der nach deren Auffassung nicht von der Verwaltungsanweisung gedeckt ist (vgl. BFH-Urteile vom 26.1.1968 ‒ VI R 224/66, BStBl. II 1968, 362; vom 5.10.1977 ‒ I R 250/75, BStBl. II 1978, 50).

    36
    Unter Anwendung der v.g. Grundsätze ist nach Auffassung des Senats objektiv nicht zweifelhaft, dass für den Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Eh.) auch die Entnahme sog. Non-Food-Artikel von den Pauschbeträgen für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben abgedeckt ist und daher die Berücksichtigung weiterer Hinzuschätzungsbeträge unzulässig wäre. Dies entnimmt der Senat  den Vorbemerkungen zu den Pauschbeträgen für Sachentnahmen bzw. unentgeltliche Wertabgaben. Diese geben nach Auffassung des Senats Aufschluss darüber, wie die Finanzverwaltung selbst die von ihr erlassene Anweisung verstanden hat bzw. verstanden wissen will.

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    Zwar heißt es in Tz. 1 der entsprechenden Vorbemerkungen, dass die Pauschbeträge auf der Grundlage der vom Statistischen Bundesamt ermittelten Aufwendungen privater Haushalte für Nahrungsmittel und Getränke festgesetzt werden. Dies schließt es aber nicht von vornherein aus, dass die Pauschbeträge hiervon ausgehend gleichwohl insgesamt so ermittelt werden, dass sie aus Vereinfachungs- und Typisierungsgründen auch weitere Waren erfassen, die nicht zu Nahrungsmitteln und Getränken zählen. Dass dem so ist, ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass in der Richtsatzsammlung der Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Eh.) aufgeführt ist. Ein solcher Einzelhandel bietet neben Nahrungsmitteln gerade auch Genussmittel an. Zu den Genussmitteln zählen insbesondere Alkohol und Tabak, aber auch Kaffee, Tee und Süßigkeiten. Dass Genussmittel insgesamt von den Pauschbeträgen nicht umfasst sein sollen, lässt sich den Vorbemerkungen nicht entnehmen. Vielmehr ist in Satz 4 der Vorbemerkungen ausdrücklich geregelt, dass (lediglich) Tabakwaren in den Pauschbeträgen nicht enthalten sind. Nach Satz 5 sind die Pauschbeträge insoweit entsprechend zu erhöhen. Diese ausdrückliche Regelung bräuchte es nicht, wenn in den festgelegten Pauschbeträgen von vornherein keine anderen Waren als Nahrungsmittel und Getränke enthalten wären. Umgekehrt ist aus dieser ausdrücklich geregelten Ausnahme zu schließen, dass andere Genussmittel als Tabakwaren aus Vereinfachungs- und Typisierungsgründen (vgl. Tz. 3 der Vorbemerkungen) von den Pauschbeträgen umfasst und mitabgegolten sein sollen. Dass darüber hinaus, d.h. neben Nahrungsmitteln, Getränken und Genussmitteln, weitere Waren von den Pauschbeträgen umfasst sind, ergibt sich wiederum aus Tz. 5 der Vorbemerkungen. Demnach berücksichtigen die pauschalen Werte im jeweiligen Gewerbezweig das allgemein übliche Warensortiment. Solange es sich also um den Wirtschaftszweig Nahrungs- und Genussmittel (Eh.) handelt, ist von den Pauschbeträgen demnach das übliche Warensortiment umfasst. Dass das übliche Warensortiment eines Lebensmitteleinzelhandels zwar überwiegend oder zumindest in bedeutendem Ausmaß aus Lebensmitteln und Getränken besteht, das Sortiment darüber hinaus aber in aller Regel auch Non-Food-Artikel, wie insbesondere Haushaltswaren, umfasst, entnimmt der Senat der allgemeinen Lebenserfahrung. Demnach existieren keine oder jedenfalls kaum noch Supermärkte, die ausschließlich Lebensmittel und Getränke führen. Der Senat geht daher für den vorliegenden Streitfall davon aus, dass die konkret in Rede stehenden Non-Food-Artikel (nach den durch den Kläger vorgelegten Warengruppenübersichten handelt sich hierbei um Wasch- und Putzmittel, Hygienepapier, Kosmetik/Körperpflege, Sonnen-/Insektenschutz/Fußpflege, Depotkosmetik/Parfum, Drogerieartikel, Tiernahrung, Pflanzen/Blumen/Zubehör, Bücher/Zeitschriften, Textilien, Papier und Schreibwaren, Hartwaren) zum üblichen Warensortiment eines Einzelhandels mit Nahrung- und Genussmitteln gehört. Zum weiteren Beleg dafür kann die Klassifikation der Wirtschaftszweige durch das Statistische Bundesamt zugrunde gelegt werden (erschienen im Dezember 2008, abrufbar unter https://www.destatis.de/static/DE/dokumente/klassifikation-wz-2008-3100100089004.pdf). Demnach qualifiziert ein Einzelhandel solange (noch) als Einzelhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln, Getränken und Tabakwaren (ohne ausgeprägten Schwerpunkt), wenn der Anteil von Waren aus dem Sortiment der Gruppe 47.2 (Nahrungs- und Genussmittel, Getränke und Tabakwaren) mindestens 70 % beträgt, im Übrigen aber auch Waren aus dem Sortiment von fünf oder mehr Klassen der Gruppen 47.2 bis 47.7 (d. h. unter anderem Textilien, elektrische Haushaltsgeräte, Bücher, Schreib- und Papierwaren, Bekleidung oder Körperpflegemittel) enthält. Dies ist vorliegend der Fall. Nach den vom Kläger vorgelegten nachvollziehbaren und vom FA auch nicht bestrittenen Warengruppenübersichten für die Streitjahre betrug der Anteil der in Rede stehenden Non-Food-Artikel im Streitjahr 2015 11,03 %, im Streitjahr 2016 10,64 % und im Streitjahr 2017 10,31 %, d.h. jeweils weit unter 30 %.

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    Das nach vorstehenden Ausführungen gefundene Schätzungsergebnis unter Zugrundelegung lediglich der amtlichen Pauschbeträge ohne weitere Hinzuschätzungen für die Entnahme von Non-Food-Artikeln führt nach Auffassung des Senats vorliegend auch nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen. Der Warenanteil der Non-Food-Artikel beim Kläger war in den Streitjahren mit jeweils lediglich knapp über 10 % bzw. 11 % des Gesamtwarensortiments äußerst gering, so dass eine Abgeltung sämtlicher Entnahmen durch die amtlichen Pauschbeträge im Hinblick auf die aufgrund unterschiedlicher Ess- und Trinkgewohnheiten ohnehin bestehenden Ungenauigkeiten im Einzelfall (vgl. Tz. 3 der Vorbemerkungen) nicht weiter ins Gewicht fällt. Zudem umfasste das Warensortiment des Klägers keine ungewöhnlichen und besonders hochwertigen Artikel (etwa Elektroartikel), die eine gesonderte Hinzuschätzung erforderlich erscheinen lassen.

    39
    II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

    40
    III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

    41
    IV. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Die Frage, ob für die Entnahme sog. Non-Food-Artikel weitere über die Pauschbeträge nach den amtlichen Richtsatzsammlungen hinausgehende Hinzuschätzungen erforderlich und zulässig sind, ist ‒ soweit ersichtlich ‒ bislang nicht höchstrichterlich geklärt. Die Klärung der Frage erscheint über den entschiedenen Streitfall hinaus für eine Vielzahl weiterer Verfahren von Bedeutung.

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