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  • 09.10.2013 · IWW-Abrufnummer 133112

    Oberlandesgericht Bremen: Beschluss vom 21.08.2013 – 3 W 20/13

    1. Der originäre Einzelrichter entscheidet auch dann gemäß § 568 Satz 1 ZPO über die sofortige Beschwerde, wenn die angefochtene Entscheidung vom Einzelrichter des Landgerichts erlassen, die Nichtabhilfe aber durch die Kammer in vollständiger Besetzung beschlossen wurde.

    2. Ist zu erkennen, dass eine Gehwegfläche nach einem Schneefall weder von Eis und Schnee geräumt noch mit abstumpfenden Mitteln bestreut wurde, hat der Benutzer des Weges Anlass zu gesteigerter Aufmerksamkeit und Vorsicht. Kommt er zu Fall, so spricht dies in der Regel dafür, dass er die gebotene Vorsicht außer Acht gelassen hat und ihm ein Mitverschulden anzurechnen ist.

    3. Rutscht ein selbst gehbehinderter Benutzer auf einem schneebedeckten Gehweg aus, weil er einem entgegenkommenden gehbehinderten Benutzer mit einem Rollator Platz macht, beträgt die Mitverschuldensquote 20%.


    OLG Bremen, 21.08.2013

    3 W 20/13

    Tenor:

    Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landgerichts vom 22.02.2013 wie folgt abgeändert:

    Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe für seine gesamte Rechtsverfolgung gemäß den in der mündlichen Verhandlung vom 06.11.2012 gestellten Anträgen (Bl. 171 d.A.) ab dem 18.01.2013 bewilligt und Rechtsanwalt [...], Bremen, beigeordnet.

    Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers werden die von ihm zu zahlenden monatlichen Raten gemäß § 120 Abs. 1 ZPO auf € [...] festgesetzt.
    Gründe

    1. Zuständig für die Entscheidung ist gemäß § 568 Satz 1 ZPO der Einzelrichter des Beschwerdegerichts, denn die angefochtene Entscheidung wurde von einem Einzelrichter erlassen. Dem steht nicht entgegen, dass über die Abhilfe die Kammer in voller Besetzung entschieden hat, offenbar weil das Dezernat von einem Proberichter übernommen wurde, der nach § 348 Abs. 1 Nr: 1 ZPO nicht als Einzelrichter tätig werden darf. Die Zuständigkeit des Einzelrichters für die Beschwerdeentscheidung knüpft nach § 568 Satz 1 ZPO allein daran an, dass die angefochtene Entscheidung vom Einzelrichter des Ausgangsgerichts getroffen wurde. Demzufolge ist es unerheblich, dass über die Nichtabhilfe durch die Kammer in voller Besetzung entschieden worden ist (OLG Frankfurt, Beschluss vom 29.10.2003, 1 W 70/03, OLGR 2004, 115; OLG München, Beschluss vom 31.01.2007, 19 W 729/07, OLGR 2007, 186, 187; Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl., § 568 Rn. 2; Musielak/Ball, ZPO, 10. Aufl., § 568 Rn. 2).

    2. Die gemäß §§ 127 Abs. 2 Satz 2 und 3, 569 Abs. 2 ZPO zulässige sofortige Beschwerde des Antragsstellers ist begründet. Die vom Kläger beabsichtige Rechtsverfolgung bietet im geltend gemachten Umfang hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 114 Satz 1 ZPO).

    Unzutreffend hat das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss eine Mitverschuldensquote des Klägers von 50% zu Grunde gelegt. Zwar ist das Landgericht, wie auch der Kläger selbst, zu Recht davon ausgegangen dass dem Kläger nach § 254 BGB Abs. 1 BGB ein Mitverschulden anzurechnen ist. Ein höheres Mitverschulden als die vom Kläger bereits in seiner Klagebegründung zu Grunde gelegte Quote von 20% war hier aber nicht anzusetzen.

    Zu berücksichtigen ist zunächst, dass auch wenn der Verkehrssicherungspflichtige bei Schnee- und Eisglätte zum Räumen und Streuen verpflichtet ist, das Bestehen dieser Pflicht den Benutzer der Verkehrsfläche nicht von jeder eigenen Aufmerksamkeit und Vorsicht entbindet. Gerade dann, wenn nach dem Vortrag des Klägers zu erkennen war, dass die Gehwegfläche weder von Eis und Schnee geräumt noch mit abstumpfenden Mitteln bestreut wurde, hat der Benutzer des Weges Anlass zu gesteigerter Aufmerksamkeit und Vorsicht. Kommt jemand zu Fall, so spricht dies in der Regel dafür, dass er die gebotene Vorsicht außer Acht gelassen hat. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Geschädigte auf einem Weg ausrutscht, der - abgesehen von der Schneeglätte - keine Besonderheiten aufweist, die die Gefahr des Ausrutschens erhöhen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 20.03.1998, 22 U 154/97, VersR 2000, 63 f.; OLG München, Urteil vom 30.01.2003, 19 U 4246/02, VersR 2003, 518; Palandt/Gründeberg, BGB, 72. Aufl., § 254 Rn. 27, jeweils m.w.N.).

    Liegen aber keine besonderen Umstände vor, wiegt das Verschulden des Streu- und Räumungspflichtigen, der die grundsätzlich berechtigten Sicherungserwartungen der Passanten erfüllen muss, wesentlich schwerer, als die momentane Unachtsamkeit des Geschädigten (vgl. OLG Köln, Urteil vom 21.01.2003, 24 U 97/02, VersR 2003, 1453 f. [OLG Köln 21.01.2003 - 24 U 87/02]; Palandt/Grüneberg, aaO.). Das bedeutet, dass das Mitverschulden des Geschädigten regelmäßig unter 50% liegt, wobei die von der Rechtsprechung ausgeurteilten Quoten in solchen Fälle variieren (vgl. z.B. OLG Köln, aaO.: 25%; OLG Düsseldorf, aaO.: ein Drittel; OLG München, aaO.: 40%).

    Im vorliegenden Fall ist der Kläger nach seinem Vortrag, von dem im PKH-Verfahren auszugehen ist, ausgerutscht, nachdem er auf dem nicht geräumten und gestreuten Gehweg zur Seite getreten ist, um einem entgegenkommenden gehbehinderten Mann mit einem Rollator Platz zu machen. Es ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger bei diesem Ausweichmanöver besonders unvorsichtig verhalten hätte. Der Kläger trug Winterschuhe mit Profilsohlen und hatte sich bei seiner Ehefrau eingehakt. Die momentane Unachtsamkeit des Klägers ist hier angesichts der besondern Umstände in Relation zu den vorgenannten Quoten als besonders gering einzustufen. Entgegen der Auffassung der Beklagten und der Begründung des Landgerichts erhöht es auch nicht das Mitverschulden des Klägers, dass er trotz seiner Gehbehinderung (Versteifung des linken Sprunggelenks) das Haus bei widrigen Witterungsbedingungen verlassen hat, denn in den Schutzbereich der Räum- und Streupflicht fallen auch Menschen mit Gehbehinderung.

    Insgesamt ist auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles eine Mitverschuldensquote des Klägers von 20% sachgerecht.

    RechtsgebieteBGB, ZPOVorschriftenBGB § 254 Abs. 1 ZPO § 568 S. 1