03.12.2024 · IWW-Abrufnummer 245215
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen: Urteil vom 05.07.2024 – 8 A 3194/21
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberverwaltungsgericht NRW
8 A 3194/21
Tenor:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 1. Dezember 2021 wird teilweise geändert.
Der Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 6. Oktober 2020 in der Gestaltung der Ergänzung vom 28. Juni 2024 verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden zu ¾ der Klägerin und zu ¼ dem Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
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Tatbestand:
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Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass sie beim Führen eines Kraftfahrzeugs einen Niqab tragen darf, hilfsweise eine Ausnahmegenehmigung hierfür.
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Mit am 14. Februar 2020 bei der Bezirksregierung Düsseldorf (im Folgenden: Bezirksregierung) eingegangenem Antrag beantragte die Klägerin die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 StVO vom Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO für das Führen von Kraftfahrzeugen (Führerscheinklasse B) im gesamten Bundesgebiet. Sie bezog den Antrag auf das Tragen eines Niqab. Zur Begründung des Antrags führte sie aus:
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„Ich bin seit 5/2007 praktizierende Muslima u. bedecke mich. Der Koran schreibt vor daß die gläubigen Frauen ihre Blicke niederschlagen, ihre Scham hüten u. ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen. Sure 24, Vers 31, sowie Sure 33, Vers 53 + 59. Gemäß Zentralrat der Muslime in Deutschland gilt dies ab Pubertät. Ich bedecke mich freiwillig u. sehe es als sexuelle Nötigung an, wenn man mich dazu zwingt meinen Niqab am Steuer abzulegen. […]“
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Dem Antrag fügte sie zwei Bilder, die sie nach eigenen Angaben mit Niqab zeigen, bei. Auf diesen ist das Gesicht mit Ausnahme der Augenpartie vollständig von einem Schleier verhüllt.
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Mit Schreiben vom 1. April 2020 teilte die Bezirksregierung der Klägerin mit, der von ihr vorgelegte formularmäßige Antrag ohne individuelle Begründung könne nicht als solcher gewertet werden bzw. wäre nicht prüffähig und damit auch nicht entscheidungsfähig. Die Klägerin müsse vielmehr darlegen, dass ein besonderer Einzelfall vorliege. Hierzu seien folgende Angaben erforderlich:
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„ 1. Das zwingende Angewiesen sein auf die Pkw-Nutzung
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2. Begründung, inwieweit das Verhüllungsverbot die Glaubensfreiheit verletzt
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3. Darlegung, warum ein schwerer Nachteil entsteht, wenn Sie unverschleiert ein Fahrzeug führen
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4. Darlegung, wie die ungehinderte Rundumsicht gewährleistet ist.“
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Bei der Prüfung des Antrags sei das gesetzliche Ziel des Verhüllungsverbots (Identifizierbarkeit der Fahrerin im Straßenverkehr, Schutz der Verkehrsteilnehmer durch Gewährleistung einer Rundumsicht der Fahrerin) zu berücksichtigen. Die Bezirksregierung bat um die Vorlage einer etwaig vorhandenen Zulassungsbescheinigung für ein Kraftfahrzeug sowie einer Einverständniserklärung zum Führen eines Fahrtenbuchs durch die Klägerin selbst und den Halter des Fahrzeugs, da ggf. das Führen eines Fahrtenbuchs als Mittel zur Identifizierung des Fahrers in Betracht kommen könne.
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Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 14. September 2020 verlangte die Klägerin eine Bescheidung des Antrags. Einverständnis mit einer Fahrtenbuchauflage bestehe nicht. „Lediglich äußerst hilfsweise“ beantrage sie, die Genehmigung unter einer Fahrtenbuchauflage zu erteilen. Dem Schreiben lagen Kopien des Führerscheins der Klägerin aus dem Jahr 2012, auf welchem sie mit einem die Gesichtszüge nicht verdeckenden Kopftuch zu sehen ist, sowie eines auf die Klägerin ausgestellten Fahrzeugscheins bei.
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Mit Bescheid vom 6. Oktober 2020 lehnte die Bezirksregierung den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Nach Nr. I.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO dürften Ausnahmegenehmigungen nur in besonders dringenden Einzelfällen erteilt werden. Die Erteilung stehe im Ermessen der Behörde. Ein derartiger Einzelfall liege hier nicht vor. Die vorgebrachten allgemeinen religiösen Gründe an sich könnten eine Ausnahme nicht rechtfertigen, denn das Verbot ziele gerade auch auf Verschleierungen wie den Niqab ab. Doch auch unabhängig von der religiösen Begründung habe die Klägerin nicht dargelegt, dass sie auf die Nutzung eines Pkw angewiesen sei. Da sie in F. wohne, könne dies wegen des dort bestehenden ÖPNV-Netzes auch nicht unterstellt werden. Mangels näherer Erläuterungen der Klägerin sei eine abschließende Prüfung dieses Aspekts nicht möglich. Zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer gewährleiste das Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO unter anderem auch die uneingeschränkte Rundumsicht von Kraftfahrzeugführern. Außerdem leiste es einen wesentlichen Beitrag für eine offene Kommunikation im Straßenverkehr. Mimik und Gestik eines Menschen stellten einen wesentlichen Bestandteil der nonverbalen Kommunikation im Straßenverkehr dar. Die Klägerin habe nicht nachvollziehbar dargelegt, dass sie beim Tragen eines Niqab über eine uneingeschränkte Rundumsicht verfüge. Für den Fall des Vorliegens der Voraussetzungen eines besonderen Einzelfalls sei zu prüfen, ob bzw. wie der gesetzliche Zweck des Verhüllungsverbots erreicht werden könne. Die Klägerin sei beim Tragen eines Niqab im Falle eines (automatisch erfassten) Verkehrsverstoßes nicht identifizierbar. Diesem Punkt könne zwar durch die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage begegnet werden. Die Voraussetzungen für eine solche nach § 31a StVZO lägen aber nicht vor. Eine Fahrtenbuchführung käme deshalb nur mit Einverständnis der Klägerin - welches sie lediglich äußerst hilfsweise erklärt habe - in Betracht. Eine solche Auflage führe aber nicht zur Beseitigung der übrigen gegen die Erteilung einer Ausnahme sprechenden Hindernisse.
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Die Klägerin hat am 26. Oktober 2020 bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf Klage erhoben und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
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Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin insbesondere vorgetragen: Sie bedürfe bereits keiner Ausnahmegenehmigung, da § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO gegen den Parlamentsvorbehalt verstoße. Das Verbot begründe einen schwerwiegenden Eingriff in die Religionsfreiheit, da muslimische Frauen - die es faktisch ausschließlich betreffe - vor die Wahl gestellt würden, auf die Ausübung entweder ihrer Religionsfreiheit oder ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (durch Führen eines Kraftfahrzeugs) zu verzichten. Das Spannungsverhältnis zwischen der Glaubensfreiheit und dem Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs könne allein der parlamentarische Gesetzgeber auflösen. Dieser sei auch verpflichtet, Inhalt, Ausmaß und Zweck von Verordnungsermächtigungen zu bestimmen. § 6 Abs. 1 Nr. 3 Halbsatz 1 StVG, auf dem die Regelung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO beruhe, werde dem nicht gerecht, da er nicht erkennen lasse, in welchem Umfang etwa die Religionsfreiheit zum Zweck der Aufrechterhaltung der Sicherheit des Straßenverkehrs beschränkt werden dürfe. Das Verbot stelle auch eine auf muslimische Frauen begrenzte konkret-individuelle Regelung dar, zu der § 6 Abs. 1 Nr. 3 Halbsatz 1 StVG gerade nicht ermächtige. Im Übrigen habe die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung. Das Ermessen der Bezirksregierung sei vorliegend auf Null reduziert. Die Ablehnungsentscheidung der Bezirksregierung leide außerdem an Ermessensfehlern. § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO bezwecke nicht den Schutz der offenen Kommunikation im Straßenverkehr, sondern diene der Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen. Die Regelung fördere die Verkehrssicherheit deshalb auch nur äußerst mittelbar. Die Verwaltungsvorschriften zu § 46 StVO, denen ohnehin keine Außenwirkung zukomme, verlangten für eine Abweichung von den in § 23 StVO normierten Pflichten des Fahrzeugführers auch keine besondere Dringlichkeit. Die Bezirksregierung verkenne die aus dem Verbot resultierende Zwangslage der Klägerin, obwohl die gesichtsverhüllende Verschleierung unter den Schutzbereich der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Glaubensfreiheit falle. Sie ‑ die Klägerin ‑ sei in besonderer Weise von dem Verhüllungsverbot betroffen. Die Religionsfreiheit garantiere das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln. Sie trage als praktizierende Muslima aus tiefer religiöser Überzeugung und als Ausdruck ihrer gesteigerten individuellen Sittsamkeit und Empfindsamkeit den Niqab. Das Verbot stelle sie vor die Wahl, auf das Führen eines Kraftfahrzeugs zu verzichten oder gegen ihre Glaubensüberzeugungen zu verstoßen. Damit sei sie in einer gänzlich anderen Situation als andere Verkehrsteilnehmer, zumal die Verschleierung des Gesichts aus Glaubensgründen in Deutschland nur in Einzelfällen vorkomme. Die Rundumsicht sei in keiner Weise beeinträchtigt, was sich bereits den mit dem Antrag vom 14. Februar 2020 eingereichten Fotos entnehmen lasse. Für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung komme es zudem nicht maßgeblich darauf an, dass sie auf die Nutzung des Pkw angewiesen sei, sondern darauf, dass sie stärker als andere darauf angewiesen sei, das Verbot nicht einzuhalten. Dem Zweck des Verbots, die Identifizierbarkeit des Fahrers im Falle eines (automatisch erfassten) Verkehrsverstoßes sicherzustellen, könne auch mit einer Auflage zum Führen eines Fahrtenbuchs gemäß § 31a StVZO Rechnung getragen werden. Dies sei auch effektiv, zumal eine Ausnahmegenehmigung auf das von der Klägerin genutzte Fahrzeug beschränkt werden könne. Im Falle von Verstößen könne die Genehmigung widerrufen werden oder es könnten Bußgelder verhängt werden. Sie sei zudem auch deshalb auf die Ausnahmegenehmigung angewiesen, weil sie in der Vergangenheit bereits mehrfach in der Öffentlichkeit diffamiert und belästigt worden sei.
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Die Klägerin hat erstinstanzlich schriftsätzlich beantragt,
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den Beklagten zu verpflichten, ihr die Ausnahmegenehmigung zum Tragen eines Niqab beim Führen eines Kraftfahrzeugs im gesamten Bundesgebiet zu erteilen.
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Der Beklagte hat unter Wiederholung und Vertiefung der Begründung des angefochtenen Bescheids schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Nachdem der Eilantrag der Klägerin beim Verwaltungsgericht Düsseldorf (6 L 2150/20, Beschluss vom 26. November 2020, veröffentlicht u. a. bei juris) und beim Senat (8 B 1967/20, Beschluss vom 20. Mai 2021, ebenfalls veröffentlicht u. a. bei juris) erfolglos geblieben war, hat das Verwaltungsgericht die Klage mit Urteil vom 1. Dezember 2021 abgewiesen.
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Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin bedürfe einer Ausnahmegenehmigung, um mit angelegtem Niqab ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen. Das Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO verstoße nicht gegen den Wesentlichkeitsvorbehalt, nach dem der parlamentarische Gesetzgeber alle wesentlichen, insbesondere grundrechtsrelevanten Regelungen selbst treffen müsse. Die Regelung stehe auch im Übrigen mit dem Grundgesetz im Einklang, weil der gegebenenfalls erforderlichen Berücksichtigung grundrechtlich geschützter Belange durch die Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung Rechnung getragen sei. Die Klägerin besitze aber weder einen Anspruch auf Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung noch auf (erneute) ermessensfehlerfreie Entscheidung. Die Voraussetzungen des als Anspruchsgrundlage allein in Betracht kommenden § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO lägen nicht vor. Auch wenn eine Fahrerin aus religiösen Gründen daran gehindert sei, ihre Gesichtsverhüllung abzulegen, ziehe das keinen unmittelbaren Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach sich. Ein Anspruch auf Befreiung vom Verbot, das Gesicht zu verhüllen oder zu verdecken, könne allenfalls dann bestehen, wenn der Betroffenen der Verzicht auf das Führen eines Kraftfahrzeugs aus besonderen individuellen Gründen nicht zugemutet werden könne. Die Klägerin habe nicht dargelegt, dass sie aus individuellen Gründen auf die Nutzung eines Kraftwagens angewiesen sei. Die Gründe, aus denen sie ein Kraftfahrzeug nutzen wolle, unterschieden sich nicht von dem Jedermann-Interesse an motorisierter Fortbewegung. Das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot sei auch mit Blick auf die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit gerechtfertigt und von der Klägerin hinzunehmen. Die Sicherheit des Straßenverkehrs sei ein Gemeinschaftswert von Verfassungsrang. Deren Beeinträchtigung wirke das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot präventiv entgegen, indem es die Identifikation und damit die Verfolgbarkeit des Fahrers sichere. Es diene weiterhin der Verkehrssicherheit, indem es eine Beeinträchtigung der Rundumsicht des Fahrers verhindere und die nonverbale Kommunikation des Fahrzeugführers mit anderen Verkehrsteilnehmern sichere. Die Ermessensbetätigung der Bezirksregierung sei nicht ermessensfehlerhaft im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO. Insbesondere habe die Bezirksregierung erwogen, ob der Klägerin das Tragen des Niqab unter der Auflage erlaubt werden könne, dass sie ein Fahrtenbuch führe. Hierdurch habe die Bezirksregierung sich mit der Erforderlichkeit des Verhüllungsverbots im Einzelfall der Klägerin auseinandergesetzt. Ermessensfehlerfrei sei die Bezirksregierung zum Ergebnis gelangt, dass eine Fahrtenbuchauflage zur Ermöglichung der Ausnahmegenehmigung ausscheide, weil es sich bei ihr nicht um ein (annähernd) gleich geeignetes Mittel zur Gefahrenabwehr handele.
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Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor: Sie benötige bereits keine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO. Das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht davon aus, dass die Regelung in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO keiner unmittelbaren Ausgestaltung durch den Parlamentsgesetzgeber bedürfe. Dabei verkenne es, dass der Verordnungsgeber nur vordergründig eine generelle Anordnung getroffen habe, tatsächlich aber gerade Fahrzeugführer treffen wolle, die - wie die Klägerin - aus religiösen Gründen ihr Gesicht verschleierten. Ziel der Einführung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO sei die Flankierung von zum damaligen Zeitpunkt in der politischen Diskussion befindlichen Verschleierungsverboten in verschiedenen Bundesländern gewesen. Fälle, in denen ein Gesichtsschleier kausal für einen Verkehrsunfall gewesen sei, seien dem Verordnungsgeber hingegen nicht bekannt gewesen.
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Es sei unzutreffend, dass das Verhüllungsverbot deswegen eine geringe Eingriffsintensität aufweise, da es die Religionsausübung nur in spezifischen, für die Religionsausübung unwesentlichen Lebenssituationen einschränke. Vielmehr treffe es diejenigen Verkehrsteilnehmer, die die Befolgung bestimmter Bekleidungssitten aus religiösen Gründen für sich als zwingend erachteten, in besonderem Ausmaß.
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Die Regelung sei auch deshalb verfassungswidrig, weil sie unverhältnismäßig sei. Soweit sie mit der erforderlichen Identifizierbarkeit bei der automatisierten Verkehrsüberwachung begründet werde, sei sie schon nicht erforderlich, da bereits die Augenpartie ausreiche, um eine Identifizierung anhand von Fotoaufnahmen zu ermöglichen. So sei etwa auch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege im Rahmen der Corona-Pandemie davon ausgegangen, dass das Tragen einer Maske beim Führen eines Kraftfahrzeugs zulässig sei, da die Erkennbarkeit der Augen regelmäßig ausreiche, um die Fahrer-Identität feststellen zu können. Für den Taxen- und Mietwagenverkehr habe das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur eine entsprechende Stellungnahme abgegeben. Auch spreche die geringe Anzahl von Niqab tragenden Menschen in Deutschland gegen Schwierigkeiten bei der Identifizierung. Die Identifizierung im Rahmen automatisierter Verkehrskontrollen könne außerdem durch eine Fahrtenbuchauflage sichergestellt werden. Die hiergegen erhobenen Einwände des Verwaltungsgerichts überzeugten nicht. Es sei unrealistisch, dass ein Fahrzeughalter sich darauf berufe, einen Fahrer mit Niqab nicht identifizieren zu können. Im Übrigen sei eine Auflage zur Individualisierung des Niqab denkbar.
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Für die Regelung im Verordnungswege fehle es auch an einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage. Gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG müssten Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung in dem ermächtigenden Gesetz bestimmt werden. Diesen Anforderungen werde § 6 Abs. 1 Nr. 3 Halbsatz 1 StVG in der Fassung vom 21. Juni 2017 nicht gerecht. Durch diese Regelung werde das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur ermächtigt, Rechtsverordnungen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen zu erlassen. Während sich der Zweck der Verordnungsermächtigung (Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung) noch hinreichend sicher bestimmen lasse, bleibe der Umfang hierauf gestützter, exekutiver Regelungen gänzlich offen. So sei nicht vorhersehbar, in welchen Fällen und in welchem Umfang das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in die Religionsausübungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG eingreifen dürfe.
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Darüber hinaus werde das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur durch § 6 Abs. 1 Nr. 3 Halbsatz 1 StVG nur zum Erlass abstrakt-genereller Regelungen ermächtigt. § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO stelle jedoch vor dem Hintergrund, dass faktisch vor allem muslimische Frauen von dem Gesichtsverhüllungsverbot betroffen seien, die wie die Klägerin ihr Gesicht aus religiöser Überzeugung bedeckten, eine konkret-individuelle Regelung dar.
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Das Verbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO sei auch unverhältnismäßig im engeren Sinne. Der Schutz der Sicherheit im Straßenverkehr könne den schwerwiegenden Eingriff in die Religionsfreiheit nicht rechtfertigen. Es sei nicht einmal erwiesen, dass die Sicherheit im Straßenverkehr durch den Eingriff überhaupt erhöht werde. Ein Zusammenhang zwischen einer Gesichtsbedeckung und Verkehrsverstößen sei - etwa beim Karneval oder in mehrheitlich muslimischen Ländern - nicht belegt. Der Gesetzgeber gehe auch in anderen Fällen von einer besonders hohen Wertigkeit religiöser Gebote bzw. Traditionen aus. So habe er mit § 1631d BGB die religiös motivierte Beschneidung männlicher Kinder trotz des entgegenstehenden Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit ausdrücklich erlaubt. Die Unverhältnismäßigkeit der Regelung könne auch nicht mit Blick auf § 46 Abs. 2 StVO verneint werden, da die Behörden die ihnen eröffnete Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung faktisch nicht nutzten. Auch das pauschale Verbot unabhängig von der jeweiligen Führerscheinklasse sei unverhältnismäßig, da Verkehrsverstöße etwa in der Klasse AM nur in geringerem Ausmaß zu befürchten seien.
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Hilfsweise bestehe ein Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung gemäß § 46 Abs. 2 StVO. Das Ermessen des Beklagten sei auf Null reduziert.
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Soweit das Verwaltungsgericht die Auffassung vertrete, das Gesichtsverhüllungsverbot diene der Verkehrssicherheit, indem es die Beeinträchtigung der Rundumsicht des Fahrzeugführers verhindere, verkenne es, dass der Schutz der freien Sicht ausweislich der Verordnungsbegründung nicht Gegenstand des Gesichtsverhüllungsverbots in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO sei. Darüber hinaus werde die freie Sicht durch das Tragen eines Gesichtsschleiers auch nicht beeinträchtigt. Eine potentielle Störung bei Hinzutreten äußerer Bedingungen sei etwa auch bei anderen Kopfbedeckungen oder Schmuck zu befürchten.
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Das Verhüllungsverbot diene auch nicht der nonverbalen Kommunikation im Straßenverkehr. Die vom Verwaltungsgericht angenommenen Verständigungsmöglichkeiten (Handzeichen, Mimik und Lippenbewegungen) könnten in den meisten Verkehrssituationen, z. B. nachts oder bei hohen Geschwindigkeiten, ohnehin nicht wahrgenommen werden.
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Soweit das Verwaltungsgericht der Ansicht sei, das abgeschlossene Kraftfahrzeug erfülle bereits weitgehend den Zweck, den die Klägerin mit dem Gesichtsschleier verfolge, verkenne es, dass es damit den Inhalt des für die Klägerin imperativen Glaubensgebotes interpretiere und zugleich die Möglichkeiten seiner Befolgung bestimme. Dem weltanschaulich neutralen Staat sei die Bewertung von Glaubensgeboten jedoch untersagt.
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Die Klägerin sei auch in besonderem Maße auf die Nutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen. Sie arbeite selbständig als Wellnessmasseurin und mache im Rahmen ihrer Arbeit Hausbesuche, zu denen sie ihre Massageliege mitnehmen müsse. Zum Nachweis ihrer Tätigkeit reicht sie Zertifikate über ihre Qualifikation sowie eine Übersicht ihrer „Einnahmen-Ausgaben 2023“ und Fotos der Massageliege in einem Kraftfahrzeug ein. Sie leide an Rückenproblemen. Sie fahre deshalb auch bislang „mit Niqab“. Dabei sei sie bereits zweimal von der Polizei angehalten worden. Sie sei zudem mehrfach in F. wegen ihrer Verschleierung belästigt und beleidigt worden. Im Hauptbahnhof sei ihr ein Mann hinterhergelaufen und habe sie belästigt. Beim Einkaufen in L. sei sie von einer Frau beschimpft worden. Von einer weiteren Frau sei sie ebenfalls beschimpft worden. Bei einem Spaziergang am K. mit einer Freundin habe sie ein Mann belästigt. In diesem Fall komme es auch nicht - wie das Verwaltungsgericht angenommen habe - darauf an, ob dies bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel geschehen sei.
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Die Klägerin beantragt,
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festzustellen, dass sie unter Verwendung eines Niqab ein Kraftfahrzeug i. S. v. § 23 Abs. 4 StVO führen darf,
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hilfsweise unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 1. Dezember 2021 den Beklagten unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 6. Oktober 2020 in der Gestalt der Ergänzung vom 28. Juni 2024 zu verpflichten, ihr nach § 46 Abs. 2 StVO eine Ausnahmegenehmigung vom Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO zu erteilen,
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weiter hilfsweise, über ihren Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO erneut zu entscheiden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zur Begründung trägt er vor: § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO sei nicht verfassungswidrig. Insbesondere verstoße die Regelung nicht gegen den sogenannten Wesentlichkeitsvorbehalt. Ein Konflikt zwischen dem Verhüllungsverbot und religiösen Bekleidungsvorschriften bestehe nur in seltenen Fällen, da nur eine geringe Anzahl von Muslima in Deutschland Niqab trage. Es liege kein gezielter oder unmittelbarer Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit vor. Zudem sei die Intensität des Eingriffs in der Regel gering, da die Religionsausübung in einer eng begrenzten und für die Religionsfreiheit typischerweise nicht wesentlichen Lebenssituation beschränkt werde.
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Das Verbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO sei auch verhältnismäßig. Es bezwecke die Gewährleistung der Identitätsfeststellung bei Maßnahmen der automatisierten Verkehrsüberwachung. Weil es in Deutschland keine Halterhaftung gebe, müsse der Fahrer eines Fahrzeugs ermittelbar sein, so dass gegen ihn ein Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet werden könne. Ein Verkehrsteilnehmer, der damit rechnen müsse, für einen Verkehrsverstoß zur Verantwortung gezogen zu werden, werde sich eher verkehrsgerecht verhalten als derjenige, der unter Verhüllung seines Gesichts unerkannt am Straßenverkehr teilnehme. Diese präventive Funktion des Verbots diene der Sicherheit des Straßenverkehrs und schütze die hochrangigen Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Eigentum. Die Annahme, dass die Regelung gerade auf muslimische Frauen abziele, sei nicht nachvollziehbar. Es handele sich um ein allgemeines Verbot.
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Das Verbot sei geeignet und erforderlich. Insbesondere sei die Anordnung zur Führung eines Fahrtenbuchs gemäß § 31a StVZO nicht ebenso geeignet, den angestrebten Zweck zu erreichen. § 31a StVZO adressiere den Halter und nicht den Fahrer eines Kraftfahrzeugs. Eine Identifikation könne zudem nicht sicher gewährleistet werden, da die Gefahr einer unrichtigen oder unterlassenen Führung bestehe. Soweit das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur im Zusammenhang mit der Maskenpflicht während der Corona-Pandemie auf die Möglichkeit des Identitätsnachweises durch Fahrtenbücher hingewiesen habe, sei dies auf Taxen und Mietwagen und deren Fahrer beschränkt gewesen. Eine Fahrtenbuchauflage werde zudem in der Regel dann erlassen, wenn nach einem Verkehrsverstoß eine unbekannte dritte Person mangels Mitwirkung des Halters allein anhand des Fotos nicht ermittelt werden könne. Im Fall einer verschleierten Person könne aber auch die im Fahrtenbuch benannte Person nicht durch Fotoabgleich sicher identifiziert werden. Eine Individualisierung des Niqab sei zur sicheren Identifizierung ungeeignet.
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§ 23 Abs. 4 Satz 1 StVO sei auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Der Religionsfreiheit komme nicht schlechthin höheres Gewicht zu als den mit dem Verdeckungs- und Verhüllungsverbot geschützten Rechtsgütern. Der Verweis der Klägerin auf die Erlaubnis zur religiös motivierten Beschneidung männlicher Kinder in § 1631d BGB führe nicht weiter, weil § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO nicht dazu diene, der Freiheit der Religionsgemeinschaften zur selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten Rechnung zu tragen. Bei der Behauptung, dass die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung faktisch unmöglich sei, handele es sich um eine bloße Unterstellung. Es sei auch nichts dagegen einzuwenden, dass das Verbot sämtliche Führerscheinklassen betreffe, da etwa auch mit einem Fahrzeug der Führerscheinklasse AM Verkehrsverstöße möglich seien, die im Rahmen der automatisierten Verkehrsüberwachung aufgedeckt werden könnten.
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Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung lägen nicht vor: Das öffentliche Interesse am Bestand des Verbots überwiege das Individualinteresse der Klägerin. Aus der systematischen Stellung des § 23 Abs. 4 StVO lasse sich erkennen, dass die Regelung durch die Sicherstellung der Rundumsicht der Verkehrssicherheit diene. Diese sei insbesondere dann gefährdet, wenn das Kleidungsstück aufgrund äußerer Einflüsse verrutsche. Dabei komme es nicht auf die Bindeweise des Niqab an, da diese variieren könne und eine Kontrolle praktischen Schwierigkeiten begegne. Die Regelung stelle auch keinen „klassischen“ Eingriff in die Religionsfreiheit dar. Die Klägerin müsse lediglich bei Befolgung der von ihr als verbindlich empfundenen Bekleidungsvorschriften auf das Führen von Kraftfahrzeugen verzichten. Sie habe auch nicht überzeugend dargelegt, warum sie zwingend auf den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs angewiesen sei. Die behaupteten Anfeindungen ließen einen Zusammenhang mit der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht erkennen. Der Vortrag, dass sie für eine Nebentätigkeit als Wellnessmasseurin auf ein Kraftfahrzeug angewiesen sei, sei neu. Diese Tätigkeit habe sie erst nach der behördlichen Ermessensentscheidung zum 1. Januar 2022 aufgenommen. Wie häufig sie im Rahmen dieser Tätigkeit Hausbesuche mache, bleibe offen. Als Betriebsstätte sei in der Gewerbeanmeldung die Wohnadresse der Klägerin angegeben. Es sei auch unklar, wie die Klägerin trotz behaupteter Rückenprobleme ihre Arbeitsutensilien in Wohnungen bzw. Häuser ihrer Kunden schaffen könne. Die von der Klägerin auf Fotoaufnahmen gezeigten Arbeitsmittel ließen sich auch im öffentlichen Nahverkehr transportieren. Der Verweis auf Rückenschmerzen sei im Übrigen unbestimmt. Es sei nicht ersichtlich, dass die Klägerin Familien- und Freundesbesuche nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln wahrnehmen könne. Die Klägerin könne das Verbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO auch durch Nutzung eines Kraftrads oder eines Fahrrads umgehen.
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Mit Schriftsatz vom 28. Juni 2024 hat die Bezirksregierung ihre Ermessenserwägungen wie folgt ergänzt bzw. abgeändert: Eine abschließende Prüfung sei nunmehr möglich. Zwar gehe sie davon aus, dass die Hinderung, das Verbot des § 23 Abs. 4 StVO zu befolgen, auf religiösen Gründen beruhe. Der Eingriff in die Religionsfreiheit sei allerdings gering, zumal die Auswirkungen des Verbots innerhalb eines Kfz infolge der eingeschränkten visuellen Kontaktaufnahme von geringerem Gewicht seien. Der Klägerin sei es weiterhin zumutbar, sich zwischen der Teilnahme am Straßenverkehr als Fahrzeugführerin oder dem unbedingten Befolgen des religiösen Gebots zu entscheiden. Die ungehinderte Rundumsicht des Kraftfahrzeugführers müsse gewahrt bleiben. Die Gewährleistung einer nonverbalen Kommunikation sei hingegen nicht Kern ihrer Ermessenserwägungen, sondern stütze diese zusätzlich. Eine fahrzeugbezogene Fahrtenbuchauflage sei wegen Missbrauchsmöglichkeiten kein gleich geeignetes Mittel, insbesondere habe die Klägerin für dieses aber auch kein Einverständnis erteilt. Die Klägerin habe auch nicht dargelegt, wie den damit verbundenen Missbrauchsmöglichkeiten begegnet werden könne. Sie sei nicht auf ein Kraftfahrzeug angewiesen, da sie die geltend gemachten Rückenschmerzen nicht näher belegt habe, Besuche bei Familienangehörigen in N. mit öffentlichen Verkehrsmitteln mit geringem zusätzlichen Zeitaufwand zu bewerkstelligen seien und der pauschale Hinweis auf Einschränkungen des Soziallebens nicht überzeugen könne. Die Klägerin habe auch nicht aufgezeigt, warum sie ihre Einkäufe nicht mit dem Fahrrad oder zu Fuß erledigen oder sich beliefern lassen könne.
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Der Senat hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 5. Juli 2024 befragt und ihre Verschleierung in Augenschein genommen. Diesbezüglich wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen. Während der Verhandlung hat die Klägerin ferner einen Bescheid des Finanzamts C. über die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags für 2022 vorgelegt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens, des Verfahrens 8 B 1967/20 sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Bezirksregierung verwiesen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Berufung der Klägerin hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
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A. Der Hauptantrag ist zulässig (dazu I.), aber unbegründet (dazu II.).
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I. Die Feststellungsklage ist zulässig.
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1. Der Hauptantrag der Klägerin, festzustellen, dass sie unter Verwendung eines Niqab ein Kraftfahrzeug im Sinne des § 23 Abs. 4 StVO führen darf, zielt auf die Feststellung, dass sie unter Verwendung eines Niqab im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führen darf, für das diese Vorschrift gilt. Mit Blick auf die in § 23 Abs. 4 Satz 2 StVO geregelte Ausnahme in Fällen des § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO, also für Krafträder sowie offene drei- und mehrrädrige Kraftfahrzeuge mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von über 20 km/h, handelt es sich hierbei der Sache nach um geschlossene Kraftfahrzeuge.
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2. Soweit der erstmals in der Berufungsbegründung ausdrücklich formulierte Feststellungsantrag eine Klageänderung darstellt,
53
vgl. zur Zulässigkeit der Klageänderung im Berufungsverfahren Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 125 Rn. 29,
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ist diese gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 91 Abs. 1 und 2 VwGO zulässig. Der Beklagte hat sich mit Schriftsatz vom 2. April 2024 auf den so formulierten Klageantrag eingelassen. Zudem ist sie sachdienlich, weil die Einbeziehung des Feststellungsbegehrens die Möglichkeit bietet, den - zwischen den Beteiligten auch insoweit schon erstinstanzlich diskutierten - Streitstoff endgültig zu bereinigen.
55
Vgl. zu den Kriterien der Sachdienlichkeit Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 45. EL Januar 2024, § 91 VwGO Rn. 61b.
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3. Die Feststellungsklage ist statthaft.
57
Nach § 43 Abs. 1 VwGO kann durch Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (Feststellungsklage).
58
a. Unter einem Rechtsverhältnis im Sinne dieser Vorschrift sind die nach öffentlichem Recht zu beurteilenden Beziehungen zwischen rechtsfähigen Personen, insbesondere zwischen Privaten und öffentlich-rechtlich verfassten Rechtsträgern, oder zwischen einer rechtsfähigen Person und einer Sache jeweils in Bezug auf einen konkreten Sachverhalt zu verstehen. Die Feststellungsklage kann auf die Klärung der Frage gerichtet sein, ob das Rechtsverhältnis rechtswirksam begründet oder beendet ist und ob es einen bestimmten Inhalt hat. Gegenstand eines Rechtsverhältnisses im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO kann etwa die Feststellung sein, dass eine bestimmte Betätigung trotz eines öffentlich-rechtlichen Verbots oder Genehmigungsvorbehalts voraussetzungslos erlaubt ist.
59
Vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Oktober 2017 - 6 C 44.16 -, juris Rn. 10 f., und vom 28. Januar 2010 ‑ 8 C 19.09 ‑, juris Rn. 24, jeweils m. w. N.
60
Beteiligte eines solchen Rechtsverhältnisses sind die Privaten, deren Betätigungsfreiheit beschränkt wird, und der Rechtsträger, dessen Behörden den Privaten gegenüber die Beachtung des Verbots oder des Genehmigungsvorbehalts zu überwachen und durchzusetzen haben (Vollzugszuständigkeit). Die Verantwortung dieses Rechtsträgers für die Rechtsanwendung gegenüber den Privaten besteht auch, wenn ein anderer öffentlich-rechtlicher Träger die anzuwendenden Rechtsnormen erlassen hat, die das Verbot oder den Genehmigungsvorbehalt anordnen.
61
Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017 - 6 C 44.16 -, juris Rn. 11.
62
Ein Rechtsverhältnis betreffend die Feststellung, dass eine bestimmte Betätigung trotz eines öffentlich-rechtlichen Verbots oder Genehmigungsvorbehalts voraussetzungslos erlaubt ist, besteht auch zu dem Rechtsträger, dessen Behörde für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zuständig wäre.
63
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 24. März 2010 - 8 A 316/09 -, juris Rn. 53; ebenso wohl BVerwG, Urteile vom 25. Oktober 2017 - 6 C 44.16 -, juris Rn. 12, und vom 14. April 2005 - 3 C 3.04 -, juris Rn. 21.
64
b. Danach besteht hier in Bezug auf das Verhüllungsverbot in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO ein Rechtsverhältnis zwischen den Verfahrensbeteiligten, weil die Klägerin festgestellt haben will, dass sie trotz des Verbots ein geschlossenes Kraftfahrzeug im Straßenverkehr führen darf, und eine Behörde des beklagten Landes gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zuständig ist.
65
Nach dieser Vorschrift können die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen Ausnahmen von allen Vorschriften der Straßenverkehrsordnung für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen. § 46 Abs. 2 Satz 3 StVO sieht vor, dass das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zuständig ist, wenn sich die Auswirkungen der Ausnahme über ein Land hinaus erstrecken und eine einheitliche Entscheidung notwendig ist; die Ausnahme erlässt es durch Verordnung.
66
Die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung durch den Beklagten ist nicht durch § 46 Abs. 2 Satz 3 StVO ausgeschlossen.
67
Vgl. dazu auch VG Düsseldorf, Beschluss vom 26. November 2020 - 6 L 2150/20 -, juris Rn. 23 ff.; VG Neustadt an der Weinstraße, Urteil vom 26. Juli 2023 - 3 K 26/23.NW -, juris Rn. 32; a. A. VG Karlsruhe, Urteil vom 12. Juli 2023 - 12 K 4383/22 -, juris Rn. 26 ff.
68
Zwar lässt sich nicht bereits der systematischen Stellung des Satzes 3 im Regelungsgefüge des § 46 Abs. 2 StVO entnehmen, dass dieser nur eine Ausnahme zu Satz 2 und nicht auch zu Satz 1 darstellen soll. Im Gegenteil ist Satz 3 gerade als Ausnahme zu Satz 1 - und zugleich zum spezielleren Satz 2 - konzipiert.
69
Jedoch zeigt die Regelung in § 46 Abs. 4 StVO, wonach Ausnahmegenehmigungen der zuständigen Behörde für den (gesamten) Geltungsbereich der Straßenverkehrsordnung wirksam sind, sofern sie nicht einen anderen Geltungsbereich nennen, dass allein die Tatsache, dass sich die Auswirkungen der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung über das beklagte Land hinaus erstrecken, die Zuständigkeit der Landesbehörden nicht automatisch ausschließt. Vielmehr bedarf es - wie auch der Wortlaut nahelegt - darüber hinaus für das Tätigwerden des Bundesministeriums auch der Erforderlichkeit einer einheitlichen Entscheidung.
70
Insofern entspricht es dem im Gesetz angelegten Stufenverhältnis zwischen einer Allgemeinzuständigkeit auf Landesebene und einer Sonderzuständigkeit bei bundesweiter Bedeutung und Bedarf der Einheitlichkeit, die Regelung von Einzelfällen den Landesbehörden zu überlassen. Dies folgt auch der Intention des Verordnungsgebers. Dieser hat in § 46 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 2 StVO klargestellt, dass das Bundesministerium die Ausnahmen durch eine (abstrakt-generelle) Verordnung erlässt. Ihm kommt also keine Kompetenz zur Entscheidung von Einzelfällen im Wege des Verwaltungsakts zu.
71
Vgl. ausdrücklich BR-Drs. 591/19, S. 88.
72
Bei der individuell begehrten Befreiung vom Verbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung, die allein das Verhältnis zwischen Antragsteller und Behörde regelt und durch Verwaltungsakt beschieden wird. Eine einheitliche Entscheidung ist hier auch erkennbar nicht erforderlich, denn es ist eine Vielzahl von individuellen Gründen denkbar, die für oder gegen eine solche Genehmigung sprechen könnten. Zu denken wäre hier etwa auch an medizinische Gründe.
73
c. Die Anwendbarkeit des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO ist zwischen den Beteiligten ‑ wie sich dem umfangreichen Vortrag entnehmen lässt ‑ auch streitig. Das erforderliche Feststellungsinteresse liegt jedenfalls aufgrund der geltend gemachten Verletzung der durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Religionsfreiheit vor.
74
4. Die Feststellungsklage ist nicht gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO gegenüber der (hier hilfsweise erhobenen) Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung subsidiär.
75
Nach dieser Vorschrift kann die Feststellung nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können.
76
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Die Klägerin kann ihr mit der Feststellungsklage verfolgtes Ziel mit einer Verpflichtungsklage nicht erreichen. Das Feststellungsbegehren ist kein Bestandteil des auf die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gerichteten Verpflichtungsbegehrens. Die Klägerin will in erster Linie keine Ausnahmegenehmigung, sondern eine Klarstellung, dass sie ohne eine solche als Fahrerin eines (geschlossenen) Kraftfahrzeugs im Sinne des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO im Straßenverkehr den Niqab tragen darf. Mit dieser Feststellung würde sich die Verpflichtungsklage erübrigen.
77
Vgl. zu einer Klage auf Feststellung, dass eine bestimmte Tätigkeit keiner Ausnahmegenehmigung bedarf, BVerwG, Urteil vom 26. September 2012 - 8 C 26.11 -, juris Rn. 19.
78
5. Der Zulässigkeit der Feststellungsklage steht nicht entgegen, dass das Bestehen bzw. Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses von der Gültigkeit einer Rechtsverordnung abhängt.
79
§ 47 VwGO entfaltet jedenfalls dann keine Sperrwirkung für die gerichtliche Überprüfung untergesetzlicher Rechtsetzungsakte außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Norm, wenn die Norm der Umsetzung durch einen Vollzugsakt nicht bedarf. Von einer Umgehung oder Sperrwirkung des § 47 VwGO kann keine Rede sein, wenn die Anwendung einer Rechtsnorm auf einen bestimmten und konkreten Sachverhalt streitig ist, so dass die Rechtmäßigkeit der Norm als ‑ wenn auch streitentscheidende ‑ Vorfrage aufgeworfen wird und die Anknüpfung an ein zugrunde liegendes Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten erhalten bleibt. Die Rechtskraft eines der Klage stattgebenden Urteils beschränkt sich ‑ anders als im Normenkontrollverfahren (vgl. § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO) ‑ gemäß § 121 VwGO auf das Verhältnis der Prozessbeteiligten.
80
Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. September 2019 - 3 C 3.18 -, juris Rn. 20 ff., m. w. N.
81
Das Rechtsschutzziel der Klägerin ist darauf gerichtet, ihre Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) zu wahren und selbst ohne Ausnahmegenehmigung mit Niqab einen Pkw fahren zu dürfen. Ihr geht es nicht lediglich abstrakt darum, die Ungültigkeit von § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO feststellen zu lassen.
82
II. Die danach zulässige Klage der Klägerin auf Feststellung, dass sie unter Verwendung eines Niqab ein (geschlossenes) Kraftfahrzeug im Sinne des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO im Straßenverkehr führen darf, ist unbegründet. Das Tragen des Niqab beim Führen eines Kraftfahrzeugs unterfällt dem Verbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO (dazu 1.). § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO ist auch verfassungsgemäß, insbesondere verstößt die Vorschrift nicht gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (dazu 2.).
83
1. Nach § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO darf, wer ein Kraftfahrzeug führt, sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass er nicht mehr erkennbar ist. Verdecken oder Verhüllen bedeutet ausweislich der Verordnungsbegründung, dass das Gesicht mit seinen ausschlaggebenden Zügen wie Auge, Nase, Mund nicht mehr erkennbar ist, weshalb unter das Verbot weder reine Kopfbedeckungen, die das Gesicht freilassen, noch Gesichtsbemalung, -behaarung oder etwaiger Gesichtsschmuck oder die Sicht erhaltende oder unterstützende Brillen, die nur geringfügige Teile des Gesichts umfassen, im Wesentlichen aber die Erkennbarkeit der Gesichtszüge nicht beeinträchtigen, fallen. Unter das Verbot fällt hingegen das Tragen von Masken, Schleiern und Hauben, die das ganze Gesicht oder wesentliche Teile des Gesichts verdecken.
84
Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 16. April 2021 ‑ 13 MN 158/21 -, juris Rn. 52, unter Verweis auf die Verordnungsbegründung, BR-Drs. 556/17, S. 28.
85
Das von der Klägerin beabsichtigte Tragen eines Niqab, der lediglich die Augenpartie erkennen lässt, führt dazu, dass die anderen ausschlaggebenden Gesichtszüge Nase und Mund nicht mehr und die Gesichtsform nur noch eingeschränkt wahrgenommen werden können, so dass die Klägerin im Sinne der Vorschrift „nicht mehr erkennbar“ ist.
86
Der Einwand der Klägerin, dass die Augenpartie ausreiche, um eine Identifizierung anhand eines „Blitzer-Fotos“ zu ermöglichen, ist unzutreffend. Nach den Erfahrungen des Senats, der seit vielen Jahren verkehrsrechtliche Verfahren bearbeitet, weisen die im Rahmen automatisierter Verkehrsüberwachung aufgenommenen Bilder nicht die erforderliche Detailschärfe auf, um Personen allein anhand ihrer Augenpartie unterscheiden zu können. Zudem lässt die Augenpartie allein - anders als das unverschleierte Gesicht - auch kaum Rückschlüsse auf andere typische Identifizierungsmerkmale wie das Alter oder das Geschlecht einer Person zu.
87
Die von der Klägerin zitierten Ausführungen des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, dass es in der Regel ausreiche, dass sich die Augen noch erkennen ließen, sind ‑ unabhängig davon, dass sie den Senat nicht binden ‑ im Kontext der Frage nach dem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes beim Führen eines Kraftfahrzeugs zu verstehen und erfolgten aus Anlass der Corona-Pandemie. Ein einfacher Mund-Nasen-Schutz verdeckt aber lediglich die untere Gesichtshälfte mit Mund und Nase, während Haare, Stirn, Hals und damit letztlich auch die ganze Gesichtsform häufig erkennbar bleiben. Dies ist beim Niqab nicht der Fall. Eine Vergleichbarkeit wäre höchstens dann gegeben, wenn der Mund-Nasen-Schutz in Kombination mit anderen Gegenständen, die weitere Identifikationsmerkmale verdecken, wie etwa Kopfbedeckungen, getragen würde. Die zitierten Aussagen stellen aber jeweils explizit darauf ab, dass das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (nur) in der Regel die Feststellung der Identität des Fahrzeugführers erlaube.
88
2. Das in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO geregelte Verhüllungs- und Verdeckungsverbot greift (mittelbar) in die nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit ein (dazu a.). Der Eingriff ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt (dazu b.).
89
a. Das Verbot, eine Verschleierung beim Führen eines Kraftfahrzeugs zu tragen, greift in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein, indem es Trägerinnen einer religiösen Verschleierung, etwa eines Niqab, vor die Wahl stellt, entweder ein Kraftfahrzeug zu führen oder dem von ihnen als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.
90
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, das heißt einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben. Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens. Dazu gehört das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben; dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze. Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben.
91
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17 -, juris Rn. 78, 80, m. w. N.
92
Musliminnen, die, wie die Klägerin, eine für ihren Glauben typische Verschleierung tragen, können sich demnach auf den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen, wenn die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl auch mit Blick auf die im Islam vertretenen unterschiedlichen Auffassungen zum sogenannten Bedeckungsgebot nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung hinreichend plausibel ist.
93
Vgl. auch zum Kopftuch BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17 -, juris Rn. 80.
94
Das ist etwa dann der Fall, wenn der Niqab aus der individuellen Überzeugung heraus getragen wird, dass es sich bei diesem um eine islamische Pflicht, jedenfalls aber um eine gottgefällige Handlung handele. Dies wird durch die Verbreitung des Niqab unter Musliminnen und die auch von der Klägerin vorgenommene Berufung auf den Koran belegt. Insofern kommt es nicht darauf an, dass das Tragen eines Niqab unter muslimischen Frauen, jedenfalls in Deutschland, unüblich ist und es auch zahlreiche islamische Theologen und Rechtsgelehrte gibt, nach deren Auffassung keine Pflicht zur Gesichtsverschleierung aus religiösen Gründen besteht.
95
Nachweise dazu etwa bei Kokott, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 4 Rn. 70, m. w. N.
96
b. Der Eingriff in die Religionsfreiheit ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
97
Einschränkungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil dieses Grundrecht keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte mit Verfassungsrang. Die Einschränkung bedarf überdies einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage
98
Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Januar 2020 ‑ 2 BvR 1333/17 -, juris Rn. 82, und vom 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11 -, juris Rn. 61, jeweils m. w. N.
99
Dem genügt § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO. Die Regelung erfüllt die Anforderungen an den Vorbehalt des Gesetzes (dazu aa.), dient dem Schutz von Grundrechten Dritter bzw. von Gemeinschaftswerten mit Verfassungsrang (dazu bb.) und ist auch nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unter Berücksichtigung der damit einhergehenden Belastungen gerechtfertigt (dazu cc.).
100
aa. Der Bundesgesetzgeber hat in § 6 Abs. 1 Nr. 3 Halbsatz 1 StVG in der zum Zeitpunkt der Einführung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO geltenden Fassung vom 16. Juni 2017 (im Folgenden: a. F.) das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zum Erlass von Rechtsverordnungen über die (sonstigen) zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen erforderlichen Maßnahmen über den Straßenverkehr ermächtigt. Auf dieser Grundlage ist § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO zum 19. Oktober 2017 durch Art. 1 Nr. 1 Buchstabe c der Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur sowie des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit vom 6. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3549) eingeführt worden.
101
Es bestehen im Hinblick auf den Wesentlichkeitsgrundsatz keine Bedenken gegen die Regelung des Verhüllungs- und Verdeckungsverbots im Verordnungswege.
102
Demokratie- (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebieten, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. „Wesentlich“ bedeutet zum einen „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“. Eine Pflicht des Gesetzgebers, die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst zu bestimmen, kann etwa dann bestehen, wenn miteinander konkurrierende Freiheitsrechte aufeinandertreffen, deren Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muss. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie sie für die Ausübung dieser Freiheitsrechte erforderlich sind. Der Gesetzgeber ist zum anderen zur Regelung der Fragen verpflichtet, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind.
103
Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 - 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15 -, juris Rn. 194; Beschlüsse vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 125, und vom 21. April 2015 - 2 BvR 1322/12, 2 BvR 1989/12 -, juris Rn. 52 f.
104
Die Anforderungen des Wesentlichkeitsgrundsatzes werden durch Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG näher konkretisiert, der die mit einer Delegation auf den Verordnungsgeber verbundenen Bestimmtheitsanforderungen ausdrücklich normiert. Danach kann die Bundesregierung durch Gesetz nur dann ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen, wenn Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Wann und inwieweit es einer Regelung durch den Gesetzgeber bedarf, lässt sich nur mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes bestimmen. Der Grad der dabei jeweils zu fordernden Bestimmtheit einer Regelung hängt auch davon ab, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist und wie intensiv die Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen sind. Insoweit berührt sich das Bestimmtheitsgebot mit dem Verfassungsgrundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, der fordert, dass der Gesetzgeber die entscheidenden Grundlagen des zu regelnden Rechtsbereichs, die den Freiheits- und Gleichheitsbereich wesentlich betreffen, selbst festlegt und dies nicht dem Handeln der Verwaltung überlässt. Das Grundgesetz kennt allerdings keinen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts. Die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG normierte organisatorische und funktionelle Trennung und Gliederung der Gewalten zielt auch darauf ab, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen. Vor diesem Hintergrund kann auch die Komplexität der zu regelnden Sachverhalte den Umfang der Regelungspflicht des Gesetzgebers begrenzen.
105
Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 126, und vom 24. März 2021 - 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20 -, juris Rn. 260, sowie Urteil vom 19. September 2018 - 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15 -, juris Rn. 197 ff.
106
Sollen Regelungen ergehen, die Freiheits- und Gleichheitsrechte der Betroffenen wesentlich betreffen, ist daher die Einbindung des Verordnungsgebers in die Regelungsaufgabe nicht schlechthin ausgeschlossen.
107
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 127, m. w. N.
108
Diesen Maßgaben folgend bedurfte die Regelung des Verhüllungs- und Verdeckungsverbots für den Führer eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO keiner Regelung durch ein förmliches Gesetz.
109
Die Vorschrift ordnet nicht den Lebensbereich der Religionsausübungsfreiheit und führt auch nicht zu einer gezielten oder unmittelbar den Schutzbereich der Religionsfreiheit betreffenden Beschränkung. Sie stellt vielmehr eine generelle Anordnung dar, die gleichwohl mit der Religionsfreiheit kollidieren kann. Auch in etwaigen Konfliktfällen ist die Intensität des Eingriffs in der Regel aber begrenzt, weil das Verhüllungsverbot nur das Führen näher bestimmter Kraftfahrzeuge betrifft und die Religionsausübung damit nur in einer zeitlich und örtlich eng begrenzten und für die Verwirklichung der Religionsfreiheit typischerweise nicht wesentlichen Lebenssituation eingeschränkt sein kann.
110
Insoweit gilt im Grundsatz nichts anderes als für die Motorradhelmpflicht (§ 21a Abs. 2 Satz 1 StVO), die das Bundesverwaltungsgericht entsprechend eingeordnet hat.
111
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 ‑ 3 C 24.17 ‑, juris Rn. 9.
112
Der Senat verkennt dabei nicht, dass das Verhüllungsverbot beim Führen eines (geschlossenen) Kraftfahrzeugs praktisch einen weitergehenden Lebensbereich als die auf das Führen eines Kraftrads begrenzte Helmpflicht betrifft. Dies folgt schon daraus, dass eine solche Kraftfahrzeug-Nutzung in der Gesellschaft wesentlich weiter verbreitet und die Angewiesenheit auf solche Kraftfahrzeuge im beruflichen oder sozialen Kontext häufig größer ist.
113
Vgl. bereits OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 54.
114
Für die Annahme der Klägerin, dass das Verbot - gleichsam als konkret-individuelle Regelung - auf muslimische Frauen mit Vollverschleierung abziele, fehlt es an Anhaltspunkten. Die Verordnungsbegründung stellt darauf ab, dass die Vorschrift geschlechtsneutral die Erkennbarkeit der das Kraftfahrzeug führenden Person sicherstellen solle. Sie erläutert weiter, dass unter das Verbot Masken, Schleier und Hauben fallen, die das ganze Gesicht oder wesentliche Teile des Gesichts verdecken. Das (ebenfalls religiös begründete) Kopftuch wird hingegen explizit als nicht unter das Verbot fallend erwähnt.
115
Vgl. BR-Drs. 556/17, S. 28.
116
Der über die religiös begründete Verschleierung hinausgehende Anwendungsbereich wird auch durch den Konflikt der Regelung mit dem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes während der Corona-Pandemie illustriert.
117
Vgl. zur Frage der Vereinbarkeit einer Maskenpflicht mit § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO etwa Nds. OVG, Beschluss vom 16. April 2021 - 13 MN 158/21 -, juris Rn. 31.
118
Die Begründung der Regelung durch den Verordnungsgeber knüpft an die - auch von dem für das Verkehrsrecht zuständigen Senat geteilte - Erfahrung an, dass die mangelnde Identifizierbarkeit des Fahrzeugführers bei automatisiert erfassten Verkehrsverstößen regelmäßig zu praktischen Schwierigkeiten bei der Aufklärung von Ordnungswidrigkeiten wie insbesondere Geschwindigkeitsüberschreitungen, Rotlichtverstößen und Unterschreitung des Mindestabstands führt. Sie erscheint nicht lediglich vorgeschoben.
119
Die Behauptung der Klägerin, dass zum Zeitpunkt der Einführung eine öffentliche Debatte um die religiös begründete (Voll-)Verschleierung geführt worden sei, erlaubt nicht den Schluss auf einen gezielten Eingriff in die Religionsfreiheit durch die allgemein formulierte Regelung.
120
Das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot fügt sich zudem nahtlos in das auch im Übrigen im Verordnungswege geregelte Verkehrsordnungsrecht ein. Die gesetzliche Ermächtigung in § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG a. F. wird als Ermächtigung zur Regelung der Abwehr von typischen Gefahren, die vom Straßenverkehr ausgehen und die dem Straßenverkehr von außen oder durch Verkehrsteilnehmer (nunmehr inhaltlich entsprechend § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StVG) erwachsen, in ihrer Gesamtheit verstanden.
121
Vgl. etwa BGH, Urteil vom 18. November 2003 ‑ VI ZR 385/02 -, juris Rn. 13, m. w. N. (zur StVO).
122
Verkehrsregelnde Eingriffe werden in ständiger Praxis durch Verordnung des mit entsprechender Expertise ausgestatteten Bundesverkehrsministeriums - mit Zustimmung des Bundesrates - erlassen. Auch zum jeweiligen Erlasszeitpunkt verfassungsrechtlich kontrovers diskutierte Entscheidungen wie die Gurtpflicht in Kraftfahrzeugen oder die Helmpflicht für Kraftradfahrer,
123
vgl. dazu König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 21a StVO Rn. 2, mit weitergehendem Verweis auf die Vorauflagen,
124
sind in der Straßenverkehrsordnung geregelt, ohne dass das Bundesverfassungsgericht dies mit Blick auf den Wesentlichkeitsgrundsatz bemängelt hätte.
125
Vgl. jeweils ohne besondere Problematisierung zu § 21a Abs. 1 StVO, BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 1986 - 1 BvR 331/85 u. a. -, NJW 1987, 180, und § 21a Abs. 2 StVO, BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1982 - 1 BvR 1295/80, 1 BvR 201/81, 1 BvR 881/81, 1 BvR 1074/81, 1 BvR 1319/81 -, juris.
126
Angesichts der insgesamt geringen Anzahl der eine religiös begründete Vollverschleierung (Burka oder Niqab) praktizierenden Frauen in Deutschland liegt darüber hinaus die Annahme fern, dass es sich um eine Regelung mit wesentlicher Bedeutung für die Verwirklichung von Grundrechten oder das Zusammenleben in der Gesellschaft handeln könnte. Die Zahl der Frauen, die in Deutschland eine Vollverschleierung tragen, lässt sich nicht exakt bestimmen. Auch wenn diese im Zuge der Migration aus mehrheitlich muslimisch geprägten Staaten zugenommen haben mag, dürfte sie weiterhin in einem gemessen an der Gesamtbevölkerung sehr niedrigen Bereich liegen.
127
Vgl. dazu Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Verbot der Vollverschleierung in Staaten der EU (WD 2 - 3000 - 094/17), S. 6.
128
Der Einwand der Klägerin, dass § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG a. F. gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG verstoße, da er das Ausmaß der erteilten Ermächtigung nicht bestimme, greift demnach ebenfalls nicht durch. Denn ‑ wie oben ausgeführt ‑ konkretisiert Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG (lediglich) die Anforderungen des Wesentlichkeitsgrundsatzes. Mit der Erfüllung der durch den Wesentlichkeitsgrundsatz aufgestellten Anforderungen ist auch das Ausmaß der erteilten Ermächtigung hinreichend bestimmt.
129
bb. Mit der Glaubensfreiheit in Widerstreit tretende Verfassungsgüter, deren Schutz § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO dient, sind die Grundrechte Dritter auf Leben, körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) sowie die allgemeine Sicherheit des Straßenverkehrs als Gemeinschaftswert von Verfassungsrang.
130
cc. Die Regelung in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO ist verhältnismäßig. Sie verfolgt den legitimen Zweck, die benannten Verfassungsgüter zu schützen (dazu (1)). Sie ist zur Erreichung dieses Zwecks geeignet (dazu (2)), erforderlich (dazu (3)) und im engeren Sinne verhältnismäßig (dazu (4)).
131
(1) § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO verfolgt den legitimen Zweck, die Verfassungsgüter zu schützen, indem er dazu beiträgt, im Fall automatisiert erfasster Verkehrsverstöße die Identität des verantwortlichen Fahrzeugführers festzustellen (dazu (a)), und Sichtbeschränkungen verhindert (dazu (b)). Die Vorschrift soll hingegen nicht die nonverbale Kommunikation zwischen Verkehrsteilnehmern gewährleisten (dazu (c)).
132
(a) Ausweislich der Verordnungsbegründung verfolgt die Regelung das Ziel, die Erkennbarkeit und damit die Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen zu sichern, um diese bei Verkehrsverstößen heranziehen zu können.
133
Vgl. BR-Drs. 556/17, S. 2, 4, 14 und 28.
134
Der Vorschrift kommt damit (auch) eine präventive Funktion zu. Ein Fahrzeugführer, der damit rechnen muss, dass er auf der Grundlage eines automatisiert gefertigten Lichtbildes für einen von ihm begangenen Verkehrsverstoß zur Verantwortung gezogen wird, wird Verkehrszuwiderhandlungen eher zu vermeiden suchen als derjenige, der sich aufgrund der Verhüllung bzw. Bedeckung seines Gesichts unerkannt im Straßenverkehr bewegt. Mit dieser Zielrichtung dient die Vorschrift der allgemeinen Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer.
135
Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2018 ‑ 1 BvQ 6/18 -, juris Rn. 6; OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 30; Nds. OVG, Beschluss vom 16. April 2021 - 13 MN 158/21 -, juris Rn. 52.
136
(b) Die Regelung dient darüber hinaus auch dem Zweck, eine Beeinträchtigung der Rundumsicht des Fahrers zu verhindern.
137
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2018 ‑ 1 BvQ 6/18 -, juris Rn. 6; noch offen gelassen von OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 74.
138
Sie begegnet der Gefahr, dass eine Gesichtsverhüllung - allein aufgrund ihrer Beschaffenheit oder durch Hinzutreten äußerer Umstände - die Rundumsicht des Fahrers eines Kraftfahrzeugs einschränkt. Im Fall der Verwirklichung dieser Gefahr drohen durch Unfälle unmittelbare Schäden an den hochrangigen Rechtsgütern Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum Dritter. Damit dient die Verbotsvorschrift bei objektiver Betrachtung auch unter diesem Aspekt der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen im Sinne der Verordnungsermächtigung.
139
Der von der Klägerin dagegen erhobene Einwand, dass die Verordnungsbegründung allein auf die Identifizierbarkeit des Fahrers - und nicht auf den Schutz der Rundumsicht - abstelle, greift zu kurz. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass es für die verfassungsrechtliche Prüfung nicht ausschlaggebend ist, ob die maßgeblichen Gründe für eine gesetzliche Neuregelung im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich genannt wurden oder gar den Gesetzesmaterialien zu entnehmen sind. Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Anforderungen des Grundgesetzes nicht verfehlt werden. Allein der Umstand, dass sich der Gesetzgeber möglicherweise über die Gründe für die Einführung oder Änderung einer Regelung keine volle Klarheit verschafft hat, schließt es daher nicht aus, dass es vernünftige und sachliche Gründe für eine Regelung gibt.
140
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. September 2022 - 1 BvR 2380/21, 1 BvR 2449/21 -, juris Rn. 86 f., m. w. N. (zu formellen Gesetzen).
141
Diese Überlegungen gelten auch für Rechtsverordnungen, zumal diese häufig überhaupt nicht begründet werden.
142
Der Zweck, eine Beeinträchtigung der Rundumsicht zu verhindern, drängt sich etwa mit Blick auf das Tragen einer Burka beim Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr geradezu auf. Dagegen spricht auch nicht etwa, dass bereits § 23 Abs. 1 Satz 1 StVO eine Regelung zum Schutz der Sicht des Fahrzeugführers enthält. Zunächst unterstreicht diese Regelung nur, dass der Verordnungsgeber die freie Sicht des Fahrzeugführers im Straßenverkehr auch ausdrücklich schützt. Zudem wird durch den Bezug auf „die Besetzung, Tiere, die Ladung, Geräte oder den Zustand des Fahrzeugs“ deutlich, dass § 23 Abs. 1 Satz 1 StVO die freie Sicht im Hinblick auf die Umgebung des Fahrers sicherstellen soll, während § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO den Fahrer selbst betrifft. Für die Bestimmung des legitimen Zwecks der Regelung ist es zudem irrelevant, ob eine bestimmte Form der Verschleierung im Einzelfall - wie die Klägerin dies für den von ihr getragenen Niqab geltend macht - dieses Risiko (weitgehend) ausschließt.
143
(c) Der Senat geht hingegen - im Gegensatz zum Verwaltungsgericht - nicht davon aus, dass das Gesichtsverhüllungs- und -verdeckungsverbot (auch) den Zweck verfolgt, die nonverbale Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern sicherzustellen.
144
Vgl. bereits OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 36 ff.; kritisch auch Rebler/Huppertz, NZV 2021, 127 (130).
145
Hiergegen spricht, dass die Straßenverkehrsordnung der nonverbalen Kommunikation zwischen Verkehrsteilnehmern durch Mimik keine Bedeutung beimisst und in der Rechtsprechung sogar an die rechtliche Verbindlichkeit von Gesten hohe Anforderungen gestellt werden.
146
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 38; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 8 StVO Rn. 31, m. w. N.
147
Eine nonverbale Kommunikation über die Mimik ist ungeachtet der ohnehin bestehenden Gefahr von Missverständnissen bei den im Straßenverkehr typischen Entfernungen generell und erst recht während der Dunkelheit erheblich einschränkt respektive gänzlich unmöglich. Darüber hinaus müssten konsequenterweise auch Fahrradfahrer dem Anwendungsbereich des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO unterfallen, weil auch sie am Straßenverkehr teilnehmen und unter Umständen nonverbal mit Kraftfahrzeugführern kommunizieren (müssen). Zwar hat der Verordnungsgeber ein umfassendes „Vermummungsverbot“ im öffentlichen Verkehrsraum für alle Verkehrsteilnehmer erwogen, hiervon aber mit dem Hinweis Abstand genommen, dass sowohl der Rad- als auch der Fußverkehr in der Regel keiner automatisierten Kontrolle unterfielen.
148
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 40, unter Bezug auf BR-Drs. 556/17, S. 17.
149
Abgesehen davon bleibt eine nonverbale Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern bei den typischerweise in Betracht kommenden Formen einer Gesichtsverdeckung oder -verschleierung, wie insbesondere dem von der Klägerin getragenen Gesichtsschleier in Form eines Niqab, namentlich durch Gestik (z. B. Handzeichen, unter Umständen ergänzt durch Nicken/Schütteln mit dem Kopf) weiterhin möglich.
150
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 42.
151
Darauf, dass die Mimik als Form der nonverbalen Kommunikation in anderen Lebensbereichen wie etwa im Unterricht an (Hoch‑)Schulen oder in einer Gerichtsverhandlung einen eigenständigen Stellenwert hat, kommt es hier nicht an.
152
(2) Zur Erreichung der genannten legitimen Ziele ist § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO auch geeignet.
153
Der Gesetzgeber verfügt in der Beurteilung der Eignung einer Regelung über eine Einschätzungsprärogative. Verfassungsrechtlich genügt bereits die Möglichkeit, durch die Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen. Der Spielraum des Gesetzgebers bezieht sich insofern auf die Einschätzung und Bewertung der Verhältnisse, der etwa erforderlichen Prognose und der Wahl der Mittel, um seine Ziele zu erreichen. Eine Regelung ist erst dann nicht mehr geeignet, wenn sie die Erreichung des Gesetzeszwecks in keiner Weise fördern kann oder sich sogar gegenläufig auswirkt.
154
St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 29. September 2022 - 1 BvR 2380/21, 1 BvR 2449/21 -, juris Rn. 111, und vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 -, juris Rn. 131; zur Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 - 3 C 8.07 -, juris Rn. 24.
155
Zudem ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, in Ausübung seiner Schutzpflicht schon die Entstehung von Gefährdungslagen zu bekämpfen und auf eine Risikominimierung hinzuwirken. Abstrakt-generelle Normen zur Gefahrenvorsorge sind nicht erst dann gerechtfertigt, wenn ansonsten unmittelbar ein Gefahreneintritt zu besorgen wäre.
156
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 3 C 24.17 -, juris Rn. 22, m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 32.
157
Diesen Anforderungen wird das Verbot gerecht. Auch wenn dem Senat keine konkreten Erkenntnisse über Probleme bei der Identifizierung von verhüllten Personen im Rahmen von automatisierten Verkehrskontrollen oder Unfälle aufgrund beschränkter Rundumsicht vor Einführung des Verbots vorliegen, erscheint es jedenfalls plausibel, dass die Sicherheit des Straßenverkehrs durch die Maßnahme erhöht wird.
158
(3) Das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot im Straßenverkehr ist im verfassungsrechtlichen Sinne auch erforderlich.
159
Eine Regelung ist erforderlich, wenn kein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel zur Verfügung steht. Die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahmen zur Zweckerreichung muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig feststehen. Bei der Einschätzung der Erforderlichkeit verfügt der Gesetzgeber über einen Beurteilungs- und Prognosespielraum. Dieser bezieht sich unter anderem darauf, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren.
160
St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 29. September 2022 - 1 BvR 2380/21, 1 BvR 2449/21 -, juris Rn. 115, und vom 27. April 2022 ‑ 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 187.
161
Ein gleich wirksames, aber mit geringeren Grundrechtseinschränkungen verbundenes Mittel zur Erreichung der hier verfolgten Zwecke steht nicht zur Verfügung.
162
Eine generelle Pflicht für alle Verkehrsteilnehmer, die ein Fahrzeug im Sinne von § 23 Abs. 4 StVO führen, ein Fahrtenbuch zu führen, würde zwar die Aufklärung von Verkehrsverstößen vereinfachen, wäre aber mit weitreichenden Belastungen einer Vielzahl von Betroffenen verbunden. Der darin zu sehende Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit ist ungeachtet aller sonstigen Bedenken jedenfalls kein die Rechtsbetroffenen insgesamt weniger belastendes Mittel zur Erreichung des Normzwecks.
163
Auch bei einer generellen Regelung, nach der ein Fahrtenbuch immer dann zu führen ist, wenn der Fahrzeugführer sein Gesicht verhüllt oder verdeckt, handelt es sich nicht um ein (annähernd) gleich geeignetes Mittel zur Gefahrenabwehr. Zur Gewährleistung der Rundumsicht des Fahrzeugführers wäre eine solche Regelung ohnehin grundsätzlich ungeeignet. Aber auch die Identifizierung von Verkehrsteilnehmern im Rahmen automatisierter Verkehrskontrollen vermag sie nicht in (annähernd) gleicher Weise wie das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot sicherzustellen.
164
Zwar ist auch die Führung eines Fahrtenbuchs eine Maßnahme zur vorbeugenden Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs, die dazu beitragen soll, Verkehrszuwiderhandlungen schon im Vorfeld zu verhindern.
165
Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2015 - 3 C 13.14 -, juris Rn. 19, m. w. N. (zu § 31a StVZO).
166
Als solche besitzt sie aber allein eine geringere Eignung. Wird ein Fahrtenbuch geführt, liegt im Falle eines (erneuten) Verkehrsverstoßes neben dem Fahrtenbucheintrag häufig ein Foto des Fahrzeugführers vor, das einen Abgleich mit der im Fahrtenbuch benannten Person ermöglicht. Mangels Erkennbarkeit fehlt es hingegen im Fall einer verschleierten Person an jeglichem objektiven Anhaltspunkt zur Identifizierung. Das Fahrtenbuch kann im Übrigen - wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat - gar nicht oder unrichtig geführt werden. Zudem eröffnet eine Gesichtsverhüllung auch die vom Fahrtenbuch nicht verhinderte Möglichkeit, dass eine beliebige Person eine Verkehrszuwiderhandlung auf sich nimmt, die sie gar nicht begangen hat, indem sie unüberprüfbar behauptet, der Fahrer (die Fahrerin) unter dem Niqab gewesen zu sein.
167
Vgl. bereits OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 59.
168
Besteht aber eine realistische Aussicht, Sanktionen aufgrund automatisierter Verkehrsüberwachung zu entgehen, ist der präventive Zweck dieser gefährdet. Im Rahmen persönlicher Kontrollen dürfte es zudem gewissen praktischen Schwierigkeiten begegnen, die Identität des Fahrers und die korrekte Führung des Fahrtenbuchs zu überprüfen, denn auch dies würde die Aufhebung der Verschleierung voraussetzen. Ein möglicher Missbrauch dürfte letztlich kaum festzustellen sein. Insofern führt auch der Hinweis der Klägerin auf die Aufnahme eines Widerrufsvorbehalts nicht weiter. Inwieweit diesen Gefahren durch individuelle Auflagen effektiv begegnet werden kann, ist eine Frage des jeweiligen Einzelfalls, stellt aber nicht die Wirksamkeit der Verordnungsregelung in Frage.
169
Entsprechendes gilt erst recht für die von der Klägerin vorgeschlagene individuelle Ausgestaltung der Verschleierung (mit Initialen o. Ä.). Derartiges ist nicht geeignet, den genannten Gefahren wirkungsvoll zu begegnen. So ist schon nicht klar, wie Kleidungsstücke unverwechselbar individualisiert werden sollten. Bestimmte Initialen ließen sich etwa an beliebig vielen Kleidungsstücken anbringen. Unabhängig davon lässt sich selbst von einem eindeutig identifizierbaren Kleidungsstück nicht sicher auf dessen Träger schließen.
170
(4) Die Regelung ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne.
171
Dies erfordert, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen dürfen. Angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinne ist eine gesetzliche Regelung dann, wenn bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt wird. Dabei ist ein angemessener Ausgleich zwischen dem Eingriffsgewicht der Regelung und dem verfolgten gesetzgeberischen Ziel sowie der zu erwartenden Zielerreichung herzustellen.
172
St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 29. September 2022 - 1 BvR 2380/21, 1 BvR 2449/21 -, juris Rn. 119, und vom 21. März 2018 - 1 BvF 1/13 -, juris Rn. 49.
173
Danach bestehen keine Bedenken dagegen, dass der Verordnungsgeber sich bei der Abwägung der geschützten Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum von Verkehrsteilnehmern bzw. allgemein der Sicherheit im Straßenverkehr auf der einen Seite und der Religionsfreiheit auf der anderen Seite zu einem grundsätzlichen Verbot der Verhüllung und Verdeckung beim Führen eines Kraftfahrzeugs im Sinne von § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO im Straßenverkehr entschieden hat.
174
Die der Argumentation der Klägerin zugrundeliegende Auffassung, dass die Glaubensfreiheit die im vorliegenden Fall kollidierenden Verfassungsgüter grundsätzlich überwiege, ist in dieser Allgemeinheit unzutreffend. Ein Grundrechtskonflikt ist unter Abwägung aller Umstände nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz aufzulösen. Das erfordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren. Die kollidierenden verfassungsrechtlichen Positionen sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, dass sie möglichst weitgehend wirksam werden. Ist ein solcher Ausgleich nicht erreichbar, ist unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten hat.
175
Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 9. Mai 2016 - 1 BvR 2202/13 -, juris Rn. 67, m. w. N.
176
Ein genereller abstrakter Vorrang bestimmter Grundrechte unabhängig von der jeweiligen Betroffenheit besteht - mit Ausnahme der Menschenwürde - hingegen nicht.
177
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts obliegt die Auflösung eines normativen Spannungsverhältnisses zwischen kollidierenden Verfassungsgütern dabei zuvörderst dem demokratischen Gesetzgeber. Der Staat muss aber, zumal bei einem weitgehend vorbeugend wirkenden Verbot äußerer religiöser Bekundungen, ein angemessenes Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und der Schwere des Eingriffs einerseits und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe andererseits wahren. Der Glaubensfreiheit kommt hierbei ein hoher Wert zu, zumal sie in enger Verbindung mit der Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte steht und wegen ihres Ranges extensiv ausgelegt werden muss. Folglich wird die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Entscheidung eingehend gerichtlich kontrolliert. Der Gesetzgeber verfügt allerdings für die Beurteilung der tatsächlichen Gegebenheiten und Entwicklungen, von der abhängt, ob Werte von Verfassungsrang die in Rede stehende Regelung rechtfertigen, weiterhin über eine Einschätzungsprärogative.
178
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17 -, juris Rn. 101, m. w. N.
179
Unterliegt die jeweilige Entscheidung - wie hier (siehe oben, unter A.II.2.b.aa.) - nicht dem Parlamentsvorbehalt, obliegt die Einschätzung dem Verordnungsgeber.
180
Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 - 3 C 8.07 - juris Rn. 24.
181
Bei der Abwägung der widerstreitenden Verfassungsgüter ist vorliegend festzustellen, dass der Eingriff in die Religionsfreiheit nicht besonders schwer wiegt. Denn durch das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot wird niemand unmittelbar an der Praktizierung seines Glaubens gehindert. Bei Befolgung der von ihr als verbindlich empfundenen Bekleidungsvorschriften muss die betroffene Person lediglich auf das Führen eines (geschlossenen) Kraftfahrzeugs verzichten. Das Führen eines Kraftfahrzeugs ist eine zwar weitverbreitete und übliche Art der Fortbewegung und wird deshalb von Vielen als selbstverständlich wahrgenommen. Daraus folgt allerdings auch im Lichte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG kein Anspruch, die mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs verbundenen Vorzüge durchweg zu den Bedingungen der individuell als verpflichtend empfundenen Glaubensgebote in Anspruch nehmen zu dürfen. Im Regelfall erfolgt das Führen eines Kraftfahrzeugs im Zusammenhang mit privat veranlassten Fahrten oder um zur Arbeitsstätte und zurück zu gelangen. Insoweit ist das Führen eines Kraftfahrzeugs aber nicht ohne Weiteres zwingend oder alternativlos. Vor diesem Hintergrund steht die betroffene Person nicht in jedem Fall vor einem unausweichbaren Konflikt zwischen der Befolgung eines als verpflichtend empfundenen Glaubensgebots einerseits und der Wahrnehmung anderer, ebenfalls grundrechtlich geschützter Interessen andererseits. Daher ist es ihr nicht grundsätzlich unzumutbar, sich zwischen der Teilnahme am Straßenverkehr als Kraftfahrzeugführerin zu den Bedingungen des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO oder dem unbedingten Befolgen des religiösen Gebots unter Preisgabe der mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs verbundenen Vorteile, aber nicht unter Hinnahme unzumutbarer Nachteile, zu entscheiden. Dieser mittelbare Grundrechtseingriff ist zudem auf den Zeitraum beschränkt, in dem die betroffene Person ein Kraftfahrzeug führen möchte.
182
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 54; zur Helmpflicht für Kraftradfahrer auch BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 3 C 24.17 -, juris Rn. 24.
183
Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass der Eingriff in die Religionsfreiheit sich auch deshalb als verhältnismäßig gering darstelle, weil die Auswirkungen des Verbots innerhalb eines Kraftfahrzeugs infolge der eingeschränkten visuellen Kontaktaufnahmemöglichkeit von außen, insbesondere im fließenden Verkehr, von deutlich geringerem Gewicht seien als außerhalb des Kraftfahrzeugs, begegnet hingegen Bedenken. Sie vermag das Gewicht des Eingriffs in die Religionsfreiheit nicht im Allgemeinen zu verringern. Zwar geht das Verwaltungsgericht zutreffend davon aus, dass Verkehrsteilnehmer in geschlossenen Fahrzeugen einander typischerweise nicht in erster Linie als Person, sondern als anderes Fahrzeug wahrnehmen und die Person des Fahrers in der Wahrnehmung anderer Verkehrsteilnehmer hinter seinem Fortbewegungsmittel zurücktritt, auch wenn dies in bestimmten Verkehrssituationen - zum Beispiel beim Fahrzeugstillstand an Ampeln oder wegen Verkehrsstaus - nur in eingeschränktem Maße gilt.
184
So auch bereits OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 58.
185
Allerdings ist - worauf die Klägerin hinweist - bei der Würdigung des Grundrechtseingriffs maßgeblich auf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers abzustellen (siehe oben, unter A.II.2.a.). Sieht sich eine gläubige Muslimin aus religiösen Gründen zur Vollverschleierung in der Öffentlichkeit (jedenfalls außerhalb ausschließlich von Frauen genutzter Bereiche) verpflichtet, kann eine Verletzung dieser Pflicht nach ihrem Selbstverständnis auch bei vorübergehendem oder begrenzten Blickkontakt gegeben sein.
186
Auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Tiefe des Eingriffs dadurch verringert sei, dass die Bedeckung des Kopfes nicht vollständig verboten sei und etwa der Habit einer Ordensschwester oder das in Form eines Hidschab gebundene Kopftuch nicht verboten seien, ist nach diesem Maßstab jedenfalls missverständlich. Zwar wird die Gruppe der Betroffenen durch diese Beschränkung eng begrenzt. Im Falle einer aus religiösen Gründen Niqab tragenden Muslimin genügt die teilweise Verdeckung des Gesichts aber nach dem maßgeblichen Selbstverständnis den von ihr als verbindlich erachteten religiösen Vorgaben schon grundsätzlich nicht.
187
Der Religionsfreiheit stehen die von § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO geschützten Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum entgegen. Diese sind im Straßenverkehr einer stetigen und potentiell schwerwiegenden Gefährdung ausgesetzt. Um diese so gering wie möglich zu halten, ist der Straßenverkehr zahlreichen Beschränkungen unterworfen, die in ihrer Gesamtheit den Schutz der Rechtsgüter gewährleisten sollen. Wie bereits festgestellt, begegnet der Verordnungsgeber mit der Regelung einer Beeinträchtigung der Schutzgüter präventiv, indem er das individuelle Verfolgungsrisiko im Falle verkehrsgefährdenden Verhaltens (wie etwa Geschwindigkeitsübertretung oder Rotlichtmissachtung) sicherstellt und gefahrbegründende Sichtbehinderungen zu verringern versucht. Da der Verordnungsgeber in Ausübung seiner Schutzpflicht schon die Entstehung von Gefährdungslagen bekämpfen und auf eine Risikominimierung hinwirken darf, bestehen gegen diesen Ansatz keine Bedenken. Dies setzt bei Eignung der Maßnahme zur Risikominimierung auch nicht voraus, dass sich in der Vergangenheit bereits konkrete Schadensfälle ereignet haben, die mit dem Verbot zu verhindern gewesen wären.
188
Der hohe Stellenwert der Identifizierbarkeit des Fahrzeugführers für die Verkehrssicherheit bzw. für die Integrität anderer Verkehrsteilnehmer wird im Übrigen auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten zuständigen Behörden im Zuge der Corona-Pandemie im Rahmen der ihnen obliegenden Abwägungsentscheidung dem Gesundheitsschutz im Einzelfall Vorrang eingeräumt haben und unter Hinweis auf den Opportunitätsgrundsatz (§§ 47, 53 OWiG) von der Verfolgung eines etwaigen bußgeldbewehrten (vgl. § 49 Abs. 1 Nr. 22 StVO i. V. m. Nr. 247a der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV) Verstoßes gegen § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO abgesehen haben. Dies lässt schon aufgrund der damals höchst dynamischen Pandemielage nicht den Schluss zu, dass der allgemeinen Sicherheit des Straßenverkehrs bzw. dem Grundrechtsschutz anderer Verkehrsteilnehmer von vornherein kein gesteigertes Gewicht beigemessen wird.
189
Vgl. bereits OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 63 f., m. w. N.
190
Bei der (abstrakten) Abwägung der betroffenen Verfassungsgüter bestehen letztlich deshalb keine Bedenken gegen die Entscheidung des Verordnungsgebers für das Verbot, weil der gegebenenfalls erforderlichen Berücksichtigung grundrechtlich geschützter Belange durch die Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO Rechnung getragen ist. Durch die den Straßenverkehrsbehörden eingeräumte Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung soll besonderen Ausnahmesituationen Rechnung getragen werden, die bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten und eine unbillige Härte für den Betroffenen zur Folge hätten. Eine das Ermessen eröffnende Ausnahmesituation liegt insbesondere auch dann vor, wenn die Hinderung, das Verbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO zu befolgen, auf religiösen Gründen beruht.
191
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 3 C 24.17 -, juris Rn. 10 ff. (zu § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO).
192
Der hiergegen von der Klägerin vorgebrachte Einwand, dass die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung faktisch unmöglich sei, da die Behörden eine solche durchgehend ablehnten, führt nicht zur Annahme der Verfassungswidrigkeit der Regelung. Die Wirksamkeit der Verordnungsregelung ist unabhängig davon zu beurteilen, ob die Verwaltungspraxis den rechtlichen Vorgaben entspricht. Daher ist es in diesem Zusammenhang nicht von Belang, dass - wie die Sitzungsvertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt hat - in Nordrhein-Westfalen bislang keine Ausnahmegenehmigungen von dem Verbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO erteilt worden sind. Gegen eine möglicherweise rechtsfehlerhafte Behördenentscheidung kann - wie vorliegend mit dem Hilfsantrag - individuell Rechtsschutz in Anspruch genommen werden.
193
Die Einbeziehung sämtlicher Führerscheinklassen führt ebenfalls nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Regelung. Denn es ist schon nicht erkennbar, dass die präventive Wirkung der automatisierten Verkehrsüberwachung bei bestimmten Fahrzeugklassen grundsätzlich ausgeschlossen wäre. So können mit den von der Klägerin benannten Fahrzeugen der Klasse AM, die neben zwei- und dreirädrigen (Klein‑)Krafträdern auch leichte vierrädrige Kraftfahrzeuge umfasst (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 FeV), jedenfalls auch Rotlicht- oder Geschwindigkeitsverstöße begangen werden. Im Übrigen bestehen auch beim Führen dieser Fahrzeuge Gefahren im Falle einer eingeschränkten Rundumsicht.
194
Der Vortrag der Klägerin, dass in der gesetzlichen Regelung des § 1631d BGB zum Ausdruck komme, dass der Gesetzgeber in der jüngeren Vergangenheit (muslimischen) religiösen Geboten und Traditionen eine besonderes hohe Wertigkeit auch gegenüber den Rechtsgütern Leben und körperliche Unversehrtheit einräume, ist für die hier vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung ohne Belang. Es besteht kein an den Gesetz- bzw. Verordnungsgeber gerichtetes verfassungsrechtliches Gebot, die erforderliche Abwägung kollidierender Rechtsgüter in verschiedenen Lebensbereichen durchgehend konsistent vorzunehmen. Vor allem aber reduziert die Argumentation zum (abstrakten) Überwiegen einzelner Grundrechte gegenüber anderen die Komplexität der vorzunehmenden Abwägung in unzulässiger Weise, indem sie die jeweilige Eingriffsintensität vollständig außer Acht lässt.
195
B. Die Verpflichtungsklage hat nur bezüglich des darin enthaltenen Bescheidungsbegehrens Erfolg (dazu I.). Der Antrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung der begehrten Ausnahmegenehmigung ist hingegen mangels Spruchreife im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO unbegründet (dazu II.).
196
I. Die Klägerin hat gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Antrags auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Verbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO. Der Ablehnungsbescheid der Bezirksregierung vom 6. Oktober 2020 in Gestalt der Ergänzung vom 28. Juni 2024 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
197
1. Als Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Ausnahmegenehmigung kommt nur § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO in Betracht. Danach können die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen von allen Vorschriften der Verordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen.
198
2. Die Klägerin erfüllt die formellen Genehmigungsvoraussetzungen. Insbesondere hat sie sich mit ihrem Antrag an die Bezirksregierung vom 14. Februar 2020 an die zuständige Behörde gewandt. Gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO genehmigen die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein. Nach § 11 Abs. 7 der Verordnung über Zuständigkeiten im Bereich Straßenverkehr und Güterbeförderung des Landes NRW sind die Bezirksregierungen (vorbehaltlich spezieller, hier nicht einschlägiger Regelungen) für die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen nach § 46 Absatz 2 Satz 1 StVO zuständig, wobei örtlich zuständig die Bezirksregierung ist, in deren Bezirk die Antragstellerin oder der Antragsteller ihren oder seinen Wohnort oder ihren oder seinen Sitz hat. Dies ist für die Klägerin - unabhängig vom Wechsel ihres Wohnortes von F. nach C. im Laufe des gerichtlichen Verfahrens - die Bezirksregierung Düsseldorf.
199
3. Die Klägerin hat aufgrund ihres Antrags auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung dieses Antrags, der noch nicht erfüllt ist, weil die Bezirksregierung den Antrag ermessensfehlerhaft abgelehnt hat.
200
a) Bei der rechtlichen Überprüfung der behördlichen Ermessensentscheidung geht der Senat von folgenden Grundsätzen aus:
201
aa) Das in § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO enthaltene Merkmal der Ausnahmesituation ist nicht als eigenständige Tatbestandsvoraussetzung verselbständigt, sondern Bestandteil der der Behörde obliegenden Ermessensentscheidung über die Erteilung der Ausnahmegenehmigung. Das entspricht der allgemeinen Konzeption derartiger Ausnahmevorschriften. Denn die Feststellung, ob ein besonderer Ausnahmefall vorliegt, setzt den gewichtenden Vergleich der Umstände des konkreten Falles mit dem typischen Regelfall voraus, der dem generellen Verbot zugrunde liegt.
202
Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. März 1997 - 3 C 5.97 -, juris Rn. 25; OVG NRW, Urteil vom 12. Mai 2000 - 8 A 2698/99 -, juris Rn. 18.
203
Durch die den Straßenverkehrsbehörden eingeräumte Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung soll besonderen Ausnahmesituationen Rechnung getragen werden, die bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten und eine unbillige Härte für den Betroffenen zur Folge hätten.
204
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 3 C 24.17 -, juris Rn. 11 (zu § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO).
205
Das Vorliegen einer Ausnahmesituation eröffnet die Ermessensentscheidung der Straßenverkehrsbehörde. Diese zieht aber allein noch keinen unmittelbaren Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach sich; die Entscheidung hierüber verbleibt gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO vielmehr im Ermessen der Straßenverkehrsbehörde.
206
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 3 C 24.17 -, juris Rn. 12 ff. (zu § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO).
207
Weil er sich auf das Vorliegen einer Ausnahme beruft, muss der Antragsteller die Voraussetzungen vortragen, die die Ausnahmesituation belegen; ihm obliegt die Darlegungs- und ggf. Beweislast, um die besondere Situation aufzuzeigen, die eine Ausnahme von dem gesetzlichen Verbot rechtfertigen könnte.
208
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. November 1993 ‑ 13 A 3032/92 -, juris Rn. 4.
209
bb) Die gerichtliche Kontrolle der gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO getroffenen Ermessensentscheidung richtet sich nach § 114 Satz 1 VwGO. Das Gericht hat danach nur zu prüfen, ob die Verwaltung den ihr eingeräumten Ermessensspielraum ausgeschöpft hat, ob sie die gesetzlichen Grenzen der Ermessensbetätigung überschritten hat und ob sie die nach dem Zweck der Ermessensermächtigung für die Entscheidung relevanten Gesichtspunkte bei ihrer Entscheidung berücksichtigt hat (vgl. § 40 VwVfG NRW). Es darf die getroffene Entscheidung nur anhand derjenigen Erwägungen überprüfen, die die Behörde tatsächlich angestellt hat, wozu auch in Einklang mit § 114 Satz 2 VwGO nachgeschobene Erwägungen zählen.
210
Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Mai 2016 - 10 C 8.15 -, juris Rn. 13.
211
b) Diesen Maßgaben folgend weist die Ablehnungsentscheidung der Bezirksregierung vom 6. Oktober 2020 auch unter Berücksichtigung der ergänzenden Erwägungen vom 28. Juni 2024 Ermessensfehler auf.
212
aa) Dabei bezweifelt die Bezirksregierung ausweislich der ermessensergänzenden Ausführungen in ihrem Schriftsatz vom 28. Juni 2024 allerdings zu Recht nicht mehr, dass im Falle der Klägerin eine das Ermessen eröffnende Ausnahmesituation vorliegt. Das Verdeckungs- und Verhüllungsverbot stellt einen Eingriff in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit der Klägerin nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dar. Wie bereits ausgeführt, unterfällt das Tragen eines Niqab in der Öffentlichkeit aus religiösen Gründen grundsätzlich dem Schutzbereich der Glaubensfreiheit (siehe oben, A.II.2.a.). Der Senat ist nach dem Vortrag der Klägerin und dem Eindruck, den er in der mündlichen Verhandlung von ihr gewinnen konnte, auch davon überzeugt, dass die Klägerin aufgrund ihres Religionsverständnisses das Tragen eines Niqab in Gegenwart männlicher Personen, die nicht zum engen Familienkreis zählen, als für sich verpflichtend ansieht und sich in allen Lebensbereichen danach richtet - dass ihr Bedürfnis, sich auch beim Führen eines Kraftfahrzeugs mit einem Niqab zu verschleiern, also glaubensgeleitet ist.
213
Die Klägerin hat etwa in ihren eidesstattlichen Versicherungen vom 10. November 2020 und vom 16. Dezember 2020 erläutert, dass sie den Niqab aus einem inneren Antrieb heraus trage, um ihren ganzen Körper bis auf die Augen vor den Blicken fremder Männer zu schützen, die sie auch in einem Auto sehen könnten. In der mündlichen Verhandlung vom 5. Juli 2024 hat sie ferner die Situationen, in denen sie sich verschleiert, beschrieben und anschaulich ihren praktischen Umgang mit der Verschleierung, etwa im Falle unerwarteten Klingelns an der Tür, erläutert. Anhaltspunkte dafür, dass die geltend gemachte religiöse Prägung nur vorgeschoben sein könnte, um sich automatisierten Kontrollen im Straßenverkehr zu entziehen, sind nicht ersichtlich, zumal die Klägerin vorgetragen hat, dass sie als bedeckte Muslimin in der Öffentlichkeit ‑ wie auch entsprechend gekleidete Freundinnen ‑ schon mehrmals aufgrund ihrer Kleidung verbal und körperlich angegriffen worden sei.
214
bb) Ermessensfehlerhaft ist aber mit Blick auf den Zweck des gesetzlichen Verbots (siehe oben, unter A.II.2.b.cc.(1)(c)) die Annahme, dass das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot auch der Gewährleistung der nonverbalen Kommunikation im Straßenverkehr diene. Die Klarstellung, dass die Annahme nicht Kern der Ermessenserwägungen für die Ablehnung sei, sondern diese (nur) zusätzlich stütze, führt im vorliegenden Fall nicht zur Unbeachtlichkeit der fehlerhaften Erwägung. Die Bezirksregierung hält in den ergänzenden Ermessenserwägungen vom 28. Juni 2024 - und ebenso die Sitzungsvertreterin in der mündlichen Verhandlung - weiterhin ausdrücklich daran fest, dass (auch) die Gewährleistung der nonverbalen Kommunikation der Sicherheit des Straßenverkehrs dienen solle. Die Abwägung der - von der Behörde so umfassend verstandenen - Sicherheit des Straßenverkehrs als Gemeinschaftswert von Verfassungsrang mit der Religionsfreiheit der Klägerin stellt den Kern der Ermessensentscheidung dar. Ein in diese zentrale Abwägungsentscheidung eingestellter, das Ergebnis ausdrücklich zusätzlich stützender Belang kann bei der Überprüfung dieser Abwägung auf Ermessensfehler nicht außer Betracht bleiben. Es handelt sich nicht lediglich um eine das Ergebnis nicht selbständig tragende und daher hinwegzudenkende Alternativbegründung.
215
cc) Die Ablehnung der Ausnahmegenehmigung mit der Begründung, dass die ungehinderte Rundumsicht nicht gewährleistet sei, ist ebenfalls ermessensfehlerhaft. Sie lässt die gebotene Auseinandersetzung mit dem Einzelfall der Klägerin vermissen. Die Bezirksregierung beruft sich im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung auf eine Einschränkung der Rundumsicht, ohne in geeigneter Weise überprüft zu haben, ob eine solche bei der Klägerin überhaupt vorliegt. Im Anhörungsschreiben vom 1. April 2020 bat sie zwar um Darlegung, wie die ungehinderte Rundumsicht gewährleitet sei, erläuterte aber nicht, wie diese Darlegung - über die von der Klägerin bereits vorgelegten Bilder hinaus - erfolgen könnte. Nachdem die Klägerin darauf nicht reagiert hatte, begründete die Bezirksregierung ihre Ablehnungsentscheidung vom 6. Oktober 2020 ohne weitere Aufklärungsbemühungen damit, dass die Frage der Rundumsicht nicht prüffähig sei. Die ergänzenden Ermessenserwägungen der Bezirksregierung vom 28. Juni 2024 stützen sich nun ausdrücklich auch darauf, dass die ungehinderte Rundumsicht von Kfz-Führern gewährleistet sein müsse, wobei es nicht auf die Bindeweise des Niqab ankomme, da diese variieren könne. Dazu erklärte die Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung nach Inaugenscheinnahme des Niqab der Klägerin und deren Erläuterungen zu dessen Beschaffenheit klarstellend, dass die Bedenken hinsichtlich etwaiger Einschränkungen der Rundumsicht weiterbestünden.
216
Dass die Bezirksregierung in ihrem Ablehnungsbescheid in der Fassung der Ergänzung vom 28. Juni 2024 davon ausgeht, jeder Niqab beeinträchtige die Rundumsicht, und an dieser Einschätzung auch festgehalten hat, nachdem sie sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat - im erstinstanzlichen Verfahren hat keine mündliche Verhandlung stattgefunden - einen unmittelbaren Eindruck von der Beschaffenheit, der Befestigung und dem Sitz des von der Klägerin getragenen Niqab hat verschaffen können, beruht auf einer unzutreffenden Sachverhaltsannahme.
217
Nach dem Eindruck, den der Senat bei der Inaugenscheinnahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, beeinträchtigt der von der Klägerin zu diesem Zeitpunkt getragene Niqab die Rundumsicht beim Führen eines Kraftfahrzeugs nicht. Der in der Verhandlung getragene Gesichtsschleier ist so gebunden, dass der Stoff nicht in das Blickfeld der Klägerin hineinragt. Die Augenpartie bleibt frei, so dass auch der Blick zur Seite ohne Einschränkung möglich ist. Der Schleier wird durch eine Schleife am Hinterkopf befestigt, die ein Verrutschen grundsätzlich verhindert. Er besteht zudem aus nicht elastischer Seide. Der Senat ist davon überzeugt, dass damit eine Verengung des Blickfelds bei verkehrstypischen Manövern, wie etwa einem Schulterblick oder einem schnellen Blickrichtungswechsel ausgeschlossen ist.
218
Zwar entkräftet dies nicht die Einschätzung der Bezirksregierung, dass das Kleidungsstück aufgrund äußerer Einflüsse (etwa durch gefährliche Verkehrsmanöver oder starken Luftzug) verrutschen und die Sicht der Fahrerin zumindest kurzzeitig behindern könnte. Nach dem Eindruck des Senats in der mündlichen Verhandlung ist jedoch auch ein Verrutschen des - in der Verhandlung getragenen - Niqab in das Blickfeld der Klägerin beim Führen eines Kraftfahrzeugs jedenfalls nicht naheliegend. Die Klägerin vermochte überzeugend darzulegen, dass der Gesichtsschleier aufgrund seiner Länge auch im Falle eines plötzlichen Luftzuges oder ruckartiger Bewegungen nicht in das Blickfeld geraten kann. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass auch etwa bei Brillen-, Mützen-, Kappen- oder Hutträgern im Falle äußerer Einflüsse die Gefahr kurzzeitiger Sichtbehinderungen nie völlig ausgeschlossen werden kann, konnte die Behörde ihre Entscheidung jedenfalls nicht auf diesen - eher fernliegenden - Ausnahmefall stützen.
219
Auf etwaig verbleibende Bedenken, dass sich bei abweichenden Materialien und/oder Bindeweisen Einschränkungen der Rundumsicht ergeben könnten, durfte die Bezirksregierung ihre Ablehnungsentscheidung jedenfalls nicht stützen, ohne zu erwägen, ob diesen Bedenken durch konkretisierende Nebenbestimmungen zu einer Ausnahmegenehmigung Rechnung getragen werden könnte.
220
dd) Darüber hinaus geht die Bezirksregierung von einer falschen Tatsachengrundlage aus, wenn sie in den ergänzenden Ermessenserwägungen vom 28. Juni 2024 darauf abstellt, dass die Klägerin nicht mit einer fahrzeugbezogenen Fahrtenbuchauflage einverstanden sei. Denn die Klägerin hatte bereits mit anwaltlichem Schreiben vom 14. September 2020 ihr Einverständnis mit einer Genehmigung unter einer Fahrtenbuchauflage erteilt. Die Tatsache, dass dies „[l]ediglich äußerst hilfsweise“ erfolgte, wie die Vertreterin des Beklagten auch in der mündlichen Verhandlung nach Hinweis auf das Vorliegen des Einverständnisses noch einmal betont hat, kann im Rahmen der Ermessensentscheidung nicht zu Lasten der Klägerin in einem dem objektiven Erklärungswert gegenteiligen Sinn gewertet werden. Es liegt auf der Hand, dass ein Antragsteller ein Interesse daran hat, eine begehrte Ausnahmegenehmigung vorzugsweise ohne beschränkende Nebenbestimmungen zu erlangen.
221
Im Rahmen der mit Blick auf das erteilte Einverständnis gebotenen Prüfung kann sich die Behörde auch nicht darauf zurückziehen, dass die Klägerin nicht dargelegt habe, wie Missbrauchsmöglichkeiten bei der Führung eines Fahrtenbuchs entgegenzuwirken wäre. Erwägungen dazu, ob und gegebenenfalls welche Nebenbestimmungen zur Sicherstellung des Genehmigungsfähigkeit geeignet sein können, obliegen der Behörde und sind letztlich Teil der von ihr zu treffenden Ermessensentscheidung. § 46 Abs. 3 Satz 1 StVO sieht ausdrücklich vor, dass die Ausnahmegenehmigung unter dem Vorbehalt des Widerrufs erteilt und mit Nebenbestimmungen (Bedingungen, Befristungen, Auflagen) versehen werden kann. Dass es dabei im Fall einer Fahrtenbuchauflage als Nebenbestimmung nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 31a Abs. 1 StVZO ankommt, hat die Behörde letztlich erkannt.
222
Bei der Berufung auf eine Missbrauchsgefahr wäre die Behörde zudem gehalten, tatsächliche Anhaltspunkte für eine solche aufzuzeigen. Zwar setzt die von der Klägerin vorgeschlagene Führung eines Fahrtenbuchs ein hohes Maß an Zuverlässigkeit auf ihrer Seite voraus. Denn ein Fahrtenbuch kann entweder gar nicht oder unrichtig geführt werden. Zur Beurteilung, ob diese Zuverlässigkeit gegeben ist, läge es jedoch nahe, jedenfalls auch das bisherige (Verkehrs-)Verhalten der Klägerin - etwa durch Beiziehung eines Auszugs aus dem Fahreignungsregister (§ 28 StVG) und eine Nachfrage bei der örtlichen Straßenverkehrsbehörde - in den Blick zu nehmen. Dies ist offenkundig nicht geschehen.
223
ee) Mit den oben dargelegten, aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG folgenden rechtlichen Vorgaben für die im Rahmen der Ermessensentscheidung vorzunehmende Abwägung ist auch nicht zu vereinbaren, wenn die Bezirksregierung darauf verweist, dass die Schwere des Eingriffs in die Religionsfreiheit der Klägerin dadurch verringert werde, dass die Auswirkungen des Verbots infolge der eingeschränkten visuellen Kontaktaufnahme jedenfalls von geringerem Gewicht als außerhalb eines Kfz seien. Vielmehr ist auch diesbezüglich auf das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers abzustellen (siehe oben, unter A.II.2.b.cc.(4)). Nach dem Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vermittelte, sieht diese sich religiös verpflichtet, auch eine kurzzeitige visuelle Kontaktaufnahme mit männlichen Personen, die nicht zur engeren Familie gehören, zu verhindern. Dies ließ sich etwa ihrer Schilderung dazu entnehmen, dass und wie sie bei unerwartetem Klingeln an der Tür einen Schleier anlegt.
224
ff) Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Vortrag des Beklagten, wonach die Klägerin alternativ im Straßenverkehr ein Motorrad nutzen könne, für das das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot nach § 23 Abs. 4 Satz 2 StVO nicht gelte, nicht geeignet ist, die Identifizierung der Klägerin im Falle eines automatisiert erfassten Verkehrsverstoßes zu ermöglichen.
225
II. Dem Antrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung der Ausnahmegenehmigung kann aber nicht entsprochen werden, weil die Sache nicht im Sinne von § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO spruchreif ist. Die Voraussetzungen einer Reduzierung des dem Beklagten eingeräumten Ermessens auf Null liegen nicht vor.
226
Nach der - verfassungsrechtlich unbedenklichen (siehe oben, A.II.2.) - Grundentscheidung des Verordnungsgebers in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO soll, wer sein Gesicht so verhüllt oder verdeckt, dass er nicht mehr erkennbar ist, kein Kraftfahrzeug führen. Nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO können die zuständigen Behörden unter anderem von diesem Verbot Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen.
227
Eine Reduzierung des damit eröffneten Ermessens kommt nur in engen Ausnahmefällen in Betracht. Sie setzt voraus, dass nach Lage der Dinge alle denkbaren Alternativen offenkundig nur unter pflichtwidriger Vernachlässigung eines eindeutig vorrangigen Sachgesichtspunkts gewählt werden können.
228
Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Mai 2016 - 5 C 36.15 -, juris Rn. 31.
229
Ein Anspruch auf Befreiung von dem Verbot durch eine Ermessensreduzierung auf Null kann allenfalls dann bestehen, wenn dem Betroffenen (auch) der Verzicht auf das Führen eines Kraftfahrzeugs aus besonderen individuellen Gründen nicht zugemutet werden kann. Ist der Betroffene auf die Nutzung eines Kraftfahrzeugs nicht angewiesen, überwiegt sein individuelles Interesse am Führen eines Kraftfahrzeugs das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Verbots hingegen nicht zwingend.
230
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 3 C 24.17 -, juris Rn. 15 (zu § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO).
231
Dieser vom Bundesverwaltungsgericht zu § 46 StVO im Zusammenhang mit der Helmpflicht für Motorradfahrer nach § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO entwickelte Maßstab ist trotz der erheblich größeren praktischen Bedeutung der Nutzung eines (geschlossenen) Kraftfahrzeugs gegenüber der Motorradnutzung (siehe oben, unter A.II.2.b.aa.) auch auf das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot übertragbar. Die Grundentscheidung für diesen weitergehenden Eingriff hat der Verordnungsgeber bereits getroffen, indem er durch § 23 Abs. 4 StVO die Nutzung (geschlossener) Kraftfahrzeuge reglementiert hat. Die Einschränkung der Kraftfahrzeugnutzung stellt deshalb gerade den Regelfall dar. Die Behörde hat im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO hingegen nur besonderen Ausnahmesituationen Rechnung zu tragen.
232
Die Religionsfreiheit der Klägerin und die von ihr darüber hinaus angeführten Gründe, warum ihr der Verzicht auf das Führen eines Kraftfahrzeugs nicht zugemutet werden könne, stellen jedoch im Verhältnis zum öffentlichen Interesse an der Einhaltung des Verdeckungs- und Verhüllungsverbots sowohl isoliert betrachtet als auch bei einer Gesamtabwägung keine besonderen individuellen Gründe dar, die vorliegend dazu führen, dass das der Bezirksregierung zustehende Ermessen auf Null reduziert und die Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung die einzig rechtmäßige Entscheidung ist (dazu 1.). Es besteht auch keine Verpflichtung zur Erteilung der Genehmigung mit bereits im gerichtlichen Verfahren eindeutig bestimmbaren Nebenbestimmungen, etwa durch eine Fahrtenbuchauflage (dazu 2.).
233
1. Die neben der Glaubensfreiheit vorgebrachten Gründe, warum die Klägerin ein Kraftfahrzeug führen will, die diese teilweise erstmals während des Klageverfahrens vorgetragen hat, reduzieren das der Behörde nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO zustehende Ermessen nicht auf Null.
234
Nach der behördlichen Ermessensentscheidung eingetretene Umstände sind im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung über eine Ermessensreduzierung zu berücksichtigen. Im Rahmen der Verpflichtungsklage ist für die Entscheidung grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz abzustellen. Entsprechendes gilt für die Prüfung, ob aufgrund einer Ermessensreduzierung ein Anspruch besteht.
235
Vgl. BVerwG, Urteile vom 28. März 2023 - 1 C 40.21 -, juris Rn. 14, 18, 32, und vom 21. Januar 1992 - 1 C 49.88 -, juris Rn. 19; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 44. EL März 2023, § 113 VwGO Rn. 268.
236
Die Klägerin hat erstmals im Klageverfahren angegeben, dass sie ein Kraftfahrzeug zur Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit benötige, da sie als Wellnessmasseurin Hausbesuche mache und dabei eine Massageliege und weiteres Zubehör mitführe.
237
Zwar wäre unter Berücksichtigung des Art. 12 Abs. 1 GG, auf den sich die Klägerin als deutsche Staatsangehörige berufen kann, eine beruflich bedingte Angewiesenheit auf das Führen eines Kraftfahrzeugs bei der Ermessensentscheidung abwägungsrelevant. Das Vorbringen der Klägerin zu ihrer beruflichen Tätigkeit kann aber schon deshalb nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen, weil auch zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung trotz vorhergehender gerichtlicher Aufklärungsverfügungen nicht zur Überzeugung des Senats feststeht, dass und in welchem Umfang die Klägerin zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit auf ein Kraftfahrzeug angewiesen ist. Obwohl die Klägerin für das Vorliegen der Voraussetzungen der sie begünstigenden Ausnahmegenehmigung darlegungspflichtig ist, blieb ihr diesbezüglicher Vortrag unbestimmt und lückenhaft.
238
Die im Berufungsverfahren vorgelegte Gewerbeanmeldung vom 20. Dezember 2021 bezieht sich auf die Anmeldung einer Tätigkeit im Nebenerwerb und nennt die Wohnanschrift der Klägerin als Betriebsstätte.
239
Trotz ausdrücklicher Aufforderung mit gerichtlicher Verfügung vom 30. April 2024 zur Vorlage geeigneter Nachweise zum Umfang der angegebenen beruflichen Tätigkeit (bspw. Steuerbescheid, Bilanz, Einnahmenüberschussrechnung) und den in diesem Zusammenhang zurückzulegenden Wegstrecken (bspw. Terminkalender, Kundenbücher, Fahrtenbücher) reichte die Klägerin unter dem 15. Mai 2024 lediglich eine - augenscheinlich selbst erstellte - Aufstellung ihrer Einnahmen und Ausgaben für das Jahr 2023 ein. Diese weist Gesamteinnahmen von 7.733,- Euro und Ausgaben von 39.746,27 Euro aus, welche die Klägerin erst in der mündlichen Verhandlung auf 3.499,24 Euro korrigierte. Die Einnahmen werden unter Angabe des Datums, des Kundennamens (Vorname und Anfangsbuchstabe des Nachnamens) und der jeweiligen Dienstleistung aufgelistet. Angaben zum Ort der jeweiligen Tätigkeit enthält die Tabelle hingegen nicht. Die Ausgaben werden ebenfalls mit Datum, Empfänger und Grund angegeben. Sie bleiben jedoch in Teilen nicht nachvollziehbar. So ist etwa unklar, warum die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung als laufende Kosten nur für die Monate Juli bis Oktober angegeben sind. Auf den entsprechenden Hinweis des Gerichts vom 22. Mai 2024 reagierte die Klägerin nicht. Die (erneute) Aufforderung zur Vorlage von Belegen (Steuerbescheide bzw. ‑meldungen, ergänzende Leistungsbescheide o. Ä.) blieb ebenso wie die Nachfrage nach Angaben zu den Jahren 2022 und 2024, mit Ausnahme eines in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Gewerbesteuermessbetragsbescheides für das Jahr 2022, unbeantwortet. Der aus diesem Bescheid ersichtliche Jahres-Gewinn von 1.307,‑ Euro belegt allenfalls einen Umfang der gewerblichen Tätigkeit, der sich nicht ernstlich von einem Hobby unterscheidet, gibt aber keine Auskunft zu etwaigen Hausbesuchen.
240
Auch die mit Schriftsatz vom 27. Februar 2024 eingereichten Fotoaufnahmen lassen keine Rückschlüsse darauf zu, dass die Klägerin auf das Führen eines Kraftfahrzeugs zur Ausübung ihres Berufs angewiesen ist. Die Fotos zeigen nach den Angaben der Klägerin ihre Arbeitsutensilien in einem Auto: ein größeres und im Verhältnis zu seiner Größe eher flaches Behältnis, das von der Vorderkante des Rücksitzes bis an die hinteren Kopfstützen reicht, und einen Koffer, der vom Boden vor dem Beifahrersitz bis über den Sitz ragt. Die Fotoaufnahmen erlauben aber keine Rückschlüsse auf eine außerhäusliche Tätigkeit der Klägerin.
241
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin angegeben, dass sie die Tätigkeit als Wellnessmasseurin während ihrer Ehe bislang „nur nebenbei“ ausgeübt habe. Aufgrund dieser Angabe und der fehlenden aussagekräftigen Unterlagen zur beruflichen Tätigkeit deutet Überwiegendes darauf hin, dass die Klägerin die Tätigkeit bislang nur bei Gelegenheit ausgeübt hat und nicht, um damit ihren Lebensunterhalt zu sichern. Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass sie für diese Tätigkeit auf ein Kraftfahrzeug angewiesen war. Zwar sind die Aussagen der Klägerin dahingehend, dass sie die Tätigkeit als Wellnessmasseurin nach der soeben erst erfolgten Scheidung von ihrem Ehemann nunmehr ausbauen möchte und dass sie bislang mangels Vorliegens einer Genehmigung zum Tragen eines Niqab beim Führen eines Kraftfahrzeugs im Sinne von § 23 Abs. 4 StVO Hausbesuche nur in begrenztem Umfang ausgeübt und diese nicht beworben habe, nachvollziehbar. Sie stellen aber zum jetzigen Zeitpunkt bloße Absichtserklärungen dar. Diese sind nicht geeignet, eine besondere Angewiesenheit der Klägerin und eine Ermessensreduzierung auf Null (bereits) zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zu begründen. Anzumerken ist allerdings, dass die Klägerin mit Blick auf Größe und mutmaßliches Gewicht jedenfalls der Massageliege kaum darauf zu verweisen sein wird, diese in öffentlichen Verkehrsmitteln zu transportieren.
242
Die von der Klägerin genannten weiteren Zwecke, zu denen sie ein Kraftfahrzeug führen will (Einkäufe sowie Besuche bei Verwandten oder Freunden), stellen keine besonderen individuellen Gründe dar, aufgrund derer ihr der Verzicht auf das Führen eines Kraftfahrzeugs nicht zugemutet werden kann. Sie belegen keine außergewöhnliche Angewiesenheit der Klägerin auf das Führen eines Kraftfahrzeugs. Die von der Klägerin dagegen erhobenen Einwände greifen nicht durch.
243
Soweit die Klägerin, die sich auch für Erledigungen und in ihrer Freizeit mit Niqab in der Öffentlichkeit aufhält, vorbringt, sie werde aufgrund ihrer Verschleierung angefeindet, diffamiert und beleidigt, hat sie nicht dargelegt, dass dies insbesondere bei der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs erfolgt, den sie durch die Erteilung der begehrten Ausnahmegenehmigung vermeiden könnte. Etwaigen Belästigungen im sonstigen öffentlichen Raum kann durch diese ohnehin nicht effektiv begegnet werden. Die Klägerin, die den Schleier nach eigenen Angaben seit dem Jahr 2007 trägt, hat zuletzt im Rahmen der Berufungsbegründung von vier konkreten Begebenheiten berichtet, bei denen sie aufgrund ihrer Verschleierung belästigt worden sei. Diese hätten sich beim Einkaufen in der Fußgängerzone, bei einem Spaziergang am K. und im F. Hauptbahnhof ereignet. Den vierten Ort hat sie nicht benannt. Auch diese erstmals im Berufungsverfahren präzisierten Angaben sind bei der Prüfung einer Ermessensreduzierung auf Null zu berücksichtigen. Die von der Klägerin benannten Orte eint aber vor allem ein hohes Personenaufkommen. Lediglich der Vorfall im F. Hauptbahnhof könnte mit der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zusammenhängen. Eine besondere Häufung ist hingegen nicht erkennbar. Im Übrigen stellt die Klägerin darauf ab, dass es bekannt sei, dass muslimische Frauen auf offener Straße angegriffen würden, und verweist in diesem Zusammenhang etwa auf Berichte über islamophobe Angriffe. Auch insoweit fehlt es aber an einem Zusammenhang mit der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs.
244
Die Durchführung von Wocheneinkäufen, Familienbesuche in N. sowie Freundesbesuche in schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbaren Gegenden betreffen den gesellschaftlich grundsätzlich anerkannten Bedarf an individueller Mobilität. Dieser führt schon deshalb im Rahmen der Entscheidung über die Ausnahmegenehmigung nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null, weil nach dem Vortrag der Klägerin kein Anlass besteht, anzunehmen, dass sich der dadurch ggf. erhöhte Zeitaufwand von demjenigen anderer Verkehrsteilnehmer maßgeblich unterscheidet. Die Klägerin kann statt eines großen Wocheneinkaufs häufigere, kleinere Einkäufe erledigen. Familie und Freunde kann sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln - oder bei geringeren Distanzen mit dem Fahrrad - besuchen.
245
Die von der Klägerin geltend gemachten Rückenschmerzen sind bei der Entscheidung über die Erteilung der Ausnahmegenehmigung nicht zu berücksichtigen. Diesbezüglich fehlt es weiterhin an jeglichem Nachweis. Es erscheint aber auch angesichts der Wahrnehmung der körperlich fordernden Tätigkeit als Masseurin fernliegend, dass die Klägerin gesundheitlich so eingeschränkt sein könnte, dass sie deswegen auf die Nutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen wäre.
246
Ausgehend vom Vorstehenden begründen die Religionsfreiheit und die weiteren von der Klägerin angeführten Gründe kein so starkes individuelles Interesse am Führen eines Kraftfahrzeugs, dass dieses das öffentliche Interesse an der Einhaltung des in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO angeordneten Verbots zwingend überwiegt. Aus Art. 9 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt sich kein weiterreichender Schutz der Religionsfreiheit.
247
Vgl. EGMR, Urteile vom 1. Juli 2014 - 43835/11 -, NJW 2014, 2925, und vom 11. Juli 2017 ‑ 37798/13 -, NVwZ 2018, 1037.
248
2. Die Bezirksregierung ist auch nicht verpflichtet, die beantragte Ausnahmegenehmigung mit bestimmten Nebenbestimmungen, wie etwa der Beschränkung auf das eigene Kraftfahrzeug der Klägerin und der Auflage zum Führen eines Fahrtenbuchs, zu erteilen, weil das der Behörde bei der Auswahl von Nebenbestimmungen zustehende Ermessen sich hier nicht auf eine einzige rechtlich zulässige Entscheidung verdichtet hat.
249
Zwar kann sich aus dem Verbot des Übermaßes auch ergeben, dass die Genehmigungsbehörde statt zur Versagung der Genehmigung zu ihrer Erteilung unter Nebenbestimmungen verpflichtet ist. Insofern bedarf es nicht zwingend einer expliziten Beantragung bei der Behörde, da die Erteilung unter Nebenbestimmungen bereits als Minus vom Antrag umfasst ist.
250
Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1994 - 4 C 4.92 -, juris Rn. 16, 19, m. w. N.
251
Dabei hat sich die Nebenbestimmung stets am Zweck des Hauptverwaltungsakts zu orientieren (vgl. § 40 VwVfG NRW, wonach das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben ist). Eine Verpflichtung zum Erlass einer bestimmten Nebenbestimmung etwa zur Vermeidung einer ablehnenden Entscheidung kann sich aber allenfalls dann ergeben, wenn das Ermessen auf Null reduziert ist.
252
Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2021 - 6 C 8.20 -, juris Rn. 49 (zum Ausgestaltungsspielraum der Bundesnetzagentur); Schröder, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 4. EL November 2023, § 36 VwVfG Rn. 115, 128.
253
Das ist vorliegend schon deshalb nicht der Fall, weil es der Behörde im Rahmen ihrer Ermessensausübung obliegt, konkrete Nebenbestimmungen zu formulieren (vgl. § 46 Abs. 3 Satz 1 StVO), die geeignet sein könnten, dem Zweck des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO unter Berücksichtigung der Religionsfreiheit der Klägerin Rechnung zu tragen. Hierbei sind eine Vielzahl von Bestimmungen denkbar, die von der Behörde auch im Hinblick auf ihre Praktikabilität zu überprüfen sein werden.
254
Das Ermessen der Behörde ist jedenfalls nicht auf die Erteilung der Ausnahmegenehmigung unter den von der Klägerin vorgeschlagenen Nebenbestimmungen der Beschränkung der Befreiung auf konkret benannte Fahrzeuge und der Führung eines Fahrtenbuchs für diese reduziert.
255
Die Eignung der von der Klägerin vorgeschlagenen Nebenbestimmungen zur Gewährleistung des Zwecks des Verhüllungs- und Verdeckungsverbots ist eingeschränkt. Sie vermögen den Zweck, präventiv die Verkehrssicherheit zu erhöhen, indem sie in Fällen automatisiert erfasster Verkehrsverstöße die Identifizierung des Fahrers sicherstellen, jedenfalls nicht in gleichen Maße wie Lichtbilder, auf denen der Fahrer erkennbar ist, zu erfüllen (siehe oben, unter A.II.2.b.cc.(3)).
256
Der in der mündlichen Verhandlung geltend gemachte Einwand, dass die Klägerin aufgrund ihrer Ausnahmestellung als Trägerin eines Niqab beim Führen eines Kraftfahrzeugs besonders leicht zu identifizieren sei und einer Bestrafung im Falle eines automatisiert erfassten Geschwindigkeitsverstoßes deshalb voraussichtlich nicht entgehen könne, greift nicht durch. Zum einen ist davon auszugehen, dass im Falle der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung die Zahl der Interessentinnen steigen würde. Darauf hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin selbst hingewiesen. Zum anderen ist auch denkbar, dass andere verschleierte Personen das Kraftfahrzeug der Klägerin nutzen und sie für diese Sanktionen im Falle eines automatisiert erfassten Verkehrsverstoßes übernimmt. Das Problem der Nicht-Identifizierbarkeit anhand eines Lichtbildes bleibt jedenfalls bestehen. Zudem verfehlt die Argumentation der Klägerin, für ihre Verurteilung wegen etwaiger straßenverkehrsrechtlicher Verstöße genüge die hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Foto mit einer verschleierten Person in ihrem Fahrzeug sie selbst zeige, die Anforderungen an das im Ordnungswidrigkeitenverfahren erforderliche Maß an Überzeugung von der Täterschaft.
257
Mangels effektiver Kontrollmöglichkeiten setzen die von der Klägerin vorgeschlagenen Nebenbestimmungen außerdem ein hohes an Maß an Zuverlässigkeit und Mitwirkung auf Seiten der Klägerin voraus. Bei der Entscheidung über einen unbedingten Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung unter solchen Nebenbestimmungen ist deshalb auch das bisherige (Verkehrs‑)Verhalten der Klägerin zu berücksichtigen. Das Vorverhalten der Klägerin bietet Anhaltspunkte, die gegen die Erteilung der Ausnahmegenehmigung unter den genannten Nebenbestimmungen sprechen könnten. Hierzu hat die Bezirksregierung bislang keine Überlegungen angestellt. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin angegeben, dass sie „einen Punkt in Flensburg“ habe. Sie sei wegen überhöhter Geschwindigkeit geblitzt worden. Auf dem Foto sei sie verschleiert gewesen. Den Verkehrsverstoß habe sie zugegeben. Insofern ist zwar davon auszugehen, dass die Klägerin die Verfolgung des automatisiert erfassten Verkehrsverstoßes im konkreten Fall ermöglicht hat. Gleichwohl hat sie erneut bestätigt, dass sie sich bislang bewusst über das gesetzliche Verhüllungsverbot hinwegsetzt. Dies hatte sie auch bereits in einer E-Mail vom 26. Februar 2024, die ihr Prozessbevollmächtigter auf Anfrage des Gerichts am 28. Februar 2024 übermittelt hat, ausdrücklich eingeräumt.
258
Auch unabhängig von den im Verfahren ausdrücklich thematisierten Nebenbestimmungen ist eine Ermessensreduzierung auf Null hinsichtlich konkreter Nebenbestimmungen für die begehrte Ausnahmegenehmigung kaum denkbar. Solche könnten etwa Vorgaben für ein Niqab-Modell enthalten, das die Rundumsicht nicht beschränkt; die Ausnahmegenehmigung könnte befristet und unter Vorbehalt des Widerrufs erteilt werden; für das Führen eines Fahrtenbuchs als Nebenbestimmung könnte auch geregelt werden, wie oft dieses zur Kontrolle vorzulegen ist.
259
Da das Ermessen der Bezirksregierung aus den vorstehenden Gründen auch bei einer berufsbedingten Angewiesenheit der Klägerin auf ein geschlossenes Kraftfahrzeug nicht auf Null reduziert wäre, war der Senat schon deswegen und auch unabhängig von der nach § 87b VwGO gesetzten Ausschlussfrist nicht verpflichtet, den Sachverhalt insoweit näher aufzuklären, um die Sache gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO spruchreif zu machen.
260
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 1 VwGO. Der Senat bewertet im Berufungsverfahren den Haupt- und Hilfsantrag als gleichwertig. Gleiches gilt für den im Rahmen des Hilfsantrags gestellten Verpflichtungs- und Bescheidungsantrag. Da die Berufung der Klägerin nur im Umfang des Bescheidungsantrags erfolgreich ist, ergibt sich hieraus eine Kostenquote von ¾ für die Klägerin und ¼ für den Beklagten. Für das erstinstanzliche Verfahren, dessen Gegenstand allein der Verpflichtungsantrag war, folgt daraus eine hälftige Kostenteilung.
261
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
262
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.