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  • 12.12.2023 · IWW-Abrufnummer 238707

    Kammergericht Berlin: Beschluss vom 07.11.2023 – 3 ORbs 222/23 - 122 Ss 104/22

    1. Der Widerspruch nach § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG kann bereits im Vorverfahren oder mit der Einlegung des Einspruchs erklärt werden. Mit dem Eingang der Akten beim Amtsgericht entfaltet er seine Sperrwirkung für das Beschlussverfahren.

    2. Ein auf diese Weise wirksam erklärter Widerspruch wird auch nicht dadurch unwirksam, dass das Amtsgericht im späteren Verfahren ankündigt, durch Beschluss entscheiden zu wollen, und der Betroffene dem nicht widerspricht. Vielmehr bedarf es in diesem Fall einer eindeutigen Rücknahme des zuvor erklärten Widerspruchs.

    3. Ob eine Äußerung als Widerspruch zu bewerten ist, ist unter Berücksichtigung des konkreten Falls und namentlich des wirklichen Willens des Betroffenen und der Bedeutung seiner abgegebenen Erklärungen festzustellen. (Anschluss OLG Koblenz NStZ 1991, 191)

    4. Zwar kann ein Widerspruch im Grundsatz auch durch schlüssiges Verhalten erklärt werden. Die Auffassung, dass ein – gegebenenfalls substantiiertes – Bestreiten das Beschlussverfahren schlechthin sperre und sogar einer späteren Zustimmung die Rechtswirkung nehmen könne, teilt der Senat aber nicht. (Entgegen OLG Karlsruhe VRS 59, 136)


    Kammergericht, 3. Senat für Bußgeldsachen

    Beschluss vom 7. November 2023

    3 ORbs 222/23122 Ss 104/22       
    343 OWi 1356/22

    In der Bußgeldsache gegen

    X

    wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit

    hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 7. November 2023 beschlossen:

    Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 24. Januar 2023 wird verworfen.

    Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

    G r ü n d e :

    Die Polizei Berlin hat gegen den Betroffenen, der durchgehend unter der im Rubrum bezeichneten Anschrift gemeldet gewesen ist, wegen eines Rotlichtverstoßes eine Geldbuße von 110 Euro festgesetzt. Das Amtsgericht Tiergarten hat dem Betroffenen am 17. November 2022 gegen Zustellungsurkunde und dem Verteidiger formlos mitgeteilt, dass der Einspruch „nach Aktenlage keine Aussicht auf Erfolg“ habe. Zugleich hat die Abteilungsrichterin erklärt, es sei beabsichtigt, durch Beschluss nach § 72 OWiG zu entscheiden, sofern dem nicht widersprochen werde. Die Zustellung an den Betroffenen ist fehlgeschlagen, weil dieser, wie der Postdienstleister mitgeteilt hat, unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln sei. Hausermittlungen haben in der Folge das Gegenteil ergeben: Ein Polizeibeamter teilte mit, es befinde sich der Name des Betroffenen am Briefkasten, der ersichtlich auch geleert werde. Das Anhörungsschreiben vom 17. November 2022 ist durch den Beamten am 2. Januar 2023 in den Briefkasten eingelegt worden.

    Am 24. Januar 2023 hat das Amtsgericht den Betroffenen durch Beschluss zu einer Geldbuße von 110 Euro verurteilt. Die Abteilungsrichterin hat verfügt, dass der Beschluss an den Betroffenen zugestellt werden soll, eine formlose Abschrift ist an den Verteidiger übersandt worden. Am 2. Februar 2023 hat der Verteidiger unter erstmaliger Vorlage einer schriftlichen Vollmacht dem Beschlussverfahren widersprochen, zugleich Wiedereinsetzung in die diesbezüglich versäumte Frist beantragt und Rechtsbeschwerde eingelegt. Zur Begründung der Wiedereinsetzung hat der Verteidiger behauptet, dass „der Betroffene sich zurzeit nicht in seiner Wohnung befindet“, weshalb er die Zustellungen „nicht bestätigen“ könne; die Anhörung zum Beschlussverfahren sei ihm jedenfalls sicher nicht zugestellt worden. Der angefochtene Beschluss konnte aber wiederum nicht an den Betroffenen zugestellt werden, weil dieser nicht zu ermitteln sei. Am 20. Februar 2023 hat die Abteilungsrichterin verfügt, der Beschluss solle an den Verteidiger zugestellt werden. Nachdem dieser den Empfang nicht bescheinigt hatte, ist er unter Übersendung eines neuen Empfangsbekenntnisses am 15. März 2023, wiederum erfolglos, gemahnt worden. Die Richterin hat in der Folge verfügt, der Beschluss solle gegen Zustellungsurkunde an den Verteidiger zugestellt werden. Am 29. März 2023 hat sie den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Die Rechtsbeschwerde bleibt erfolglos.

    1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 72 Abs. Abs. 1 Nr. 5 OWiG statthaft, sie ist auch im Weiteren zulässig. In Bezug auf die Behauptung des Betroffenen, das Anhörungsschreiben vom 17. November 2022 nicht erhalten zu haben, weil er sich „zurzeit nicht in seiner Wohnung befindet“, verfehlt die darin zu erblickende Beanstandung der Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 72 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 OWiG) die nach §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu stellenden Anforderungen (vgl. BGHSt 23, 298) bei Weitem. Jedoch macht der Betroffene auch geltend, sein vorprozessuales Verhalten sei als Widerspruch im Sinne des § 72 Abs. Abs. 1 Satz 1 OWiG zu bewerten. Darin liegt die Behauptung, dem Beschlussverfahren rechtzeitig widersprochen zu haben (§ 72 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 OWiG). Der Senat erachtet diese Rüge als zulässig erhoben, denn das Verfahrensgeschehen wird ausreichend dargelegt.  

    2. Die Rechtsbeschwerde ist aber nicht begründet.

    a) Mit der Frage, ob der Betroffene in Bezug auf das Beschlussverfahren (§ 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG) angehört worden ist und namentlich, ob das Anhörungsschreiben vom 17. November 2022 wirksam zugestellt worden ist, muss sich der Senat nicht befassen. Die insoweit erhobene Verfahrensrüge ist, wie dargestellt, unzulässig.

    b) Der Beschluss ist aber auch nicht unter dem Gesichtspunkt verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, dass der Betroffene dem nach § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG durchgeführten Verfahren wirksam widersprochen hätte. Die Rechtsbeschwerde macht geltend, der Betroffene habe bereits im Vorverfahren zu erkennen gegeben, dass er einer Entscheidung im Beschlusswege widerspreche. Denn „gegenüber den Polizeibeamten“ habe er bereits am Tattag „sinngemäß geäußert, dass er keine Ampel gesehen hat“, womit gemeint gewesen sei, er habe keine „rote Ampel“ gesehen (RB S. 3). Auch mit der Einlegung des Einspruchs habe er „hinreichend zum Ausdruck gebracht, dass er eine Klärung des Sachverhalts vor Gericht im Wege der Beweisaufnahme zur Entkräftung des gegenüber ihm erhobenen Vorwurfs für erforderlich erachtet“ (RB S. 3/4).

    aa) In Bezug auf den Zeitpunkt des nach § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG anzubringenden Widerspruchs ist anerkannt, dass ein Betroffener ihn bereits mit der Einlegung des Einspruchs erklären kann und dass eine solche Erklärung mit dem Eingang der Akten dem Gericht gegenüber ihre Sperrwirkung entfaltet (vgl. OLG Karlsruhe Justiz 1974, 29). Auch der erkennende Senat hat bereits entschieden, dass der Widerspruch schon im Vorverfahren in einem an die Bußgeldbehörde gerichteten Schriftsatz erklärt werden kann. In diesem Fall richtet sich die Erklärung sachlich an das Amtsgericht, weil nur dieses die Wahl hat, durch Beschluss oder nach Hauptverhandlung durch Urteil zu entscheiden (vgl. Senat NZV 2022, 203). Ein auf diese Weise wirksam erklärter Widerspruch wird auch nicht dadurch unwirksam, dass das Amtsgericht im späteren Verfahren ankündigt, durch Beschluss entscheiden zu wollen, und der Betroffene dem nicht widerspricht. Vielmehr bedarf es in diesem Fall einer eindeutigen Rücknahme des zuvor erklärten Widerspruchs (vgl. Senat NZV 2022, 203; OLG Köln SVR 2014, 149 [Volltext bei juris]). Dem bloßen Schweigen kann eine solche Erklärung, bereits nach allgemeinen Grundsätzen, nicht beigemessen werden (vgl. Senat NZV 2022, 203; BayObLG NStZ 2021, 503 m.w.N.).

    bb) In Bezug auf den erforderlichen Inhalt der Widerspruchserklärung weist die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend darauf hin, dass die Äußerung des Betroffenen unter Berücksichtigung des konkreten Falls und namentlich des wirklichen Willens des Betroffenen und der Reichweite seiner abgegebenen Erklärung festzustellen ist (vgl. OLG Koblenz NStZ 1991, 191). Ein Widerspruch kann auch durch schlüssiges Verhalten, also konkludent, erklärt werden (vgl. OLG Hamm VRS 58, 46). Ein schlüssig erklärter Widerspruch gegen das schriftliche Verfahren soll in jeder Äußerung des Betroffenen zu sehen sein, aus der hervorgeht, dass er mit einer Entscheidung allein aufgrund des bis dahin aktenkundigen Sachverhalts nicht einverstanden ist, sondern eine weitere Klärung des Tathergangs wünscht (vgl. OLG Karlsruhe VRS 59, 136), der Betroffene die Tat zum Beispiel leugnet und sich hierfür auf Zeugen beruft (vgl. BayObLG NZV 1997, 197 und bei Rüth, DAR 1983, 255). In diesem Fall soll sogar eine ausdrücklich erklärte Zustimmung keine Wirkung entfalten (vgl. OLG Karlsruhe VRS 59, 136). Allerdings ist gleichfalls anerkannt, dass ein solcherart schlüssig erklärter Widerspruch nicht vorliegt, „wenn der Betroffene im Einspruch gegen den Bußgeldbescheid lediglich den Tatvorwurf (substantiiert) bestreitet“ (vgl. BayObLG NZV 1997, 197).

    Der Senat teilt die Auffassung, ein ‒ gegebenenfalls substantiiertes ‒ Bestreiten sperre das Beschlussverfahren schlechthin und könne sogar eine spätere Zustimmung die Rechtswirkung nehmen (so OLG Karlsruhe VRS 59, 136), ausdrücklich nicht. Selbstverständlich kann auch ein zunächst bestreitender Betroffener sein prozessuales Verhalten ändern und mit der Zustimmung zum Beschlussverfahren, gegebenenfalls nach Rücksprache mit einem Rechtsanwalt, einen von ihm als unkompliziert, wirtschaftlich und vorteilhaft empfundenen Verfahrensgang wählen.

    Auf die Frage kommt es hier aber nicht an. Denn der Betroffene hat vor Beschlusserlass zu keinem Zeitpunkt die Tat substantiiert oder qualifiziert bestritten. Als einzige Äußerung des Betroffen hat der anzeigende Polizeibeamte „sinngemäß“ notiert: „Ich habe gar keine Ampel gesehen.“ Der Verteidiger hat mit der Einspruchseinlegung und auch hiernach keine Erklärung zur Sache abgegeben, eine Einlassung des Betroffenen hat er nicht zur Akte gereicht. Unabhängig von der anzuzweifelnden, zumal unbedingten, Bindungswirkung eines vorzeitig, nämlich bereits im Ermittlungsverfahren, angebrachten Widerspruchs fehlt es damit hier bereits an einer Erklärung, der ein entsprechender Inhalt beigemessen werden könnte.

    Es versteht sich zudem von selbst, dass auch dem bloßen Umstand der Einspruchseinlegung keine Widerspruchserklärung beigemessen werden kann, die das Beschlussverfahren sperren könnte. Wäre es anders, käme das Verfahren nach § 72 OWiG überhaupt nicht oder allenfalls mit ausdrücklicher Zustimmung des Betroffenen in Betracht. Dies widerspräche aber der gesetzlichen Regelung, die mit § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG einen Widerspruch des Betroffenen erfordert.  

    cc) Die Verfahrensrüge offenbart damit weder vor noch nach der durch die Abteilungsrichterin veranlassten Anhörung des Betroffenen zum Verfahren nach § 72 Abs. 1 OWiG ein Prozessgeschehen, dem ein Widerspruch des Betroffenen entnommen werden könnte. Vor diesem Hintergrund war das Amtsgericht nicht gehindert, das Beschlussverfahren zunächst anzuregen und, nachdem nicht widersprochen worden war, entsprechend zu verfahren.

    c) Die Sachrüge ist nicht erhoben.

    3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 StPO.

    RechtsgebietOWiGVorschriftenOWiG § 72 Abs. 1