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  • 07.10.2022 · IWW-Abrufnummer 231670

    Amtsgericht Berlin-Tiergarten: Beschluss vom 29.09.2022 – 217c 88/22

    Die Formulierung in einem gerichtlichen Beschluss, durch die vorgeworfenen Taten habe der Angeklagte selbst die Privatsphäre anderer (hier der Zeuginnen pp.) zum Gegenstand der öffentlichen Erörterung gemacht“, lässt sich dahingehend verstehen, dass der Richter bereits davon ausgeht, der Angeklagte habe die vorgeworfenen Taten, begangen.


    AmtsgerichtTiergarten
    217c 88/22


    Beschluss vom 29.09.2022


    In der Strafsache
    gegen pp.


    Verteidiger:


    wegen sexueller Nötigung, Vergewaltigung pp.


    wird auf den durch den - durch die Verteidigerin und den Verteidiger gestellten-Ablehnungsantrag des Angeklagten vom 21. September 2022 die Ablehnung fürbegründet erklärt und die Richterin am Amtsgericht H. von der weiterenBearbeitung des Verfahrens Amtsgericht Tiergarten entbunden.


    Gründe:


    I.


    Dem Angeklagten werden durch die Anklageschriften der Staatsanwaltschaft Berlinvom 19. Juli 2019 (284 Js 3952/18) und vom 15. Juni 2021 (284 Js 3407/20)jeweils eine Tat der Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 und (inder Anklageschrift vom 15. Juni 2021 außerdem: Nr. 3)) und Abs. 6 StGB zur Lastgelegt, die zu Lasten der Zeugin hilf (Anklageschrift vom 10. Juli 2019) bzw.der Zeugin HS (Anklageschrift vom 15. Juni 2021) begangen worden sein sollen.Da die zweite Anklageschrift die Eröffnung unter Zuziehung eines weiterenRichters beim Amtsgericht beantragte (
    § 29 Abs. 2 GVG) wurde das Verfahren betreffenddie erste Anklageschrift mit Verfügung vom 12. November 2021 übernommen (BI.139R. Band IV der Akten).


    Mit Beschluss vom 18. Januar 2022 wurden beide Anklageschriften unter Eröffnungdes Hauptverfahrens vor dem Amtsgericht Tiergarten —Schöffengericht- zurHauptverhandlung zugelassen und die Zuziehung eines weiteren Richters beimAmtsgericht beschlossen.


    Nachdem zuvor für April und Mai 2022 anberaumte Hauptverhandlungstermineaufgehoben werden musste, sollte die Hauptverhandlung am 21. September 2022 mit6 Fortsetzungsterminen bis zum 21. November 2022 stattfinden.


    Im ersten Termin der Hauptverhandlung am 21. September 2022 unter Vorsitz derRichterin am Amtsgericht H (im Folgenden auch: die abgelehnte Richterin)beantragte die Verteidigung noch vor Verlesung der Anklageschrift, dieÖffentlichkeit von der Hauptverhandlung auszuschließen und berief sich dabeiauf
    § 171b GVG.


    Nach Beratung verkündete das Gericht den folgenden Beschluss:


    „Der Antrag des Angeklagten auf Ausschließung der Öffentlichkeit wird abgelehnt

    Ihm ist zuzugeben, dass ihm durch die Berichterstattung über die hiesigenVorwürfe von Sexualstraftaten Nachteile entstehen können.

    Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass dies bei dieser Art desVerfahrens immer der Fall ist und es keinen gesetzlichen Ausschlussgrunddarstellt.


    Das Interesse an der öffentlichen Erörterung überwiegt hier, weil durch dievorgeworfenen Taten der Angeklagte selbst die Privatsphäre anderer (hier derZeuginnen pp. zum Gegenstand der öffentlichen Erörterung gemacht hat."


    Daraufhin stellte die Verteidigung für den Angeklagten den vorliegend zuentscheidenden Ablehnungsantrag, den sie einerseits damit begründete, dieabgelehnte Richterin habe die erst noch zu beweisende Tatbegehung vorausgesetzt,zum anderen
    § 171b StGB rechtsfehlerhaft angewendet.


    Die abgelehnte Richterin hat sich am 23. September 2022 wie folgt dienstlichgeäußert: "Der Sachverhalt ist vom Verteidiger zutreffenddargestellt"


    Die Verteidigung des Angeklagten hat hierzu im Rahmen des rechtlichen Gehörsmitgeteilt, den Angeklagten lasse diese dienstliche Äußerung weiterhin dieBefangenheit besorgen."


    II.


    Der Ablehnungsantrag ist unbegründet. Nach dem Inhalt des Ablehnungsantrags,der dienstlichen Stellungnahme der abgelehnten Richterin und der Akten imÜbrigen ergibt sich für den Angeklagten — bei vernünftiger und verständigerBetrachtung auch aus dessen Perspektive —die Annahme, die abgelehnte Richterinwürde ihm gegenüber eine innere Haltung einnehmen, die seine Unparteilichkeitund Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann.


    Befangenheit ist eine innere Haltung eines Richters, die seine Neutralität,Distanz und Unparteilichkeit gegenüber den Verfahrensbeteiligten störendbeeinflusst, indem sie ein persönliches, parteiliches Interesse des Richters —sei es wirtschaftlicher, ideeller, politischer oder rein persönlicher Art — amVerfahrensgang und am Ausgang des Verfahrens begründet. Es kommt für die Prüfungder Ablehnungsberechtigung grundsätzlich auf den Standpunkt desAblehnungsberechtigten an; maßgebend ist freilich nicht dessen alleinsubjektiver Eindruck; vielmehr müssen vernünftige Gründe für dasAblehnungsbegehren vorliegen, die nach Maßgabe einer objektivierenden Wertungeinem aus dem Blickwinkel des ablehnungsberechtigten Verfahrensbeteiligtenvernünftig urteilenden Dritten einleuchten würden. „Besorgnis der Befangenheitbesteht, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller UmständeAnlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln"; es istein „individuell-objektiver Maßstab" anzulegen (Scheuten, in: KarlsruherKommentar zur StPO, 8. Auflage, München 2019, § 24 Rn. 3 mit einer Vielzahl vonNachweisen aus der Rspr.).


    Bei der Prüfung der Ablehnungsfrage ist zwar der Standpunkt des Angeklagtenwesentlich, dieser muss aber vernünftige Gründe für sein Ablehnungsbegehrenvorbringen, die jedem unbefangenen Dritten einleuchten (BGH, Urteil vom11.09.1956, Az.; 5 StR/56, Leitsatz 2., in: JR 1956, 68, zitiert nach JURIS).Auf die Frage, ob der Richter tatsächlich parteiisch oder befangen ist, kommtes nicht an (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Kommentar, 63.Auflage, München 2020, § 24 Rn. 6 und 8, m. w. N.).


    Vorliegend ergibt sich die Besorgnis der Befangenheit allerdings nicht aus dermöglicherweise falschen Rechtsanwendung im Sinne eines Rechtsirrtums. Dennderartige Irrtümer ließen die Besorgnis der

    Befangenheit allenfalls dann zu, wenn sie abwegig oder willkürlich waren, wasvorliegend nicht der Fall ist.


    Die Besorgnis der Befangenheit ergibt sich vielmehr aus der Formulierung imdargestellten Beschluss, „durch die vorgeworfenen Taten" habe „derAngeklagte selbst die Privatsphäre anderer (hier der Zeuginnen pp.) zumGegenstand der öffentlichen Erörterung gemacht“. Diese Wortwahl lässt sich ohneviel Mühen dahingehend verstehen, dass die abgelehnte Richterin bereits davonausgeht, der Angeklagte habe 2 Vergewaltigungen, nämlich „die vorgeworfenenTaten", begangen. Denn wenn die abgelehnte Richterin mitteilt, derAngeklagte selbst habe die Privatsphäre anderer zum Gegenstand öffentlicherErörterungen gemacht, dann lässt sich daraus unschwer der Schluss ziehen, dasser die Taten begangen habe. Die abgelehnte Richterin hat diesen Beschluss inder Hauptverhandlung einschließlich der Begründung verkündet und ihn sich damitzumindest nach Außen hin zu Eigen gemacht.


    Selbst wenn davon auszugehen sein kann, dass die abgelehnte Richterin diesenSchluss nicht hat ziehen wollen, so muss beim Angeklagten doch der Eindruck derBefangenheit der Richterin bleiben, weil sie die Gelegenheit der dienstlichenÄußerung nicht genutzt hat, um den möglicherweise ungewollten Eindruck richtigzu stellen.