22.09.2017 · IWW-Abrufnummer 196693
Kammergericht Berlin: Beschluss vom 25.01.2017 – 3 Ws (B) 25/17 - 162 Ss 10/17
Ein Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass der in Augenschein genommene Ampelschaltplan nicht die Schaltung zum Unfallzeitpunkt wiedergibt, darf nicht mit formelhafter Begründung nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgelehnt werden, wenn der Betroffene zugleich darlegt, dass sich aus einem präsenten Videomitschnitt eine Ampelschaltung ergibt, die mit dem Ampelschaltplan nicht in Einklang steht.
Kammergericht
Beschluss vom 25. Januar 2017
3 Ws (B) 25/17 - 162 Ss 10/17
306 OWi 455/16
In der Bußgeldsache gegen
X
wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit
hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 25. Januar 2017
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 5. Oktober 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.
G r ü n d e :
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen eines fahrlässig begangenen Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 240 Euro verurteilt und nach § 25 Abs. 1 StVG ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Nach den Urteilsfeststellungen befuhr der Betroffene am Steuer eines PKW die Osloer Straße in westliche (nicht, wie es im Urteil heißt, in östliche) Richtung, wo er ein rotes Ampellicht missachtete und beim Versuch, nach links in die Koloniestraße abzubiegen, mit einem entgegenkommenden PKW zusammenstieß. Zu seiner Überzeugung vom Geschehensablauf gelangte das Amtsgericht durch die Bekundungen des Unfallgegners M., dessen Beifahrerin und des Zeugen F. sowie dem Ampelschaltplan. Der Zeuge M. hatte die Osloer Straße in gleicher Fahrtrichtung wie der Unfallgegner M. befahren; weil er nach Norden abbiegen wollte, hatte er allerdings die Linksabbiegerspur genutzt. Alle drei Zeugen haben bekundet, der Zeuge M. sei bei grünem Ampellicht in die Kreuzung eingefahren. Dass der Betroffene bei rotem Lichtzeichen in den Kreuzungsbereich eingefahren sein muss, entnimmt das Amtsgericht dem Ampelschaltplan. Aus diesem ergebe sich, dass die vom Betroffenen zu beachtende Ampel sieben Sekunden grünes Licht abstrahle, nämlich in den Zyklussekunden 38 bis 45, das für den Zeugen M. geltende Grünlicht aber erst ab Zyklussekunde 80, mithin 35 Sekunden später, einspringe. Habe für den Zeugen M. das grüne Lichtzeichen abgestrahlt, müsse für den Betroffenen das rote geleuchtet haben.
Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Er beanstandet das Verfahren und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Rüge, das Amtsgericht habe einen Beweisantrag prozessrechtswidrig zurückgewiesen, Erfolg.
1. Das Amtsgericht hat einen Beweisantrag des Betroffenen zu Unrecht nach § 77 Abs. 1 Nr. 2 OWiG behandelt und ohne inhaltlich tragende Begründung abgelehnt.
a) Die Verfahrensrüge behauptet das folgende Verfahrensgeschehen: Der Unfallgegner M. hat in der Hauptverhandlung angegeben, der nach Osten fahrende Verkehr (also er) habe im Zeitpunkt des Unfalls ebenso grünes Ampellicht gehabt wie der nach Norden abbiegende (also der Zeuge F.). In der Hauptverhandlung ist ein vom Zeugen M. mit dem Mobiltelefon aufgenommenes Video in Augenschein genommen worden, das dies als möglich erscheinen lässt: Es zeigt zwei für den Geradeausverkehr geltende Ampelregister und ein für den Linksabbiegerverkehr geltendes. Alle leuchten gleichzeitig grün. Da eine solche Kongruenz nach dem Ampelschaltplan nicht möglich ist, hat der Verteidiger unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das dem Ampelschaltplan widersprechende Video beantragt, ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass der in Augenschein genommene Ampelschaltplan nicht die Schaltung zum Unfallzeitpunkt wiedergibt. Das Amtsgericht hat den Beweisantrag nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückgewiesen, „da das Gericht den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Hauptverhandlung für geklärt ansieht und nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist“.
Die Verfahrensrüge ist damit zulässig erhoben, denn das geschilderte Verfahrensgeschehen ließe eine Verletzung des § 77 Abs. 1 Nr. 2 OWiG erkennen.
b) Die Rüge ist auch begründet. Das Amtsgericht hat den Beweisantrag nicht mit zulässiger Begründung zurückgewiesen. Es kann offen bleiben, ob das in Augenschein genommene Video tatsächlich „ampelschaltplanwidrig“ das gleichzeitige Aufleuchten dreier Ampelregister (K1 bis K3) zeigte. War dies nämlich der Fall, so durfte das Amtsgericht den Beweisantrag nicht zurückweisen, und ganz gewiss durfte es nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Ampelschaltplan für den nach Norden abbiegenden Verkehr (Zeuge F.) fehlerhaft ist, aber für den Zeugen M. und den Betroffenen zutreffende Schaltungen wiedergibt. In diesem Fall musste sich das Erfordernis der Klärung nachgerade aufdrängen (vgl. Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 21. Juni 2012 – 2B - 155/12 – [juris]). Zeigte das Video hingegen nicht, dass die Ampelregister K1 und K2 (geradeaus nach Osten) und K3 (links nach Norden) gleichzeitig leuchteten, so hätte das Amtsgericht dies im Gerichtsbeschluss oder spätestens im Urteil darlegen müssen. Denn nur in diesem Fall hätten keine greifbaren Anhaltspunkte dafür bestanden, dass der Ampelschaltplan nicht die Schaltung zur Unfallzeit wiedergibt, und das Amtsgericht hätte von der durch § 77 OWiG ermöglichten Befreiung vom Verbot der Beweisantizipation Gebrauch machen dürfen.
c) Auf der fehlerhaften Zurückweisung des Beweisantrags kann das Urteil auch beruhen. Denn die Schlussfolgerung, der Betroffene sei bei rotem Ampellicht gefahren, ergibt sich unmittelbar aus dem durch den Beweisantrag nachdrücklich in Frage gestellten Ampelschaltplan.
2. Ohne dass auf die weiteren Rügen eingegangen werden müsste, hebt der Senat daher das Urteil nach § 79 Abs. 6 OWiG auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurück.
Beschluss vom 25. Januar 2017
3 Ws (B) 25/17 - 162 Ss 10/17
306 OWi 455/16
In der Bußgeldsache gegen
X
wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit
hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 25. Januar 2017
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 5. Oktober 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.
G r ü n d e :
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen eines fahrlässig begangenen Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 240 Euro verurteilt und nach § 25 Abs. 1 StVG ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Nach den Urteilsfeststellungen befuhr der Betroffene am Steuer eines PKW die Osloer Straße in westliche (nicht, wie es im Urteil heißt, in östliche) Richtung, wo er ein rotes Ampellicht missachtete und beim Versuch, nach links in die Koloniestraße abzubiegen, mit einem entgegenkommenden PKW zusammenstieß. Zu seiner Überzeugung vom Geschehensablauf gelangte das Amtsgericht durch die Bekundungen des Unfallgegners M., dessen Beifahrerin und des Zeugen F. sowie dem Ampelschaltplan. Der Zeuge M. hatte die Osloer Straße in gleicher Fahrtrichtung wie der Unfallgegner M. befahren; weil er nach Norden abbiegen wollte, hatte er allerdings die Linksabbiegerspur genutzt. Alle drei Zeugen haben bekundet, der Zeuge M. sei bei grünem Ampellicht in die Kreuzung eingefahren. Dass der Betroffene bei rotem Lichtzeichen in den Kreuzungsbereich eingefahren sein muss, entnimmt das Amtsgericht dem Ampelschaltplan. Aus diesem ergebe sich, dass die vom Betroffenen zu beachtende Ampel sieben Sekunden grünes Licht abstrahle, nämlich in den Zyklussekunden 38 bis 45, das für den Zeugen M. geltende Grünlicht aber erst ab Zyklussekunde 80, mithin 35 Sekunden später, einspringe. Habe für den Zeugen M. das grüne Lichtzeichen abgestrahlt, müsse für den Betroffenen das rote geleuchtet haben.
Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Er beanstandet das Verfahren und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Rüge, das Amtsgericht habe einen Beweisantrag prozessrechtswidrig zurückgewiesen, Erfolg.
1. Das Amtsgericht hat einen Beweisantrag des Betroffenen zu Unrecht nach § 77 Abs. 1 Nr. 2 OWiG behandelt und ohne inhaltlich tragende Begründung abgelehnt.
a) Die Verfahrensrüge behauptet das folgende Verfahrensgeschehen: Der Unfallgegner M. hat in der Hauptverhandlung angegeben, der nach Osten fahrende Verkehr (also er) habe im Zeitpunkt des Unfalls ebenso grünes Ampellicht gehabt wie der nach Norden abbiegende (also der Zeuge F.). In der Hauptverhandlung ist ein vom Zeugen M. mit dem Mobiltelefon aufgenommenes Video in Augenschein genommen worden, das dies als möglich erscheinen lässt: Es zeigt zwei für den Geradeausverkehr geltende Ampelregister und ein für den Linksabbiegerverkehr geltendes. Alle leuchten gleichzeitig grün. Da eine solche Kongruenz nach dem Ampelschaltplan nicht möglich ist, hat der Verteidiger unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das dem Ampelschaltplan widersprechende Video beantragt, ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass der in Augenschein genommene Ampelschaltplan nicht die Schaltung zum Unfallzeitpunkt wiedergibt. Das Amtsgericht hat den Beweisantrag nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückgewiesen, „da das Gericht den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Hauptverhandlung für geklärt ansieht und nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist“.
Die Verfahrensrüge ist damit zulässig erhoben, denn das geschilderte Verfahrensgeschehen ließe eine Verletzung des § 77 Abs. 1 Nr. 2 OWiG erkennen.
b) Die Rüge ist auch begründet. Das Amtsgericht hat den Beweisantrag nicht mit zulässiger Begründung zurückgewiesen. Es kann offen bleiben, ob das in Augenschein genommene Video tatsächlich „ampelschaltplanwidrig“ das gleichzeitige Aufleuchten dreier Ampelregister (K1 bis K3) zeigte. War dies nämlich der Fall, so durfte das Amtsgericht den Beweisantrag nicht zurückweisen, und ganz gewiss durfte es nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Ampelschaltplan für den nach Norden abbiegenden Verkehr (Zeuge F.) fehlerhaft ist, aber für den Zeugen M. und den Betroffenen zutreffende Schaltungen wiedergibt. In diesem Fall musste sich das Erfordernis der Klärung nachgerade aufdrängen (vgl. Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 21. Juni 2012 – 2B - 155/12 – [juris]). Zeigte das Video hingegen nicht, dass die Ampelregister K1 und K2 (geradeaus nach Osten) und K3 (links nach Norden) gleichzeitig leuchteten, so hätte das Amtsgericht dies im Gerichtsbeschluss oder spätestens im Urteil darlegen müssen. Denn nur in diesem Fall hätten keine greifbaren Anhaltspunkte dafür bestanden, dass der Ampelschaltplan nicht die Schaltung zur Unfallzeit wiedergibt, und das Amtsgericht hätte von der durch § 77 OWiG ermöglichten Befreiung vom Verbot der Beweisantizipation Gebrauch machen dürfen.
c) Auf der fehlerhaften Zurückweisung des Beweisantrags kann das Urteil auch beruhen. Denn die Schlussfolgerung, der Betroffene sei bei rotem Ampellicht gefahren, ergibt sich unmittelbar aus dem durch den Beweisantrag nachdrücklich in Frage gestellten Ampelschaltplan.
2. Ohne dass auf die weiteren Rügen eingegangen werden müsste, hebt der Senat daher das Urteil nach § 79 Abs. 6 OWiG auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurück.
RechtsgebietOWiGVorschriftenOWiG § 77 Abs. 2 Nr. 1