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  • 18.01.2012 · IWW-Abrufnummer 120037

    Kammergericht Berlin: Beschluss vom 10.11.2011 – 3 Ws (B) 529/11 - 2 Ss 286/11

    Zum rechtzeitigen Eingang eines per Fax übersandten Antrags auf Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen.


    KAMMERGERICHT
    Beschluss
    Geschäftsnummer:
    3 Ws (B) 529/11 - 2 Ss 286/11
    322 OWi 16/11
    In der Bußgeldsache gegen pp.
    wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
    hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts in Berlin am 10. November 2011 beschlossen:
    1. Auf den Antrag des Betroffenen auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. August 2011 aufgehoben.
    2. Auf den Antrag des Betroffenen wird die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. Juni 2011 zugelassen.
    Auf die Rechtsbeschwerde wird das genannte Urteil aufgehoben.
    Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.
    G r ü n d e :
    Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen mit Bußgeldbescheid vom 25. Oktober 2010 wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nach § 24 StVG eine Geldbuße in Höhe von 15,00 Euro verhängt. Gegen diesen Bußgeldbescheid legte der Verteidiger des Betroffenen rechtzeitig Einspruch ein. Das Amtsgericht beraumte Termin zur Hauptverhandlung auf den 23. Juni 2011, 13.00 Uhr, an. Mit Schriftsatz vom 22. Juni 2011, der per Fax an den Faxanschluss der für die betreffende Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zuständigen Geschäftsstelle übersandt wurde und dort am 23. Juni 2011 um 10.58 Uhr eintraf, teilte der Verteidiger des Betroffenen dem Gericht mit, der Betroffene lasse sich zu dem Tatvorwurf dahin ein, dass er zur Tatzeit Fahrer des in dem Bußgeldbescheid bezeichneten Pkw gewesen sei, jedoch bestreite, die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten zu haben. In der Hauptverhandlung werde sich der Betroffene nicht zur Sache äußern, auch nicht auf Fragen und Vorhalte des Richters, und wolle deshalb nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen. Das Schreiben war im Kopf im Fettdruck mit dem Vermerk versehen: „Bitte sofort dem Richter vorlegen! Hauptverhandlung 23.6.2011, 13.00 Uhr, Raum 5106!“. Dem Schreiben war eine dem Verteidiger von dem Betroffenen erteilte Vollmacht beigefügt, die sich unter anderem auf „die Verteidigung und Vertretung in Bußgeldsachen und Strafsachen“ erstreckte. Ausweislich eines Vermerks der zu-ständigen Abteilungsrichterin vom 23. Juni 2011 erreichte sie dieser Schriftsatz erst nach Ende der Sitzung gegen 15.00 Uhr. Im Hauptverhandlungstermin, zu dem weder der Betroffene noch sein Verteidiger erschienen waren, verwarf das Amtsgericht den Einspruch mit der Begründung, der Betroffene sei trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne genügende Entschuldigung im Hauptverhandlungstermin ausgeblieben, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden worden sei. Das Urteil wurde dem Verteidiger des Betroffenen am 5. Juli 2011 zugestellt. Mit am 7. Juli 2011 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom 6. Juli 2011 hat der Verteidiger für den Betroffenen Rechtsbeschwerde eingelegt und deren Zulassung beantragt. Mit bei Gericht am 15. August 2011 eingegangenem Schriftsatz vom 12. August 2011 hat er beantragt, die Rechtsbeschwerde wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zuzulassen und auf die Rechtsbeschwerde das Urteil aufzuheben. Mit am 14. September 2011 zugestelltem Beschluss vom 30. August 2011 hat das Amtsgericht den Zulassungsantrag mit der Begründung, die Beschwerdeanträge seien zu spät angebracht worden, verworfen. Mit am selben Tage bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom 14. September 2011 hat der Betroffene dagegen Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts gestellt.
    1. Der gemäß § 80 Abs. 4 Satz 2 OWiG i.V.m. § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO statthafte und fristgerecht gestellte Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts hat Erfolg. Da gemäß
    §§ 79 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4, 80 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 341 Abs. 1 StPO die einwöchige Frist für die Stellung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde am 12. Juli 2011 abgelaufen wäre, dauerte die sich gemäß §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 345 Abs. 1 Satz 1 StPO daran anschließende einmonatige Frist für die Stellung der Beschwerdeanträge und deren Begründung gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 43 Abs. 2 StPO bis zum 15. August 2011, da der 13. August 2011 ein Sonnabend war.
    2. Die Rechtsbeschwerde war gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, da es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben.
    a) Die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe dem Antrag des Betroffenen, ihn gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der gesetzlichen Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, zu Unrecht nicht entsprochen und daher durch die Verwerfung seines Ein-spruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, ist ordnungsgemäß ausgeführt. Der sonst im Rahmen einer Gehörsrüge erforderlichen Darlegung, was der Betroffene in der Hauptverhandlung vorgetragen hätte, bedarf es im vorliegenden Fall nicht, da der Betroffene nicht rügt, dass ihm eine Stellungnahme zu entscheidungserheblichen Tatsachen verwehrt worden sei, sondern dass das Gericht seine Erklärung zur Sache in dem Entbindungsantrag seines Verteidigers nicht ausreichend zur Kenntnis genommen hat (vgl. Brandenburgisches OLG, NZV 2003, 432).
    b) Die Rüge ist auch begründet. Dem steht nicht entgegen, dass der Richterin bei Urteilserlass der vom Verteidiger für den Betroffenen gestellte Entbindungsantrag nicht bekannt war. Denn zum einen ist das Telefax rechtzeitig vor dem Beginn der Hauptverhandlung bei Gericht eingegangen, denn es lag etwa zwei Stunden vor Beginn der Hauptverhandlung der Geschäftsstelle der zuständigen Abteilung des Amtsgerichts vor und war mit umfassenden, hervorgehobenen Hinweisen auf die besondere Eilbedürftigkeit und das Erfordernis der sofortigen Vorlage an den Richter versehen. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, dass bei gehöriger gerichtsinterner Organisation das Fax der Tatrichterin rechtzeitig hätte zugeleitet werden können (vgl. Senat, Beschluss vom 12. September 2011 - 3 Ws (B) 480/11; OLG Bamberg, NStZ-RR 2008, 86). Der von der General-staatsanwaltschaft Berlin in ihrer Stellungnahme zur Rechtsbeschwerde zitierten Rechtsansicht des OLG Hamm (DAR 2011, 539) folgt der Senat nicht. Abgesehen davon, dass es sich insoweit lediglich um ein obiter dictum handelt und das Gericht nur Bedenken gegen die im dortigen Fall von der Generalstaatsanwaltschaft angenommene Rechtzeitigkeit der Stellung des Entbindungsantrages geäußert hat, ging das Telefax im dortigen Fall erst eineinhalb Stunden vor Terminsbeginn bei Gericht ein und lassen die Gründe der Entscheidung nicht erkennen, ob es zum Beginn der Hauptverhandlung lediglich der zentralen Faxeingangsstelle des gesamten Gerichts oder - wie im vorliegenden Fall - der Geschäftsstelle der für die Durchführung der Haupt-verhandlung zuständigen Abteilung vorlag.
    Zum anderen muss sich der Tatrichter, wenn überraschend weder der Betroffene noch sein Verteidiger zum Termin erschienen sind, aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass eines Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG bei der Geschäftsstelle vergewissern, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt, da erfahrungsgemäß die Geschäftsstelle eines Gerichts auch noch kurz vor einem Hauptverhandlungstermin telefonisch oder per Telefax Mitteilungen erreichen, die das Nichterscheinen des Betroffenen vor Gericht betreffen, sei es, dass mit ihnen Anträge auf Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen gestellt, sei es, dass Hinderungsgründe für das Nichterscheinen vorgetragen werden (vgl. Senat, VRS 116, 454 m.w.N.; OLG Düsseldorf, VRS 96, 130 (131); OLG Köln, NStZ-RR 2003, 54; OLG Bamberg, NStZ-RR 2009, 149). Ausweislich der Akte sind solche Erkundigungen von der zuständigen Richterin jedoch nicht eingeholt worden.
    c) Der Betroffene wäre vorliegend auch nach § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Anwesenheitspflicht zu entbinden gewesen. Da der Entpflichtungsantrag gemäß § 74 Abs. 1 OWiG die Durchführung einer Hauptverhandlung in Abwesenheit des Betroffenen ermöglicht und damit seine Rechtsstellung mindert, bedarf der einen solchen stellende Verteidiger einer - über die Verteidigervollmacht hinausgehenden - schriftlichen Vertretungsvollmacht (vgl. Senat, VRS 120, 200 m.w.N.). Eine solche Bevollmächtigung war vorliegend schriftlich nachgewiesen. Da der Entbindungsantrag an keine besondere Form gebunden ist, genügt, wenn sich aus den Ausführungen des Betroffenen ergibt, dass er von seiner Präsenzpflicht entbunden werden will. Einen dahingehenden Antrag stellt daher auch derjenige, der - wie vorliegend - unmissverständlich zum Ausdruck bringt, im Termin nicht er-scheinen zu wollen (vgl. Senat, Beschluss vom 5. November 2010 - 3 Ws (B) 541/10 -). Liegen die weiteren Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vor, ist der Betroffene zu entbinden. Der Tatrichter hat keinen Beurteilungsspielraum. Übergeht er daher ein dahingehendes Begehren des Betroffenen, verletzt er dessen Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. Senat, a.a.O.; BayObLG DAR 2000, 578). So liegt der Fall hier, denn der Betroffene hatte mit dem Schriftsatz seines Verteidigers vom 22. Juni 2011 eingeräumt, das Fahrzeug zum Tatzeitpunkt gefahren zu haben, jedoch die Ordnungswidrigkeit als solche bestritten, an-gekündigt, sich darüber hinaus in der Hauptverhandlung nicht in der Sache äußern zu wollen, und erklärt, deshalb auch nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen zu wollen.
    Danach war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

    RechtsgebieteOWi, Verfahrensrecht, persönliches ErscheinenVorschriften§ 80 Abs. 4 Satz 2 OWiG i.V.m. § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO