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  • 01.05.2005 | Unfallschadensregulierung

    Die aktuelle Rechtsprechung des BGH zur 130-Prozent-Abrechnung

    von VRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf

    In der April-Ausgabe haben wir Ihnen kurz die beiden wichtigen BGH-Urteile vom 15.2.05 zur 130-Prozent-Abrechnung vorgestellt (VA 05, 59 f., Abruf-Nrn. 050707 + 050708). Nachfolgend informieren wir Sie ausführlich über die Konsequenzen der aktuellen Rechtsprechung für die anwaltliche Praxis.  

     

    Die beiden BGH-Fälle im Überblick

    Fall 1: unvollständige Reparatur in Eigenregie (keine Fremdwerkstatt!)  

     

    Sachverhalt  

    Laut Gutachten des Kfz-Sachverständigen ergaben sich folgende Werte:  

     

    Reparaturkosten brutto  

    18.427,37 DM  

    Wiederbeschaffungswert  

    13.800,00 DM  

    Restwert  

    2.500,00 DM  

     

     

    Der Kläger reparierte sein Fahrzeug in Eigenregie teilweise und nutzte es weiter. Die beklagte Versicherung rechnete auf Totalschadensbasis ab (13.800 ./. 2.500 = 11.300). Der Kläger verlangte unter Hinweis auf den 130-Prozent-Modus einen weiteren Betrag von 6.640 DM. Das LG sprach ihm – nach Einholung eines Gutachtens zum Umfang der Reparaturarbeiten – einen Betrag in Höhe des Restwertes (2.500 DM) zu und wies die weitergehende Klage ab. Die Berufung des Klägers blieb erfolglos. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des OLG war das Fahrzeug weder vollständig noch fachgerecht repariert. Es seien Restunfallschäden vorhanden, die nur in einer Fachwerkstatt unter Einsatz einer Richtbank mit einem Kostenaufwand von 3.000 EUR zu beheben wären. Nach Einschätzung des BGH waren das keine unmaßgeblichen Restarbeiten.  

     

    Leitsatz 

    Ersatz von Reparaturaufwand bis zu 30 % über dem Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs kann nur verlangt werden, wenn die Reparatur fachgerecht und in einem Umfang durchgeführt wurde, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat (BGH 15.2.05, VI ZR 70/04, Abruf-Nr. 050708).  

     

    Fall 2: unvollständige Reparatur in Fremdwerkstatt  

     

    Sachverhalt 

    Das Gutachten des Sachverständigen enthielt folgende Angaben:  

     

    Reparaturkosten netto  

    6.044,41 EUR  

    Abzug „neu für alt“ (Ersatzteile)  

    185,79 EUR  

    Wiederbeschaffungswert brutto  

    5.450,00 EUR  

    Restwert  

    1.000,00 EUR  

     

     

    Der Kläger ließ das Fahrzeug für 1.800 EUR zzgl. 288 EUR USt. in einen verkehrssicheren und fahrbereiten Zustand versetzen. Von der beklagten Versicherung forderte er 5.858,62 EUR (= 6.044.41 ./. 185.79) zzgl. 288 EUR USt. aus der Reparatur. Auch er berief sich auf die 130-Pro- zent-Rechtsprechung. Das AG hat einen Ersatzanspruch nur in Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands (Wiederbeschaffungswert ./. Restwert) bejaht. Das wurde in zweiter Instanz bestätigt. Der Kläger habe sein Fahrzeug weder vollständig noch fachgerecht reparieren lassen. Deshalb könne er nur nach dem Wiederbeschaffungsaufwand abrechnen, wobei ihm jedoch wegen der bei der Reparatur tatsächlich angefallenen USt. von 288 EUR ein Steuerbetrag von 90 EUR (= 2 % des Wiederbeschaffungswertes) gut zu bringen sei. Die zugelassene Revision des Klägers war erfolglos. Bis auf die Zubilligung von USt. hat der BGH die Abrechnung des LG nach dem Wiederbeschaffungsaufwand gebilligt.  

     

    Leitsatz 

    Übersteigt der Kfz-Schaden den Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs, können dem Geschädigten Reparaturkosten, die über dem Wiederbeschaffungsaufwand des Fahrzeugs liegen, grundsätzlich nur dann zuerkannt werden, wenn diese Reparaturkosten konkret angefallen sind oder wenn der Geschädigte nachweisbar wertmäßig in einem Umfang repariert hat, der den Wiederbeschaffungsaufwand übersteigt. Andernfalls ist die Höhe des Ersatzanspruchs auf den Wiederbeschaffungsaufwand beschränkt (15.2.05, VI ZR 172/04, Abruf-Nr. 050707).  

     

    Im Anschluss an unseren Schwerpunktbeitrag in VA 04, 115 ff., informieren wir Sie nachfolgend, was nach den neuesten BGH-Entscheidungen geblieben ist wie bisher, was neu ist und was nach wie vor offen ist.  

     

    Konsequenzen für die Praxis

    Geblieben ist: 

    • Integritätsspitze: Ein Geschädigter kann Reparaturkosten (ggf. zuzüglich eines merkantilen Minderwerts) bis zu 30 % über dem ungekürzten Wiederbeschaffungswert abrechnen: M.a.W.: Den Integritätszuschlag („Integritätsspitze“) erkennt der BGH im Grundsatz weiterhin an.

     

    • Mindestvoraussetzung für den Zuschlag sind:
    • eine Reparatur (OLG Oldenburg VA 04, 96, Abruf-Nr. 041210, ist mithin nicht BGH-konform) und
    • eine Weiterbenutzung des Fahrzeugs.
    In beiden Punkten ist der Geschädigte beweispflichtig.

     

    • Reparatur in Eigenregie: Die Reparatur muss nicht in einer Fachwerkstatt gegen Rechnung durchgeführt worden sein, d.h. eine Instandsetzung in Eigenregie („Selbstreparatur“) kann im Einzelfall genügen (Leitentscheidung des BGH insoweit: der Mechaniker-Fall NJW 92, 1618, nicht etwa die Karosseriebaumeister-Entscheidung VA 03, 78, Abruf-Nr. 031070 = NJW 03, 2085, weil die kalkulierten Reparaturkosten dort nicht über, sondern unter dem Wiederbeschaffungswert lagen; ein weiterer Fall einer Eigenregie-Reparatur mit 130-Prozent-Problematik ist BGHZ 115, 364 = NJW 92, 302, wo die Reparaturkosten + Minderwert allerdings gleichfalls unter dem Wiederbeschaffungswert lagen).

     

    • Komplette Eigenreparaturen und Kombinationen von Eigen- und Fremdreparatur sind, wenn nicht gerade technisch versierte Personen wie Kfz-Mechaniker/Mechatroniker am Werk waren, spätestens auf der Beweisebene kaum zu halten. Es empfiehlt sich, eine fotogestützte Bescheinigung eines Sachverständigen über die Reparaturqualität einzuholen (nicht nur über die bloße Besichtigung). Der Geschädigte verbessert seine Position, indem er das reparierte Fahrzeug der Versicherung zur Besichtigung anbietet. Im Prozess ist der Antrag auf Einholung eines Gutachtens zum Nachweis der Vollständigkeit und Fachgerechtigkeit ein Muss; ferner: Augenschein.

     

    Neu ist: 

    • Reparaturqualität: Während der BGH in der Karosseriebaumeister-Entscheidung offen gelassen hat, ob es für den Integritätszuschlag auf die Qualität der Reparatur ankommt, steht diese von ihm bisher nicht ausdrücklich entschiedene Frage im Zentrum der jetzigen Entscheidungen.

     

    • Reparatur „fachgerecht“ und „vollständig“: Der BGH unterscheidet zwischen Qualität und Umfang der Instandsetzung. Mit den Begriffen „fachgerecht“ einerseits und „vollständig“ andererseits übernimmt er zwar die Schlüsselworte der instanzgerichtlichen Rechtsprechung, präzisiert den geforderten Qualitätsstandard jedoch unter Hinweis auf das Gutachten des Sachverständigen. Die Reparatur müsse fachgerecht und in einem Umfang durchgeführt werden, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht habe, so die neue Botschaft. M.a.W.: Instandsetzungsarbeiten, die umfangmäßig hinter den Vorgaben im Gutachten zurückbleiben, können noch so fachgerecht ausgeführt worden sein, gleichwohl ist der Geschädigte nicht zuschlagswürdig. Er fällt auf den Wiederbeschaffungsaufwand zurück ebenso wie im umgekehrten Fall einer vollständigen, aber in Teilbereichen nicht fachgerechten Reparatur. Bei Defiziten in beiden Punkten (wie in den aktuellen BGH-Fällen) hat er den Zuschlag ohnehin verspielt.

     

    • Kosten- oder Wertnachweis: Um den Zuschlag beanspruchen zu können, müssen die Reparaturkosten entweder konkret angefallen sein oder das Fahrzeug muss nachweisbar wertmäßig in einem Umfang repariert worden sein, der den Wiederbeschaffungsaufwand (nicht den Wiederbeschaffungswert!) übersteigt.

     

    • Restwert: Dass der nicht zuschlagswürdige Geschädigte trotz Teilreparatur und Weiterbenutzung seines Fahrzeugs auf den Wiederbeschaffungsaufwand beschränkt ist, der Restwert also abzuziehen ist, ist gleichfalls neu, zumindest eine wichtige und vor dem Hintergrund der Karosseriebaumeister-Entscheidung (VA 03, 78, Abruf-Nr. 031070) und insbesondere des VW-Käfer-Urteils BGH NJW 72, 1800 (kein Restwertabzug trotz Reparaturkosten über Wiederbeschaffungswert!) auch notwendige Klarstellung.

     

    • Umsatzsteuer: Neu ist schließlich die Behandlung der im Rahmen einer „Minimalreparatur“ tatsächlich angefallenen Umsatzsteuer (Ersatzteilkauf, Teilarbeiten in Werkstatt) bei allein zulässiger Abrechnung nach dem Wiederbeschaffungsaufwand ohne effektive Ersatzbeschaffung. Anders als das Berufungsgericht (LG Bochum) spricht sich der BGH für eine Netto-Abrechnung aus. Argument: Eine Kombination von konkreter und fiktiver Schadensabrechnung sei unzulässig.

     

    Weiterhin offen ist:  

     

    • Gebrauchte Ersatzteile: Wenn der BGH in der Qualitäts- und Umfangsfrage auch die strengere der beiden Positionen in der instanzgerichtlichen Judikatur übernommen hat (vgl. Eggert, VA 04, 116, Punkt 3; Ch. Huber, MDR 03, 1334, 1336 ff.), wobei ihm die Fachgerechtigkeit wichtiger zu sein scheint als die Vollständigkeit, gelten seine Aussagen doch nur für den Regelfall (II,2 b, bb in VI ZR 70/04, Abruf-Nr. 050708). Ausnahmen sind mithin denkbar. Welchen Rest-Spielraum Geschädigte haben, wird ein Streitpunkt bleiben. So wird man weiterhin darüber streiten, ob der Einsatz gebrauchter Ersatzteile mit dem Prädikat „fachgerecht“ vereinbar ist. Sieht das Gutachten, wie regelmäßig, den Einbau von fabrikneuen Originalersatzteilen vor, riskiert der Geschädigte den Integritätszuschlag schon bei Verwendung „qualitativ gleichwertiger Ersatzteile“ (Art. 1 Abs. 1 lit. u GVO 1400/2002) und erst recht beim Einsatz von Gebrauchtteilen, mögen sie auch qualitätsgesichert sein.

     

    • Alternative Reparaturmethoden: Setzt eine „fachgerechte“ Reparatur die strikte Einhaltung der Herstellervorgaben voraus, wie die Versicherer jetzt noch stärker betonen werden, bleibt auch dem Sachverständigen kein Raum für alternative Reparaturmethoden. Bei älteren Fahrzeugen und erst recht bei Oldtimern werden die Herstellerrichtlinien häufig nicht mehr greifbar sein. Dann entscheidet der Sachverständige nach seinem Ermessen. Wer das Risiko gutachterlicher Fehleinschätzung in diesem wie in anderen Punkten einer 130er-Kalkulation trägt, ist nicht eindeutig geklärt.

     

    • Versicherungsgutachten: Schon bisher gehörte es zum Schadensmanagement mancher Versicherer, bei eigener Vergabe von Gutachteraufträgen in Grenzfällen des Totalschadenbereichs alle denkbaren Nebenkosten sowie UPE, Stundenverrechnungssätze der markengebundenen Werkstätten, Verbringungs- und Entsorgungskosten unterstellen zu lassen. Sonst favorisierte Gebrauchtteile waren in diesen Fällen natürlich kein Thema. Ob ein Geschädigter, der sich auf ein solches Versicherungsgutachten eingelassen hat, bei kalkulierten Kosten jenseits der 130-Prozent-Grenze nicht mehr zuschlagswürdig ist, selbst wenn die konkreten Kosten einer Fachwerkstatt diesseits der Grenze liegen, kann weiterhin bezweifelt werden.

     

    • Werkstattzusage als Alternative: Dass selbst die Kalkulation des eigenen Sachverständigen nicht unbedingt allein maßgeblich ist, zeigt die VW-Käfer-Entscheidung (BGH NJW 72, 1800). Der VI. Zivilsenat hat sie in den jetzigen Urteilen mehrfach zitiert, ohne von ihr abzurücken. Seinerzeit lagen die gutachterlich geschätzten Reparaturkosten 33 % über dem Wiederbeschaffungswert. Man hatte jedoch die (später nicht eingehaltene) Zusage der Werkstatt, bei Verwendung auch gebrauchter Teile (!) deutlich näher an den Wiederbeschaffungswert heranzukommen.

     

    • Werkstattrisiko: Ungeklärt ist weiterhin, wer bei kalkulierten Reparaturkosten im Bereich zwischen 100 und 130 Prozent das sog. Werkstattrisiko trägt (s. Punkt 6 in VA 04, 115, 117).

     

    • Sonderfälle: Keine direkte Lösung bieten die aktuellen BGH-Entscheidungen ferner für folgende Konstellationen: Der Geschädigte verzichtet auf eine vorherige Kalkulation der Reparaturkosten durch einen Sachverständigen und erteilt einen Reparaturauftrag auf der Basis eines Kostenanschlags, ggf. mit kostendämpfenden Maßnahmen (z.B. Verzicht auf Metallic-Lackierung, Vereinbarung von Sonderkonditionen u.a.). Oder er lässt lediglich den Wiederbeschaffungswert gutachterlich ermitteln, um den Grenzwert für eine Instandsetzung zu kennen.

     

    • „Schamfrist“: Die notwendige Dauer der Weiterbenutzung des (reparierten) Fahrzeugs ist weiterhin ungeklärt. Alles unter sechs Monaten ist kritisch.

     

    • Zurückstellen der Reparatur: Wer mit der Reparatur längere Zeit wartet, läuft Gefahr, den Zuschlag einzubüßen (vgl. dazu OLG Saarbrücken, MDR 98, 1346). Auch das ist eine offene Frage.

    Quelle: Ausgabe 05 / 2005 | Seite 82 | ID 90845