Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • · Fachbeitrag · Fiktive Abrechnung/Reparaturkosten

    Das LG Darmstadt ruft das Ende der fiktiven Abrechnung aus ‒ Was ist davon zu halten?

    | Dies ist die November-Ausgabe 2018 von UE. Der Hinweis ist uns wichtig, weil Sie sonst denken können, es sei der 1. April und dies sei die Seite, mit der wir Sie in den April schicken möchten. Denn was nun folgt, ist nur schwer zu glauben. Aber es ist wahr. Das LG Darmstadt hat entschieden: Ab sofort gebe es keine fiktive Abrechnung mehr. |

    Die Folgen aus dem Urteil des LG Darmstadt

    • Abgerechnet werden könnten bei Kraftfahrzeugschäden nur noch konkret durch Rechnung nachgewiesene Positionen.

     

    • Auch die Geltendmachung von Nutzungsausfallentschädigung sei nicht mehr möglich, sondern nur noch die Geltendmachung von Mietwagenkosten. Denn wer ein Fahrzeug brauche, miete eins. Und wer keins mietet, brauche eben keins (LG Darmstadt, Urteil vom 05.09.2018, Az. 23 O 386/17, Abruf-Nr. 205002; das Urteil ist nicht rechtskräftig, es liegt in der Berufung dem OLG Frankfurt a. M. vor).

    Das LG Darmstadt hat sich vergaloppiert

    Zur Begründung bezieht sich das LG Darmstadt auf eine Entscheidung des Baurechtssenats des BGH. Der hatte für einen Schadenersatzanspruch aus einem baurechtlichen Vertragsverstoß entschieden, dass dabei nur konkret, und nicht fiktiv abgerechnet werden könne. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf das Regelungskonzept des § 643 BGB (BGH, Urteil vom 22.02.2018, AZ. VII ZR 46/17, Abruf-Nr. 200213).

     

    Das bezieht das LG Darmstadt nun auch auf schadenersatzrechtliche Ansprüche aus unerlaubter Handlung, wie sie bei einem Verkehrsunfall geltend gemacht werden können.

     

    Und dann schwingt sich das Gericht zu der Begründung auf, die fiktive Abrechnung sei ein Einfallstor für betrügerische Abrechnungen und für manipulierte und gestellte Unfälle und gehöre schon deshalb abgeschafft. Selbst wenn man das so sieht: Die Abschaffung der fiktiven Abrechnung im Schadenersatzrecht wäre Sache des Gesetzgebers. Da hat sich das Gericht wohl selbst in der Rolle des selbsternannten Gesetzgebers gesehen und alle Grundsätze der Gewaltenteilung über Bord geworfen.

    Wäre das gut, wäre das schlecht?

    Bevor wir begründen, warum das Urteil rechtlich unhaltbar ist, soll die „schadenpolitische“ Frage gestellt werden: Wäre eine solche Neujustierung schadenrechtlicher Grundsätze wünschenswert?

     

    UE-Leser sind Werkstätten, Schadengutachter und Rechtsanwälte. Für die Schadengutachter gilt: Ein nennenswerter Teil des Geschäfts basiert auf Fiktiv-Abrechnern. Das Geschäft fällt aber nicht weg, sondern wird anders.

     

    Laut LG Darmstadt kann der, der nicht repariert, nur den schadenbedingten Wertverlust beanspruchen, der sich bezogen auf den Unfalltag aus der Wertdifferenz zwischen dem Fahrzeug in unbeschädigten und im unfallbedingt beschädigten Zustand ergibt.

     

    Also muss der Gutachter dann diese beiden Werte ermitteln. Da wird es viel Streit geben, wie das denn gehen soll. Denn ein Fahrzeug mit 500 Euro kalkulierten Reparaturkosten lässt sich ja nicht unbedingt nur für 500 Euro weniger verkaufen, sondern vielleicht für lediglich 300 Euro weniger. Das gilt umso mehr, als dass Fiktivabrechnungen oft ältere Fahrzeuge betreffen. Wegen dieser Unklarheiten bleiben die Rechtsanwälte in diesem Segment der Schadenregulierung auch im Rennen.

     

    Die Werkstätten mögen darauf hoffen, dass dann mehr repariert wird. Das hofften sie aber schon zum Zeitpunkt der Schadenrechtsreform im Jahr 2002, als die Mehrwertsteuer aus der fiktiven Schadenabrechnung herausgestrichen wurde. Vergeblich, wie wir beobachtet zu haben meinen.

     

    Hinzu kommt: Immer dann, wenn ein Fahrzeug mit einem Unfallschaden unterhalb des wirtschaftlichen Totalschadens unrepariert in Zahlung genommen wird, führt das auch in eine fiktive Abrechnung. Dort nur die Wertdifferenz geltend machen zu können, wäre unerfreulich.

     

    Es mag sein, dass Unfallgeschädigte, die keine Nutzungsausfallentschädigung mehr bekommen, tatsächlich verstärkt zum Mietwagen greifen.

     

    Am Ende spielen diese Überlegungen jedoch keine entscheidende Rolle, denn das ist kein Wunschkonzert, sondern eine Rechtsfrage.

    Wie weit kann ein Richter gehen?

    Ein Richter ist an das Gesetz gebunden. Das kann man oft so oder so auslegen. Aber es gibt Auslegungshilfen, und da vor allem die Begründung zum Gesetzesentwurf. Darin steht, was sich der Gesetzgeber bei der Erstellung des Gesetzes gedacht hat.

     

    Über den erklärten Willen des Gesetzgebers kann ein Gericht nicht hinausgehen. Das ist hier aber eindeutig geschehen. Dabei kann dahingestellt bleiben, was der Baurechtssenat zur Abrechnung vertraglicher Schadenersatzansprüche in Bausachen gesagt hat. Denn das ist ein ganz anderes Thema.

     

    Ein Blick in die Gesetzesbegründung erleichtert die Rechtsfindung

    Es geht bei dieser Rechtsfrage, und so sieht es auch das LG Darmstadt, um § 249 Abs. 2 BGB. Der hat folgenden Wortlaut:

     

    • 1. Wer zum Schadenersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.
    • 2. Ist wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadenersatz zu leisten, so kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. Bei Beschädigung einer Sache schließt der nach Satz 1 erforderliche Geldbetrag die Umsatzsteuer nur ein, wenn und soweit sie tatsächlich angefallen ist.
     

    Der letzte Satz ist bei der Schadenrechtsreform im Jahr 2002 dem ansonsten seit dem 01.01.1900 unveränderten Text angefügt worden.

     

    Das Grundprinzip des Schadenersatzes ist, dass der Schädiger selbst wieder in Ordnung bringt, was er kaputt gemacht hat. Denn in Abs. 1 heißt es „… hat den Zustand herzustellen …“. Von Geld ist da keine Rede.

     

    Gemäß Abs. 2 kann der Geschädigte jedoch die Reparatur durch den Schädiger persönlich ablehnen, vielleicht weil er fürchtet, der Schädiger werde schlecht und möglichst billig reparieren. Stattdessen kann er „den dafür erforderlichen Gelbetrag“ verlangen, was heute wohl die Regel ist. Und nirgendwo ist bestimmt, dass er diesen Geldbetrag dann auch in die Reparatur stecken muss. Das ist Ausfluss seiner seit ewigen Zeiten von der Rechtsprechung anerkannten Dispositionsfreiheit und seiner Ersetzungsbefugnis.

     

    Wenn er das Geld aber nicht in die Reparatur steckt, fällt auch keine Mehrwertsteuer an. Die bekommt er seit 2002 dann auch nicht mehr erstattet.

     

    Allein die Existenz dieser Regelung zeigt doch, dass der Geschädigte fiktiv abrechnen darf. Sonst gäbe es dafür keinen Anwendungsfall.

     

    Die gesetzgeberische Intention im Jahr 2002 war, daran darf erinnert werden, in einem Satz zusammengefasst: „Wer sich das Geld in die Tasche steckt, soll sich die Mehrwertsteuer nicht dazu stecken.“

     

    Die Gesetzesentwurfsbegründung im Detail

    Der Schadenrechtssenat des BGH hat sich in mehreren Urteilen zur Interpretation des § 249 BGB auf die Begründung des Gesetzesentwurfs in der Bundestags-Drucksache 14/7752 bezogen.

     

    Darin hat der Gesetzgeber beschrieben, dass eine Änderung der Abrechnung bei nicht durchgeführter Reparatur erwogen wurde mit der Folge, dass dann ‒ wie im Darmstädter Urteil ‒ nur die Wertdifferenz erstattet werden soll.

     

    Dort heißt es auf Seite 14: „Bei Erarbeitung des Gesetzentwurfs ist auch eine noch grundlegendere Reform des Sachschadensrechts erwogen worden. Dabei stellte sich insbesondere die Frage, ob der gedankliche Ausgangspunkt der derzeitigen Schadensersatzpraxis, nach dem die fiktiven Reparaturkosten auch dann den Maßstab für die Berechnung der Schadenshöhe bilden, wenn der Geschädigte eine Reparatur gar nicht vornimmt, sondern einen anderen Weg zur Schadensbeseitigung wählt, ganz aufgegeben werden soll. Man könnte stattdessen überlegen, ob der Maßstab für die Höhe des Sachschadenersatzes nicht in allen Fällen danach bestimmt werden sollte, welche Maßnahmen der Geschädigte konkret zur Schadensbeseitigung ergreift. Im Falle einer durchgeführten Reparatur könnten dies z. B. die tatsächlichen Reparaturkosten, im Falle einer Ersatzbeschaffung die Differenz zwischen dem Wiederbeschaffungswert der Sache vor der Beschädigung und dem Restwert der Sache nach der Beschädigung sein. Und wenn der Geschädigte auf eine Reparatur oder Ersatzbeschaffung ganz verzichtet und sich damit gegen die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands entscheidet, könnte es unter rechtssystematischen Gesichtspunkten konsequenter sein, nur das Wertsummeninteresse zu ersetzen, nämlich die Differenz zwischen dem Verkehrswert der Sache im unbeschädigten und im beschädigten Zustand.“

     

    Dann aber beschreibt der Gesetzgeber, dass er sich ausdrücklich dagegen entschieden hat, und das mit guten Gründen:

     

    „Eine derart umfassende Reform des Sachschadensrechts hätte allerdings den Nachteil, dass dadurch eine langjährige und bis ins Einzelne ausdifferenzierte Rechtsprechung grundlegend in Frage gestellt würde. Für die erreichte Rechtssicherheit in diesem Bereich hätte das kaum abschätzbare Folgen. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass das derzeitige System der Schadensabwicklung auf der Grundlage fiktiver Reparaturkosten den Verkehrskreisen wohl vertraut ist und ‒ was seine technische Abwicklung betrifft ‒ im Wesentlichen reibungslos funktioniert. Vor diesem Hintergrund wurden die Überlegungen für eine umfassendere Reform des Sachschadensrechts zurückgestellt. Es empfahl sich vielmehr, mit der Regelung zum Nichtersatz von fiktiver Umsatzsteuer eine behutsame Korrektur an dem bestehenden System vorzunehmen und es im Übrigen der Rechtsprechung zu überlassen, das Sachschadensrecht zu konkretisieren und weiterzuentwickeln.“

     

    Wichtig | Ein Gericht kann sich nicht gegen die klare Entscheidung des Gesetzgebers stellen, am bisherigen System der fiktiven Abrechnung festzuhalten. Auch der „Weiterentwicklungsauftrag“ deckt das Darmstädter Urteil nicht. Die Gerichte sollen zwar das Sachschadenrecht „im Übrigen“ weiterentwickeln, aber nicht in dem Punkt kippen, den der Gesetzgeber ausdrücklich beibehält.

     

    Weitere Stellen in der Begründung

    Auf Seite 13 finden sich klare Hinweise, dass der Gesetzgeber die fiktive Abrechnung weiterhin beibehalten will, wenn auch um die Umsatzsteuer reduziert.

     

    • Zum einen: „Der Entwurf verfolgt bei Erhaltung der Dispositionsfreiheit des Geschädigten das Anliegen, den Grundgedanken einer konkreten Schadensabrechnung wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken und die Gefahr einer Überkompensation dadurch zu verringern, dass der Umfang des Schadensersatzes stärker als bisher daran ausgerichtet wird, welche Dispositionen der Geschädigte tatsächlich zur Schadensbeseitigung trifft. Zu diesem Zweck soll Umsatzsteuer nur noch dann und in dem Umfang als Schadensersatz erstattet werden, als sie zur Schadensbeseitigung tatsächlich angefallen ist. Der Ersatz ‚fiktiver‘ Umsatzsteuer wird ausgeschlossen.“

     

    • Zusammengefasst: Die Dispositionsfreiheit des Geschädigten bleibt erhalten. Weil jedoch die konkrete Schadenabrechnung „in den Mittelpunkt gerückt“ werden soll, wird die fiktive Abrechnung zwar nicht abgeschafft, aber unattraktiver gemacht.

     

    • Zum anderen: „Aus diesem Grund sah der Entwurf eines 2. Schadensersatzrechtsänderungsgesetzes aus der 13. Legislaturperiode vor, dass bei einer fiktiven Abrechnung von Sachschäden die öffentlichen Abgaben außer Ansatz bleiben sollten. Dieser Vorschlag ist indes auf vielfältige Kritik gestoßen. Dabei wurde vor allem bemängelt, dass der Begriff der „öffentlichen Abgaben“ zu unbestimmt und für die Rechtspraxis nicht handhabbar sei. Der Entwurf trägt dieser Kritik Rechnung und verzichtet auf einen Abzug sämtlicher öffentlicher Abgaben. Er sieht stattdessen vor, dass die gesetzliche Umsatzsteuer nur dann und nur insoweit zu ersetzen ist, als sie zur Schadensbeseitigung tatsächlich anfällt. Im Gegensatz zu dem Begriff der ‚öffentlichen Abgaben‘ ist der Verweis auf die gesetzliche Umsatzsteuer eindeutig und von der Praxis leicht zu handhaben. Die Umsatzsteuer bildet auch den größten Faktor unter den „durchlaufenden Posten“, der bei dem Geschädigten nur dann verbleiben soll, wenn er tatsächlich zur Schadensbeseitigung angefallen ist.“

     

    • Zusammengefasst: Bei der weiterbestehenden fiktiven Abrechnung wird man sinnvollerweise nicht mehr als die Mehrwertsteuer entfallen lassen können.

    Ausblick

    Es fällt schwer zu glauben, dass angesichts der glasklaren Stellungnahme des Gesetzgebers andere Gerichte der Idee des LG Darmstadt folgen werden. Und es bleibt abzuwarten, ob Versicherer überhaupt darauf anspringen. Denn nach unserer Einschätzung kann ein Versicherer kaum mehr sparen als bei der fiktiven Abrechnung:

     

    • Keine Mehrwertsteuer.
    • Der Widerstand bei den vielen Kürzungen ist sicher auch kleiner.
    • Verzögerungen bei der Reparatur durch Ersatzteilrückstand und andere Widrigkeiten gibt es nicht.

     

    Summa summarum: Warten wir es ab.

     

    PRAXISTIPP | Wenn Sie in einem konkreten Fall die fiktive Abrechnung bevorzugen und der Versicherer auf das LG Darmstadt verweist, steht Ihnen der Textbaustein 465 „Fiktive Abrechnung weiterhin zulässig (H)“ → Abruf-Nr. 45566338 zur Verfügung. Sinnvollerweise sollte dann aber gleich ein Rechtsanwalt eingeschaltet werden, den Sie mit dem Textbaustein versorgen können.

     
    Quelle: Ausgabe 11 / 2018 | Seite 7 | ID 45558234