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  • · Fachbeitrag · Sachverständigenhonorar/Gutachten

    Bagatellgrenze: Handlungsempfehlungen für Kfz-Sachverständige und Kfz-Werkstätten

    | Ein Schadengutachten ist kein Discountprodukt. Manchen Versicherern scheint es per se zu teuer. Und so stellt sich stets die Frage nach der Erforderlichkeit im Sinne des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB. Für die Antwort ziehen die Versicherer gerne die sogenannte Bagatellgrenze heran - jedoch mit wesentlich höheren Werten (bis zu 5.000 Euro) als die gängige Rechtsprechung, die die Grenze zwischen 500 und 1.000 Euro zieht. Erfahren Sie, wie Sie auf diese Situation reagieren sollten. |

    Sinn und Zweck des Schadengutachtens im Auge behalten

    Einem Schadengutachten liegt die Analyse des Schadens zugrunde, die Festlegung eines sinnvollen Reparaturwegs und die Kalkulation der zu prognostizierenden Reparaturkosten. Darüber hinaus wird der Schaden fotografisch dokumentiert, und zwar hoffentlich so gut, dass die Bilder auch bei den seltenen, dann aber kolossal wichtigen unfallanalytischen Gutachten taugen. Letztlich überprüft der Schadengutachter die Plausibilität der Schäden im Hinblick auf die grobe Unfallschilderung.

     

    Zweck des Schadengutachtens ist es, dem Geschädigten, der in der Regel Laie ist und keine technisch-kalkulatorischen Kenntnisse hat, einen Leitfaden für die Wiederherstellung des vorherigen Zustandes zu geben. Es soll die Waffengleichheit und Augenhöhe zwischen dem geschädigten Laien und den Expertentruppen des Versicherers herstellen.

     

    Deshalb ist das Schadengutachten eines vom Geschädigten ausgesuchten neutralen Sachverständigen eine schadenrechtliche Selbstverständlichkeit.Allerdings zieht die Rechtsprechung eine Bagatellgrenze. Erst ab deren Überschreitung gilt das Schadengutachten als erforderlich.

    Das grundlegende Urteil des BGH zur Bagatellgrenze

    Grundlegend hat sich der BGH anhand eines Unfallschadens in Höhe von etwa 715 Euro brutto zuletzt mit der Frage nach dem Recht auf ein Schadengutachten befasst. In diesem Fall war ein Kind mit einem Fahrrad gegen eine Autotür gekippt (BGH, Urteil vom 30.11.2004, Az. VI ZR 365/03, Abruf-Nr. 043098).

     

    Da sagt der BGH unter Rückgriff auf frühere Urteile: „Die Kosten eines Sachverständigengutachtens gehören zu den mit dem Schaden unmittelbar verbundenen und gemäß § 249 Abs. 1 BGB auszugleichenden Vermögensnachteilen, soweit die Begutachtung zur Geltendmachung des Schadenersatzanspruchs erforderlich und zweckmäßig ist (vgl. BGH, Urteil vom 29.11.1988, Az. X ZR 112/87 - NJW-RR 1989, 953, 956). Ebenso können diese Kosten zu dem nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB erforderlichen Herstellungsaufwand gehören, wenn eine vorherige Begutachtung zur tatsächlichen Durchführung der Wiederherstellung erforderlich und zweckmäßig ist (vgl. Senatsurteil vom 6. November 1973, Az. VI ZR 27/73 - VersR 1974, 90).“

     

    Und weiter sagt er: „Für die Frage der Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit einer solchen Begutachtung ist auf die Sicht des Geschädigten zum Zeitpunkt der Beauftragung abzustellen (vgl. zur Beauftragung eines Rechtsanwalts Senatsurteil vom 8. November 1994 - VI ZR 3/94 - NJW 1995, 446, 447). Demnach kommt es darauf an, ob ein verständig und wirtschaftlich denkender Geschädigter nach seinen Erkenntnissen und Möglichkeiten die Einschaltung eines Sachverständigen für geboten erachten durfte.“

     

    Sodann kommt er zum Ergebnis: „Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Beauftragung eines Sachverständigen sei erforderlich gewesen, weil der Schaden im Streitfall mehr als 1.400 DM (715,81 Euro) betragen habe und es sich deshalb nicht um einen Bagatellschaden gehandelt habe, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Betrag liegt in dem Bereich, in dem nach allgemeiner Meinung die Bagatellschadensgrenze anzusiedeln ist (vgl. MünchKommBGB/Oetker, 4. Aufl., § 249 BGB, Rn. 372 m.w.N.; Wussow/Karczewski, 15. Aufl., Kap. 41, Rn. 6 m.w.N.)“

    Ein Blick auf die Rechtsprechung der Amts- und Landgerichte

    Die Amts- und Landgerichte orientieren sich bis heute an diesem Urteil des BGH. Auf breiter Front sind die 750 Euro brutto die Messlatte mit kleinen Schwankungen nach oben und nach unten.

     

    Wichtig | Wenn ein einzelnes Gericht einen Fall hat und nur entscheidet, ob der die Bagatellgrenze überschreitet, ohne eine Untergrenze zu nennen, sind die in der folgenden Übersicht als „jedenfalls“ gekennzeichnet.

     

    • Bagatellgrenze in der Rechtsprechung der Amts- und Landgerichte

    Bagatellgrenze

    Gericht

    Etwa 500 Euro brutto

    LG Stendal, Urteil vom 8.5.2013, Az. 22 S 122/12, Abruf-Nr. 131693

    AG Frankfurt/Main, Urteil vom 21.12.2007, Az. 32 C 2716/07 - 18, Abruf-Nr. 080475 (500 bis 600 Euro)

    Etwa 700 Euro brutto

    LG Coburg, Urteil vom 20.7. 2007, Az. 33 S 36/07, Abruf-Nr. 072492

    AG Augsburg, Urteil vom 14.4.2016, Az. 16 C 1206/16, Abruf-Nr. 185717

    AG Böblingen, Urteil vom 19.9.2012, Az. 20 C 1443/12, Abruf-Nr. 123405

    AG Heidenheim, Urteil vom 20.4.2005, Az. 7 C 204/05, Abruf-Nr. 060425

    AG Wesel, Urteil vom 30.1.2015, Az. 26 C 414/14, Abruf-Nr. 143959

    Bagatellgrenze

    Gericht

    Etwa 750 Euro brutto

    LG Stuttgart, Urteil vom 19.11.2008, Az. 4 S 255/07, Abruf-Nr. 084014

    AG Albstadt, Urteil vom 28.3.2014, Az. 5 C 663/13, Abruf-Nr. 141238, „… liegt bei maximal 800 Euro.“

    AG Berlin-Mitte, Urteil vom 30.3.2012, Az. 114 C 3434/11, Abruf-Nr. 121820

    AG Hamburg, Urteil vom 30.3.2016, Az. 33a C 336/15, Abruf-Nr. 146768

    AG Köln, Urteil vom 3.9.2010, Az. 272 C 115/10, Abruf-Nr. 103003

    AG Leer, Urteil vom 27.8.2012, Az. 073 C 318/12, Abruf-Nr. 122839, mit dem Hinweis, dass es auf 50 Euro mehr oder weniger nicht ankomme

    Etwa 850 Euro brutto

    AG Ehingen, Urteil vom 6.10.2014, Az. 2 C 219/14, Abruf-Nr. 142965, jedenfalls bei diesem Betrag

    AG Bautzen, Urteil vom 29.11.2011, Az. 22 C 535/11, Abruf-Nr. 120046

    AG Eisenach, Urteil vom 7.7.2016, Az. 54 C 52/16, Abruf-Nr. 187781, „jedenfalls“

    Etwa 900 Euro brutto

    AG Neumünster, Urteil vom 29.03.2012, Az. 36 C 1109/10, „jedenfalls“

    Etwa 1.000 Euro brutto

    AG Böblingen, Urteil vom 10.6.2015, Az. 20 C 527/15, Abruf-Nr. 144802, jedenfalls bei 844 Euro netto

    AG München, Urteil vom 15.9.2015, Az. 344 C 16121/15, Abruf-Nr. 145511

    AG Nördlingen, Urteil vom 16.5.2014, Az. 1 C 140/14, Abruf-Nr. 141582, jedenfalls bei 915 Euro netto

    AG Ulm, Urteil vom 23.6.2016, Az. 1 C 933/15, Abruf-Nr. 187106, „jedenfalls“

    Ohne konkrete Bezifferung

    AG Halle/Saale, Urteil vom 7.6.2016, Az. 95 C 4070/15, Abruf-Nr. 186868, jedenfalls bei 1.100 Euro

    AG Magdeburg, Urteil vom 20.3.2014, Az. 122 C 3124/13, Abruf-Nr. 141388, Bagatellgrenze liegt deutlich unter 1.000 Euro

    AG Leverkusen, Urteil vom 4.1.2007, Az. 25 C 62/05, bei 553,58 Euro Schadenhöhe, wenn wegen eines Altschadens ein Neu-für-alt-Abzug zu beachten ist

     

    Keine Garantie für korrektes Verhalten der Versicherer

    Trotz dieser recht eindeutigen Rechtsprechung behaupten Versicherer in Telefonaten mit Geschädigten selbst bei sehr deutlich vierstelligen Schadenhöhen, teils bei Beträgen von 5.000 Euro, dass die Kosten für ein Schadengutachten nicht erstattet werden. Davon darf man sich nicht beeindrucken lassen. Nur die wenigsten Versicherer halten das bei Schäden jenseits von 1.500 Euro dann auch durch. Darunter wird oft gekämpft, wie man an den Urteilen sieht. Doch die Erfolgsaussichten sind eindeutig vorherzusehen.

    Muss der Schadengutachter den Geschädigten aufklären?

    Ob es eine Rechtspflicht des Schadengutachters gibt, den Geschädigten durch Aufklärung vor dem Lauf in das offene Messer zu bewahren, kann dahingestellt bleiben. Vermutlich wird man das aber bejahen müssen.

     

    Die Rechtsfrage wird durch die Praxis überholt: Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Geschädigten mit der Beauftragung des Gutachters oftmals dem sehr guten Rat der Werkstatt oder des Rechtsanwalts folgen. Flankiert ist dieser Rat in aller Regel von der Bemerkung, dass das den Geschädigten jedenfalls im Ergebnis nichts kostet, weil der Versicherer die Kosten erstattet.

     

    PRAXISHINWEIS | In dieser Dreieckskonstellation wäre es fatal, wenn der Geschädigte am Ende auf Kosten sitzen bliebe, weil ein von ihm nicht als solcher erkannter Bagatellschaden vorlag.

     

    Gutachten - Schadenprognose - Kostenvoranschlag

    „Kein Gutachten“ heißt noch lange nicht „Kein Gutachter“. Die These der Versicherer, bei Unterschreiten der Bagatellgrenze müsse der Geschädigte statt eines Gutachtens zwingend einen Kostenvoranschlag der Werkstatt einholen, ist schlicht falsch.

     

    Der Geschädigte darf auch dann den Gutachter bemühen, denn auf dessen Neutralität darf er auch bei kleineren Schäden setzen. Allerdings muss der Geschädigte den Schadengutachter dann mit der Erstellung eines Produkts beauftragen, das der Situation angepasst ist.

     

    Das mag eine mit zwei oder drei Bildern garnierte Schadenprognose sein, die einen der Situation angepassten Preis hat. Die Kosten dafür muss dann der gegnerische Haftpflichtversicherer erstatten (AG Berlin-Mitte, Urteil vom 24.9.2013, Az. 102 C 3011/13, Abruf-Nr. 133155; AG Böblingen, Urteil vom 28.1.2014, Az. 2 C 2391/13, Abruf-Nr. 140469; AG Hannover, Urteil vom 24.4.2013, Az. 562 C 1157/13, Abruf-Nr. 132191; AG Heidenheim, Urteil vom 27.12.2013, Az. 5 C 699/13, Abruf-Nr. 140087).

     

    PRAXISHINWEIS | Immer dann, wenn die Werkstatt als Bote des Kunden an den Schadengutachter herantritt, ist Folgendes sinnvoll: Der Werkstattmitarbeiter bespricht mit dem Kunden, dass er den Wunsch des Geschädigten an den Sachverständigen weitergibt, der Schadengutachter möge in eigener Verantwortung das passende Produkt erstellen. Damit übernimmt der Sachverständige auch die Verantwortung für die Erstattungsfähigkeit im Rahmen der Rechtsprechung: Schießt er über das Ziel hinaus, ist das sein Problem.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Beitrag „Reparatur gemäß Gutachten: Neue Urteile und Reaktionen“, UE 9/2016, Seite 6
    Quelle: Ausgabe 09 / 2016 | Seite 12 | ID 44203448