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  • · Fachbeitrag · Teilzeit

    Mehrarbeitszuschläge für Teilzeitbeschäftigte: Konsequenzen des EuGH-Urteils für die Praxis

    von RA Dr. Christian Schlottfeldt, www.arbeitszeitkanzlei.de, Berlin

    | Der EuGH sieht eine Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten, wenn sie Mehrarbeits- und Überstundenzuschläge erst ab Überschreitung der für Vollzeitbeschäftigte geltenden Grenzen erhalten. Das Urteil gibt Anlass, nicht nur die juristische, sondern auch die konzeptionelle „Stimmigkeit“ der Abgrenzung von Mehrarbeit und Überstunden in den betrieblichen Arbeitszeit- und Vergütungsregelungen zu überprüfen. |

    Um diesen Fall ging es vor dem EuGH

    Geklagt hatte ein teilzeitbeschäftigter Pilot der LufthansaCityLine. Der für ihn geltende Tarifvertrag knüpfte Mehrarbeitszuschläge an die Überschreitung festgelegter Grenzen der monatlich geleisteten Flugdienststunden. Diese Auslösegrenzen waren für Voll- und Teilzeitbeschäftigte identisch.

     

    Der Pilot musste also mehr Stunden oberhalb seiner Soll-Arbeitszeit leisten als ein vollzeitbeschäftigter Pilot, um in den Genuss der Mehrarbeitsvergütung zu kommen. Das Unternehmen begründete die einheitlichen Auslösegrenzen damit, dass dadurch ‒ unabhängig von der individuell vereinbarten Arbeitszeit ‒ eine besondere Arbeitsbelastung bei Überschreitung dieser Grenzen ausgeglichen werden solle. Das BAG legte den Fall dem EuGH vor.

    EuGH bejaht Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten

    Der EuGH hält das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten ‒ in Deutschland in § 4 Abs. 1 TzBfG verankert ‒ auf die Frage der Mehrarbeitszuschläge für anwendbar (EuGH, Urteil vom 19.10.2023, Rs. C-660/20, Abruf-Nr. 238997).

     

    Einheitlicher Schwellenwert erfordert objektive (Belastungs-)Kriterien

    Bei einheitlichen Schwellenwerten für Überstundenvergütungen könnten sich, so der EuGH, nachteilige Auswirkungen auf teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer ergeben. Es bedürfe deshalb eines sachlichen Grundes, um eine solche Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

     

    Allein der Umstand, dass die Ungleichbehandlung gegenüber Vollzeitbeschäftigten auf einen Tarifvertrag zurückgeht, ist dabei für den EuGH kein sachlicher Grund. Vielmehr müsse die unterschiedliche Gewährung von Zuschlägen durch „genau bezeichnete, konkrete Umstände“ auf der Grundlage „objektiver und transparenter Kriterien“ gekennzeichnet sein. Die einheitliche Zuschlagsgrenze müsse zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sein. Solche Umstände könnten sich etwa aus der Art der Aufgaben oder der Verfolgung eines sozialpolitischen Ziels ergeben.

     

    Monatsbezogene Schwellenwerte als Belastungsgrenzen sind fragwürdig

    Für den konkreten Fall des Piloten stellt der EuGH fest, dass sich die monatlich definierten Auslösegrenzen für Mehrarbeitsvergütungen als Belastungsgrenze weder auf objektiv ermittelte Werte noch auf wissenschaftliche Erkenntnisse oder allgemeine Erfahrungswerte stützen könnten. Hinsichtlich des Schutzes vor übermäßiger Belastung bezweifelt der EuGH, ob die Festlegung einheitlicher Auslösegrenzen überhaupt ein schlüssiges Schutzkonzept darstellen kann. Denn die individuellen Auswirkungen auf den Arbeitnehmer, die sich hier aus Arbeitsbelastung und flugspezifischen Zwängen ergeben, blieben dabei außer Betracht. Derartige einheitliche Grenzen könnten auch keine individuellen außerberuflichen Belastungen als Motiv für Teilzeitarbeit berücksichtigen.

     

    Einheitliche Schwellenwerte für Zuschläge könnten sich sogar kontraproduktiv auswirken, indem sie für das Unternehmen einen wirtschaftlichen Anreiz darstellen, gerade teilzeitbeschäftigte Piloten oberhalb ihrer individuellen Arbeitszeit einzusetzen und damit bei diesen Arbeitnehmern zusätzliche Belastungen zu erzeugen. Wirtschaftliche Gründe seien aber kein legitimer Grund für eine Ungleichbehandlung. Sofern ein System der Überstundenvergütung tatsächlich vor Überlastung schützen wolle, so der EuGH, seien Regelungen zum Freizeitausgleich, zu Ruhetagen oder etwa wöchentliche (statt monatliche) Schwellenwerte mutmaßlich sinnvoller.

    Konsequenzen und Empfehlungen für die betriebliche Praxis

    Aus dem Urteil ergeben sich folgende Konsequenzen und Überlegungen:

     

    Entscheidung des BAG zur Umsetzung des EuGH-Urteils abwarten

    Das Urteil des EuGH wirkt nur für den Rechtsstreit, den das BAG dem EuGH vorgelegt hat. Das BAG muss jetzt unter Beachtung der Ansicht des EuGH entscheiden. Es muss sich dabei im Einzelnen mit der Frage auseinandersetzen, ob und inwieweit die monatlichen Auslösegrenzen für Mehrarbeitsvergütung sachlich begründbar sind. Als Belastungsgrenzen dürften die monatlichen Schwellenwerte keinen Bestand haben. Ob das BAG andere Aspekte erkennt, die derartige Regelungen tragen können, bleibt abzuwarten.

    PRAXITIPP | Arbeitgeber sollten die Entscheidung des BAG und ihre Begründung abwarten und nicht vorschnell ihre betrieblichen Regelungen zur Mehrarbeitsvergütung anpassen. Akute Streitfälle um Überstunden- und Mehrarbeitszuschläge sollten bis dahin möglichst „ruhend“ gestellt werden.

     

     

    Bei Beibehaltung einheitlicher Zuschlagsgrenzen innerhalb eines längeren Betrachtungszeitraums (Arbeitszeitvolumen pro Monat, Quartal, Jahr) muss man damit rechnen, dass Teilzeitbeschäftigte Anspruch auf proportionale Herabsetzung solcher Schwellenwerte für Mehrarbeits- und Überstundenzuschläge haben. Die Ansprüche können im Rahmen arbeits- oder tarifvertraglicher Ausschlussfristen auch rückwirkend geltend gemacht werden.

     

    Das Arbeitszeitgesetz kennt keine „Mehrarbeit“ oder „Überstunden“

    Es gibt in Deutschland ‒ entgegen einem verbreiteten Rechtsgefühl ‒ keine gesetzlichen Ansprüche auf Mehrarbeits- oder Überstundenzuschläge. Das Arbeitszeitgesetz kennt die Begriffe „Mehrarbeit“ und „Überstunde“ gar nicht. Es ist also „vergütungsneutral“ und beschränkt sich auf die Sicherstellung des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer.

     

    Im Rahmen der gesetzlichen Höchstarbeitszeit (grundsätzlich maximal zehn Stunden/Tag und durchschnittlich acht Stunden/Werktag (Mo-Sa) bzw. 48 Stunden/Woche innerhalb eines Betrachtungszeitraums von 24 Wochen oder sechs Kalendermonaten, u. a. für Nachtarbeitnehmer gelten aber engere Grenzen) gibt es also keine zwingenden Vorgaben für eine (Zusatz-)Vergütung bei Überschreitung der vertraglichen oder betriebsüblichen Arbeitszeit. Dies gilt übrigens auch für Sonn- oder Feiertagsarbeit. Lediglich Nachtarbeit von Nachtarbeitnehmern muss durch Zusatzfreizeit oder -entgelt besonders honoriert werden. Regelungen für Überstunden- und Mehrarbeitszuschläge sind also grundsätzlich veränderbar.

     

    „Teilzeit-Check“ für betriebliche und tarifvertragliche Vergütungssysteme

    Für Unternehmen empfiehlt es sich, das betriebliche (und ggf. tarifvertragliche) Vergütungssystem einem „Teilzeit-Check“ zu unterziehen und ggf. anzupassen. Dabei sollte auch die Frage gestellt werden, welchen Sinn klassische Mehrarbeits- und Überstundenzuschläge überhaupt noch in flexiblen Arbeitszeitsystemen haben. So wäre es etwa denkbar, dass man solche Zuschläge an anderer Stelle in das betriebliche Vergütungssystem einbringt ‒ z. B. als Honorierung von Zusatzqualifikationen (Förderung der Einsatzflexibilität) und/oder besonders kurzfristiger Arbeitszeitflexibilität.

     

    Bei der Neuausrichtung der Zuschlagsstruktur sind eventuelle tarifvertragliche Vorgaben und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmervertretung (im Betriebsverfassungsrecht insbesondere § 87 Abs. 1 Nr. 10 u. 11 BetrVG) zu beachten.

     

    Angemessene Kompensation von Belastungen durch „Geld“ oder „Zeit“?

    Sofern Entgeltzuschläge weiterhin an den Umfang der geleisteten Arbeitszeit anknüpfen sollen, sind tägliche oder wöchentliche „Einheitsgrenzen“ jedenfalls dann zulässig, wenn sie sich auf konkrete Erkenntnisse über die Verstärkung von Belastungen aufgrund der Dauer der Arbeitszeit stützen können.

     

    Der Aspekt der Gefahr der Setzung falscher Anreize bei materiellen Kompensationen für verlängerte Arbeitszeiten sollte aber auch hier beachtet werden. Und ganz grundsätzlich mag man überlegen, ob Belastungen aufgrund besonderer Arbeitsintensität durch Geldzahlungen kompensiert werden können. Auch der EuGH weist auf die Alternative des Freizeitausgleichs hin. Entsprechende Regelungen könnten auch zur Umsetzung der von vielen Beschäftigten gewünschten Verbesserung der Spielräume für individuelle Zeitinteressen (Schlagworte: „Vier-Tage-Woche“; „Wahl-Arbeitszeit“) beitragen ‒ was zugleich der Steigerung der Arbeitgeberattraktivität dient.

    Quelle: Ausgabe 03 / 2024 | Seite 64 | ID 49861433

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