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  • · Fachbeitrag · Arzthaftung

    Wann muss die Hebamme bei Schwierigkeiten bei der Geburt einen Facharzt herbeirufen?

    von RA, FA MedizinR Philip Christmann, Berlin/Heidelberg, christmann-law.de

    | Zu den Kontrollpflichten der Hebamme unter der Geburt gehört, die Unterlage (Vorlage), auf der die Gebärende sitzt oder liegt, auf Blutungen zu kontrollieren. Bei auffälligen Blutungen ist die Hebamme verpflichtet, rechtzeitig den diensthabenden Gynäkologen herbeizurufen. Tut sie dies nicht, begeht sie einen groben Behandlungsfehler. Doch was heißt „rechtzeitig“? Nach Auffassung des Oberlandesgerichts (OLG) Rostock wartete eine Hebamme zehn Minuten zu lang (Urteil vom 05.11.2021, Az. 5 U 119/13). |

     

    Sachverhalt und Entscheidung

    Die werdende Mutter des späteren Klägers berichtete der Hebamme bei ihrem Eintreffen in der Klinik, dass sie zu Hause Blutungen erlitten habe. Die Hebamme legte das CTG an (das zeitlich Vorrang hat). Entgegen geltender Standards (s. u.) versäumte sie aber zunächst, die Vorlage auf Blutungen zu kontrollieren und die diensthabende Gynäkologin zu rufen. Erst nach weiteren zehn Minuten verständigte sie wegen Auffälligkeiten des CTGs die Ärztin. Bis zum Notkaiserschnitt hatte das Kind schon eine Sauerstoffunterversorgung erlitten und ist seither behindert. Das Gericht sah im Handeln der Hebamme einen groben Behandlungsfehler und verurteilte die Klinik und die Hebamme zur Zahlung von Schadenersatz und 300.000 Euro Schmerzensgeld.

     

    MERKE | Nach den Empfehlungen zur Zusammenarbeit von Hebamme und Ärztin/Arzt in der Geburtshilfe entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG; online unter iww.de/s5656) muss die Hebamme unmittelbar nach dem Anlegen des CTG die Vorlagen auf Blutungen kontrollieren und prüfen, ob lediglich eine (nicht alarmierende) Zeichnungsblutung vorliegt oder ob eine weitergehende Blutung gegeben ist. In letztem Fall muss die Hebamme unmittelbar und ohne jeden zeitlichen Verzug einen Facharzt rufen.

     

    Personalengpass erfordert Einhaltung der Fachstandards

    Oft betreut ein erfahrener Facharzt für Gynäkologie die gynäkologische Abteilung mehr oder minder allein (Assistenzärzte werden regelmäßig nicht allein in den Kreißsaal geschickt). Der Engpass verschärft sich dienstplanbedingt nach 17 Uhr und vor allem am Wochenende. Finden in der Klinik mehrere von Hebammen begleitete Geburten zugleich statt, so kann der Facharzt nicht alle Geburten beaufsichtigen. Hebammen können also den Facharzt nicht bei jeder Auffälligkeit oder Schwierigkeit hinzuziehen. Als Entscheidungshilfe dienen die geltenden Fachstandards.

     

    FAZIT | Die besonders haftungssensible Geburtshilfe ist wie die gesamte stationäre Behandlung personell „auf Kante genäht“ und wird es voraussichtlich auch bleiben. Daher sind die fachlichen Standards unbedingt einzuhalten. Obwohl im hiesigen Fall die Hebamme und die Klinik hafteten, kann in vergleichbaren Fällen auch der Chefarzt haftbar gemacht werden ‒ denn er ist für die Einhaltung des Fach-(Arzt-)Standards auf seiner Abteilung verantwortlich (CB 01/2020, Seite 18 ff.).

     
    Quelle: Ausgabe 04 / 2022 | Seite 12 | ID 47825858