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  • 21.09.2021 · IWW-Abrufnummer 224798

    Kammergericht Berlin: Beschluss vom 27.07.2021 – 3 Ws (B) 194/21

    Diese Entscheidung enhält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    In der Bußgeldsache gegen

    x

    wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit

    hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 27. Juli 2021 beschlossen:

    1. Auf den Antrag des Betroffenen auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 5. Juli 2021 aufgehoben.

    2. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 28. April 2021 aufgehoben.

    3. Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.

    Gründe:

    Das Amtsgericht hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten von Berlin nach § 74 Abs. 2 OWiG mit der Begründung verworfen, der Betroffene sei der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat das Amtsgericht als unzulässig verworfen. Es war der Auffassung, die Rechtsbeschwerdeanträge seien verspätet angebracht worden. Sowohl der hiergegen gerichtete Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts als auch die Rechtsbeschwerde selbst haben Erfolg.

    1. Das Amtsgericht hat die Rechtsbeschwerdebegründung unzutreffend als verspätet angesehen. Wird ein Urteil schon vor der Einlegung des Rechtsmittels zugestellt, so schließt sich die Rechtsmittelbegründungsfrist an die Einlegungsfrist an (vgl. BGHSt 36, 241). Bei der Berechnung der Begründungsfrist muss in diesem Fall zunächst der Ablauf der einwöchigen Einlegungsfrist (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 341 Abs. 1 StPO) festgestellt werden. Erst mit Ablauf dieser Frist beginnt die Monatsfrist nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO zu laufen.

    Hier wurde das angefochtene Urteil am 5. Mai 2021 zugestellt. Damit endete die einwöchige Einlegungsfrist mit Ablauf des 12. Mai 2021. Die einmonatige Begründungsfrist begann hiernach zu laufen, so dass der Eingang der Begründungsschrift am Montag, dem 14. Juni 2021, unter Berücksichtigung des § 43 Abs. 2 StPO rechtzeitig war.

    2. Die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe den Antrag des Betroffenen, ihn gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, übergangen und daher durch die Verwerfung seines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, ist ordnungsgemäß ausgeführt. Die Verfahrensrüge enthält alle notwendigen Darlegungen. So hat der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde vorgetragen, einen Antrag gestellt zu haben, von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden zu werden. Auch wurde dargelegt, wessen der Betroffene beschuldigt wird.

    Der sonst im Rahmen einer Gehörsrüge erforderlichen Darlegung, was der Betroffene in der Hauptverhandlung vorgetragen hätte, bedarf es hier nicht, weil er nicht rügt, dass ihm eine Stellungnahme zu entscheidungserheblichen Tatsachen verwehrt worden sei, sondern dass das Gericht den Entbindungsantrag seines Verteidigers nicht ausreichend zur Kenntnis genommen hat (vgl. Senat, Beschlüsse vom 5. Juni 2014 ‒ 3 Ws (B) 288/14 ‒ und 8. Juni 2011 ‒ 3 Ws (B) 283/11 ‒; Brandenburgisches OLG NZV 2003, 432).

    3. Die Rüge ist auch begründet, weil das Amtsgericht den Entpflichtungsantrag übergangen hat.

    Allerdings sind bei der Beurteilung des Sachverhalts alle ‒ hier durchaus vielschichtigen ‒ Umstände in den Blick zu nehmen. So war zu würdigen, dass der Entbindungsantrag erst am 27. April 2021, also dem Tag vor der Hauptverhandlung, angebracht wurde und erst um 17 Uhr beim Amtsgericht Tiergarten einging; die Hauptverhandlung fand am Folgetag um 12.50 Uhr statt. Der Schriftsatz des Verteidigers umfasste 13 Seiten. Vorangestellt waren, jeweils in Fettdruck, sechs Prozessanträge; der prozessual zentrale Entbindungsantrag war nicht darunter. Er tauchte erst auf Seite 6 des Schriftsatzes auf. Allerdings war auch er fett gedruckt, und dem Schriftsatz war auch der deutlich abgesetzte und unübersehbare Vermerk vorangestellt: „Eilt sehr! Bitte sofort vorlegen!“ Schließlich war zu bewerten, dass der Verteidiger den Schriftsatz direkt an das Telefaxgerät der Geschäftsstelle sandte und nicht an eine andere Nummer des Amtsgerichts, bei der gegebenenfalls nicht mit einer sofortigen Weiterleitung an die Geschäftsstelle und die Abteilungsrichterin zu rechnen gewesen wäre.  

    Der Fall zeigt Parallelen mit jener Fallgestaltung, aufgrund derer das OLG Düsseldorf seine „Gehörsrügefalle“-Rechtsprechung entwarf (vgl. OLG Düsseldorf VRR 2017, 16 [Volltext bei juris]; dem folgend OLG Oldenburg NJW 2018, 641). Nach dieser Rechtsprechung handelt der Verteidiger rechtsmissbräuchlich, der einen Entbindungsantrag in einem nur kurz vor der Hauptverhandlung übersandten unübersichtlichen Schriftsatz „versteckt“, weil er die Erhebung einer nachträglichen Gehörsrüge anstrebt und eigentlich gar nicht möchte, dass sein Antrag erkannt und beschieden wird.

    Dass der Verteidiger hier etwas Ähnliches wollte, ist denkbar. Tatsächlich war unter den Bedingungen eines üblicherweise dynamisch und komplex verlaufenden Sitzungstags (vgl. Senat NZV 2015, 253) nicht damit zu rechnen, dass die Abteilungsrichterin den Schriftsatz in der unter normalen Voraussetzungen gebotenen und üblichen Gründlichkeit und Sorgfalt liest. Auch befremdet der Aufbau des Schriftsatzes, dem zwar, einen prioritären Aufbau nahelegend, Prozessanträge vorausgestellt sind, der den an sich vorrangigen Entbindungsantrag aber erst unter ferner liefen enthält (S. 6). In die Bewertung, ob das Verteidigungsverhalten als rechtsmissbräuchlich erscheint, muss aber auch einfließen, dass der Verteidiger auf die Dringlichkeit seiner Eingabe unübersehbar hinwies und der Entbindungsantrag, wenn auch nicht wie andere Passagen unterstrichen, so doch immerhin fett gedruckt war. Entscheidend gegen die Bewertung als rechtsmissbräuchliches Verteidigungsverhalten spricht der Umstand, dass der Schriftsatz direkt an das Faxgerät der maßgeblichen Geschäftsstelle gerichtet war, so dass ‒ jedenfalls bei geordnetem Geschäftsgang ‒ eine Vorlage an die Richterin als sicher gelten konnte.  

    Der Entbindungsantrag hätte damit durch das Amtsgericht zur Kenntnis genommen und beschieden werden müssen. Dadurch, dass dies nicht geschah, ist der Betroffene in seinem grundrechtlich gewährleisteten Recht, vor Gericht gehört zu werden, verletzt. Das Urteil war daher aufzuheben, und das Amtsgericht wird erneut über die Sache zu befinden haben.

    RechtsgebieteGG, OWiG, StPOVorschriftenGG Art. 103 Abs. 1, OWiG §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 2, 79 Abs. 3, StPO §§ 43 Abs. 2, 341 Abs. 1, 345 Abs. 1