Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • 01.10.2006 | Trunkenheitsfahrt

    Blutalkoholfragen in der Praxis

    von RiOLG Detlef Burhoff, Münster/Hamm

    Blutalkoholfragen sind für Sie als Verteidiger wichtig, wenn  

    • dem Mandanten eine Blutprobe erst längere Zeit nach einem Verkehrsverstoß entnommen worden war und durch eine Rückrechnung ermittelt werden muss, wie hoch die BAK zur Tatzeit war;
    • Sie die Relevanz eines von Ihrem Mandanten behaupteten Nachtrunks überprüfen müssen;
    • es darum geht, ob nicht wegen der Höhe der BAK ggf. die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB anzunehmen sind bzw. waren.

     

    Auf Wunsch vieler Leser gehen wir auf die Probleme näher ein:  

     

    I. Rückrechnungsproblematik

    1. Ausgangssituation  

    Die sich durch eine Blutuntersuchung ergebende BAK bezieht sich grds. auf den Zeitpunkt der Blutprobenentnahme. Oft liegt der Zeitpunkt der Blutentnahme jedoch bis zu mehrere Stunden nach dem maßgeblichen Tatzeitpunkt. Dann muss der BAK-Wert im Zeitpunkt der Tat ermittelt werden. Das geschieht üblicherweise durch Rückrechnung. 

     

    Praxishinweis: Bei der Beurteilung des Beweisgrenzwertes der §§ 315c, 316 StGB und des Grenzwertes hinsichtlich § 24a StVG ist aber nicht grds. nur auf den Zeitpunkt des Ereignisses abzustellen. Der Tatbestand der alkoholischen Beeinflussung bzw. der der absoluten Fahrunsicherheit ist erst recht bereits erfüllt, wenn der entsprechende Wert zum Zeitpunkt der Blutprobenentnahme vorliegt. Eine Rückrechnung erfolgt in der Regel also nur, wenn die entsprechenden Werte zum Zeitpunkt der Blutentnahme nicht gegeben sind und sich der Beschuldigte bereits in der Abbauphase befunden hat. Dann ist eine Rückrechnung auf die Tatzeit erforderlich, weil der schon begonnene Abbau des Alkohols zum Zeitpunkt der Blutentnahme einen für den Tatbestand erheblichen, niedrigeren Wert als den letztlich ausschlaggebenden tatsächlich zur Tatzeit vorhandenen ermitteln ließ.  

     

    2. Voraussetzungen der Rückrechnung  

    Bei der Rückrechnung handelt es sich um eine Berechnung zu Lasten des Beschuldigten. Für die Rückrechnung der BAK von der Entnahmezeit auf die Tatzeit müssen verschiedene Faktoren bekannt sein:  

     

    • Zunächst kommt es besonders auf den Zeitpunkt der letzten Alkoholaufnahme (Trinkende) an. Dieser Zeitpunkt ist derjenige, in dem die Resorption des Alkohols von dem Magen-Darm-Trakt in das Blut des Beschuldigten vollständig erfolgt, wobei unmittelbar im Anschluss daran der Alkoholabbau durch Verbrennung beginnt.

     

    • Nach der Rspr. ist unter der Berücksichtigung der medizinischen Gesichtspunkte nur für die Zeit der im Anschluss an den Zeitpunkt der vollständigen Resorption beginnenden Abbauphase eine Rückrechnung möglich (BGH NJW 74, 246; BayObLG NZV 95, 117). Dabei wird mit einem statistisch gesicherten Mindestabbauwert von 0,1 Vol.-% gerechnet (BGH NJW 91, 852). Ein hiervon abweichender individueller/persönlicher Abbauwert ist nicht nachweisbar (BGH DAR 86, 91). Dieser Mindestwert stellt sicher, dass die Benachteiligung eines jeden Beschuldigten weitgehend ausgeschlossen ist.

     

    Praxishinweis: Das Gericht kann – falls sachverständig beraten – von diesem gleich bleibenden stündlichen Abbauwert abweichen. Dies kann Bedeutung haben für die Ermittlung der sog. Beweis- und Gefahrengrenzwerte (§ 24a StVG, §§ 315c, 316 StGB). Der Verteidiger muss dazu aber entsprechend vortragen und seinen Vortrag mit einem Beweisantrag sichern.

     

    • Für jede Rückrechnung der BAK auf die Tatzeit ist wegen des Resorptionsabschlusses erforderlich, dass das Ende der Resorptionszeit feststeht (BGH NJW 74, 246; zur Rückrechnung s. auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 4. Aufl., 2006, Rn. 441 ff.). Trotz der inter- und intraindividuellen Schwankungen der Resorptionsdauer legt die Rspr. der Rückrechnung grds. immer einen „normalen Trinkverlauf“ zu Grunde, und zwar dann, wenn eine Alkoholbelastung von 0,5 bis 0,8 Vol.-% pro kg Körpergewicht pro Stunde nicht überschritten wird (BGH NJW 74, 246). Wenn ein solcher „normaler Trinkverlauf“, also z.B. kein Sturztrunk, kein besonders langsames Trinken mit überdurchschnittlicher Alkoholbelastung anzunehmen ist, werden ohne die zusätzliche Hinzuziehung eines Sachverständigen die ersten beiden Stunden nach Trinkende nicht in die Rückrechnung eingezogen. Zu Gunsten des Beschuldigten wird vielmehr davon ausgegangen, dass sich während dieser Zeit die Alkoholkurve des Beschuldigten noch im zunehmenden Anstieg (Resorptionsphase) befand (BGH, a.a.O.).

     

    Praxishinweis: Das bedeutet, dass in derartigen (überwiegenden) Fällen eine Rückrechnung zu Ungunsten des Beschuldigten nur möglich ist, wenn zwischen Trinkende und Tatzeit mindestens zwei Stunden vergangen sind, es sei denn, dass mittels eines Sachverständigen eine dann maßgebliche kürzere Resorptionsphase nachgewiesen ist (kein grundsätzliches Verbot der Rückrechnung).

     

    3. Beispiel  

    T nimmt an einer Betriebsfeier teil, auf der Alkohol getrunken wird. Die Feier endet um 22.00 Uhr. T fährt um 23.00 Uhr mit seinem Pkw nach Hause. Er wird von Polizeibeamten beobachtet, die ihn jedoch zunächst nicht stellen können. Es wird dann der Wohnort des T ermittelt. Dort erscheint am anderen Morgen die Polizei und nimmt um 7.00 Uhr eine Blutprobe. Die BAK beträgt 0,7 Vol.-%. Wie hoch war die vorwerfbare BAK zum Unfallzeitpunkt?  

     

    Lösung:  

    Trinkende:  

    22.00 Uhr  

    Tatzeit:  

    23.00 Uhr  

    Resorptionsphase: 2 Stunden = Rückrechnungsbeginn  

    24.00 Uhr  

    BAK zur Entnahmezeit um 7.00 Uhr  

    0,70 Vol.-%  

    Abbau ab 24.00 Uhr: 7 x 0,10 Vol.-% =  

    0,70 Vol.-%  

    Vorwerfbare BAK zur Tatzeit also  

    1,40 Vol.-% 

     

    Damit kommt eine Strafbarkeit nach § 316 StGB in Betracht.  

     

     

    II. Nachtrunkeinlassung

    1. Ausgangssituation  

    Besondere Bedeutung im Zusammenhang mit der Rückrechnung hat eine Einlassung des Beschuldigten, er habe nach der Tat noch weiter Alkohol zu sich genommen (Nachtrunkbehauptung). Beim Rückschluss von der BAK zum Zeitpunkt der Blutentnahme auf die zum Zeitpunkt der Tat kann dann nämlich regelmäßig nicht mehr der erforderliche „normale Trinkverlauf“ unterstellt werden.  

     

    Praxishinweis: Wenn der Beschuldigte einen Nachtrunk behauptet, muss für die Berechnung der Tatzeit-BAK die Alkoholmenge des Nachtrunks ermittelt und von der festgestellten BAK abgezogen werden (zum Nachtrunk s. auch Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., § 316 Rn. 20 m.w.N.).  

     

    2. Nachtrunk als Schutzbehauptung?  

    Ob der Beschuldigte mit der Einlassung eines Nachtrunks Erfolg hat bzw. haben kann, hängt ab von  

    • der Glaubhaftigkeit der Einlassung und
    • der Relevanz der Einlassung.

     

    Die Gerichte neigen dazu, Nachtrunkeinwände als unrichtige Schutzbehauptungen des Angeklagten zu betrachten. Diese Auffassung ist jedoch grundsätzlich unrichtig, weil es keinen Erfahrungssatz gibt, wonach ein Autofahrer nach Fahrtabschluss keinen Alkohol mehr zu sich nimmt. Allerdings ist im Rahmen der freien Überzeugungsbildung zu prüfen, ob die nachträgliche Alkoholaufnahme tatsächlich möglich war (zur Beweiswürdigung s. u.a. OLG Karlsruhe DAR 05,104).  

     

    Der Verteidiger muss darauf achten, dass dann, wenn sich der Beschuldigte zu Art und Menge des Nachtrunks äußert, die Überprüfung seiner Angaben in zweierlei Hinsicht möglich ist:  

     

    • Es gibt die chemotechnische Möglichkeit, die Begleitstoffe bestimmter Alkoholarten festzustellen und damit zu prüfen, ob die Behauptung, es sei etwa Whisky oder Bier getrunken worden, stimmt. Mit der Begleitstoffanalyse kann aber nicht festgestellt werden, wann der entsprechende Alkohol zugeführt wurde, sondern lediglich, ob überhaupt in der Blutprobe der genannte Alkohol vorkommt.

     

    • In diesem Zusammenhang ist die Frage der Relevanz der Nachtrunkbehauptung zu prüfen. Führt nämlich die angegebene Nachtrunkmenge nicht zur Unterschreitung eines relevanten Grenzwertes (1,1 Vol.-%, 0,5 Vol.-%, 0,3 Vol.-%), so ist sie unerheblich. Zu diesem Zweck muss errechnet werden, wie viel Alkohol durch die entsprechende Trinkmenge im Blut aufgebaut werden kann.

     

    2. Berechnung des Nachtrunks  

    Die Berechnung des Nachtrunks erfolgt in 5 Schritten. Dabei wird die im Nachtrunk enthaltene Alkoholmenge mit der Widmarkschen Formel errechnet. Diese lautet:  

     

    getrunkener Alkohol in g  

    60 % bis 80 % des Körpergewichts  

     

    Die 5 Schritte stellen wir Ihnen anhand eines Beispiels vor: Die 60 kg schwere T nimmt an einer Betriebsfeier teil, die um 22.00 Uhr endet. T fährt mit ihrem Pkw nach Hause. Sie wird von der Polizei um 23.00 Uhr angehalten. T gelingt es zu fliehen. Die Polizei trifft T um 24.00 Uhr zu Hause an und nimmt eine Blutprobe. Die BAK beträgt 1,2 Vol.-%. T lässt sich dahin ein, sie habe nach Fahrtende „auf den Schrecken“ um 23.30 Uhr noch zwei „zwei Schnäpse“ (Obstler mit je 2 cl zu je 50 Vol-%) getrunken.  

     

    1. Schritt: Für die Berechnung muss zunächst bekannt sein, wie viel Alkohol die Beschuldigte nachträglich zu sich genommen hat.  

     

    Praxishinweis: Es gibt Übersichten und Tabellen, die Auskunft darüber geben, wie viel Alkohol in den jeweiligen alkoholischen Getränken enthalten ist (vgl. z.B. Burhoff, a.a.O., Rn. 445).  

    Geht man in dem o.a. Beispiel davon aus, dass es sich bei den beiden „scharfen Schnäpsen“ um jeweils 2 cl Obstler zu 50 Vol.-% gehandelt hat, dann sind in diesen jeweils 8 g Alkohol enthalten.  

     

    2. Schritt: Außerdem muss bekannt sein, wie schwer der/die Beschuldigte ist, damit die Masse des im Körper durchbluteten Gewebes bestimmt werden kann. Das sind bei Männern 70 bis 80 % der Körpermasse, bei Frauen 60 bis 70 %.  

    Die Beschuldigte ist 60 kg schwer. Damit ergibt sich folgende Berechnung:  

     

    16 g Alkohol  

    = 0,38 Vol.-%  

    60 kg x 0,7  

     

    Im Nachtrunk waren also 0,38 Vol.-% enthalten.  

     

    3. Schritt: Im Resorptionsprozess geht ein bestimmter Teil des Alkohols verloren, wird also nicht im Körper abgebaut. Dieser Resorptionsverlust beträgt 10 bis 15 %. Um diesen Resorptionsverlust ist der Alkoholwert zu verringern. Nach der Regel in dubio pro reo ist bei der Rückrechnung zugunsten des Beschuldigten der geringste Wert, also lediglich 10 % abzuziehen.  

     

    Dies bedeutet im Beispiel ein Resorptionsdefizit von 0,038 Vol.-%, so dass also nur 0,34 Vol.-% verbleiben.  

     

    4. Schritt: Es ist dann der zwischen dem Beginn des Nachtrunks und dem Zeitpunkt der Blutentnahme eingetretene Alkoholabbau abzuziehen. Bei der Bewertung eines Nachtrunks ist wiederum zugunsten des Beschuldigten von dem denkbar geringsten Abbauwert auszugehen, der 0,1 Vol.-%/Stunde beträgt.  

     

    Im Beispielsfall lag zwischen dem Beginn des Nachtrunks und der Blutentnahme eine halbe Stunde. Also ist vom genannten reduzierten Alkoholwert ein Alkoholabbau von weiteren 0,05 Vol.-% abzuziehen. Damit ergibt sich ein Nachtrunkwert von 0,29 Vol.-%.  

     

    5. Schritt: Schließlich ist noch der Blutentnahmewert um den ermittelten Alkoholwert zu reduzieren.  

    Im Beispiel sind das 1,2 Vol.-% um 0,29 Vol.-%. Der verbleibende Wert von 0,91 Vol.-% ist der für die Tatzeit vorwerfbare Alkoholwert.  

     

     

     

    III. Rückrechnung und Schuldfähigkeit

    Besondere Bedeutung im Hinblick auf die Schuldfähigkeit hat die Besonderheit der Rückrechnung des Alkoholwertes auf den Zeitpunkt der Tat:  

     

    1. Rückrechnung vom Zeitpunkt der Blutentnahme an 

    Zum einen wird, wenn die BAK aufgrund einer Blutprobe festzustellen ist, der Zeitpunkt des Resorptionsabschlusses bei der Frage der Schuldfähigkeit anders gehandhabt als bei der Frage der alkoholbedingten Fahrunsicherheit. Zu Gunsten des Angeklagten ist bei der Prüfung der Schuldfähigkeit dann der Tatzeitpunkt als Resorptionsabschluss anzunehmen, wenn dieser tatsächlich nicht feststellbar ist. Das bedeutet:  

     

    • Die oben erläuterte Regel, dass sich eine Rückrechnung nicht auf die ersten beiden Stunden nach Trinkende (Resorptionsabschluss) erstreckt, gilt hier zu Gunsten des Angeklagten.
    • Vielmehr ist zwingend zu Gunsten des Angeklagten vom Zeitpunkt der Blutentnahme auf den Zeitpunkt der Tat zurückzurechnen.
    • Zu Gunsten des Angeklagten ergibt sich dadurch ein u.U. für die Schuldfähigkeitsprüfung entscheidender Unterschied zu der Rückrechnung bei Fahrunsicherheiten (zu allem Tröndle/Fischer, a.a.O., § 20 Rn. 13 m.w.N. zur Rspr. des BGH).

     

    2. Rückrechnung mit dem höchstmöglichen Abbauwert 

    Außerdem ist bei der Rückrechnung zur Ermittlung der Alkoholisierung zur Tatzeit hinsichtlich der alkoholbedingten Schuldfähigkeitsbeeinträchtigung grds. mit dem höchstmöglichen stündlichen Abbauwert (und nicht mit dem niedrigsten) zurückzurechnen (vgl. u.a. OLG Köln VRS 86, 279; OLG Celle NZV 92, 247; Tröndle/Fischer, a.a.O.). Das bedeutet:  

     

    • Zu Gunsten des Angeklagten ist mit dem höchstmöglichen Abbauwert von 0,2 Vol.-% pro Stunde zurückzurechnen.
    • Zu dem sich daraus ergebenden Wert ist zusätzlich ein einmaliger Sicherheitszuschlag von 0,2 Vol.-% hinzuzurechnen (u.a. BGH NZV 91, 117; OLG Celle zfs 97, 152).

     

    Danach ergibt sich ein für den Angeklagten hinsichtlich §§ 20, 21 StGB günstigster Wert. Auch hier haben allerdings zusätzliche Einflussfaktoren der konkreten Umstände speziell unter Hinzuziehung eines Sachverständigen weiterhin Bedeutung für die abschließende Betrachtung der Schuldfähigkeit (vgl. z.B. LG Kempen, DAR 1999, 280, wonach wegen extremer winterlicher Witterungslage [starker Schneefall und unzureichende Räumung] bei BAK-Werten unter den absoluten Grenzwerten keine relative Fahruntüchtigkeit angenommen worden ist.  

     

    Praxishinweis: Wenn eine Rückrechnung nur anhand von Trinkmengenangaben und nicht auf Grund einer entnommenen Blutprobe erfolgt, ist, wiederum zu Gunsten des Angeklagten, hingegen mit dem geringstmöglichen Abbauwert die Rückrechnung vorzunehmen, da damit die Ermittlung des höchstmöglichen Blutalkoholwertes zum Zeitpunkt der Tat sichergestellt wird (BGH NStZ 92, 32).  

     

     

    Quelle: Ausgabe 10 / 2006 | Seite 179 | ID 91067