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  • · Forschung und Lehre

    „Genderwissen muss in den Lehrplänen der medizinischen Fakultäten verankert werden!“

    Bild: ©luckybusiness - stock.adobe.com

    | Frauen rauchen weniger als Männer, sie leben gesundheitsbewusster und länger. Sie erkranken seltener an COVID-19 und haben weniger schwere Symptome. So lauten nur einige Fakten aus dem Bericht „Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland“, den das Robert Koch-Institut Ende 2020 vorlegte. Doch trotz aller Unterschiede zwischen Männern und Frauen sieht es mit dem Genderwissen in der Humanmedizin bescheiden aus. So das Ergebnis eines BMG-Gutachtens zur geschlechtersensiblen Lehre, das von der Charité Berlin und dem Deutschen Ärztinnenbund e. V. (DÄB) erarbeitet wurde (siehe weiterführenden Hinweis). Prof. Dr. Gabriele Kaczmarczyk, Vizepräsidentin des DÄB und Gastprofessorin an der Charité, gehört zu den Autorinnen. Mit Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) sprach sie über Wege, um geschlechtersensible Aspekte besser in der Lehre zu verankern. |

     

    Frage: Frau Professor Kaczmarczyk, wie gut werden Studierende über Geschlechterunterschiede bei Krankheiten, Symptomen und Therapien informiert?

     

    Antwort: Bei Weitem nicht gut genug. Eine geschlechtergerechte Medizin ist in Deutschland längst überfällig. Bisher ist es Geschmacksache der Dozierenden, ob sie eine geschlechterspezifische Betrachtungsweise vermitteln. Das betrifft alle Fächer. Als Argument hören wir häufig, dass die Freiheit von Forschung und Lehre auch für die Universitätsmedizin gelte. Doch hier geht es um Versorgungsqualität. Deshalb dürfen wir die Lehre von geschlechtsspezifischen Unterschieden nicht dem Zufall überlassen.

     

    Frage: Nehmen wir den Herzinfarkt als Beispiel.

     

    Antwort: Der typische Herzinfarkt wurde lange mit dem Bild des korpulenten Rauchers, der aus der Kneipe kommt und sich an die Brust fasst, assoziiert. Fatal daran ist, dass Männer im Notfall eher einen Koronarkatheter erhalten als Frauen. Frauen reagieren mit anderen Symptomen, etwa mit Übelkeit und Rückenschmerzen. Das ist auch wissenschaftlich zu betrachten. Die Nervenversorgung des Herzens ist bei Frauen offenbar anders als bei Männern. Doch dieser Geschlechterunterschied ist nicht erforscht.

     

    Frage: Dabei könnte sich der Unterschied auch auf die Medikation auswirken.

     

    Antwort: In der Arzneimitteltherapie wurde Jahrzehnte nicht an Frauen studiert. Das Model für die Erprobung wog 72 Kilo, war männlich und 25 Jahre alt. Zwar fordert der G-BA inzwischen die Testung beider Geschlechter. Doch das ist noch nicht genug. Als Mitglied der Berliner Tierversuchskommission kämpfe ich einsam dafür, grundsätzlich schon vorklinisch an männlichen und weiblichen Tieren zu testen. Einige Forscher berücksichtigen das inzwischen. So wirkt ein herzwirksames Medikament bei männlichen und weiblichen Ratten oder Mäusen unterschiedlich. Diese Forschungsergebnisse müssen Eingang in die Lehre finden.

     

    Frage: Kommen wir noch einmal auf das Bild des korpulenten Rauchers zurück. Wie genderfreundlich sind Darstellungen in Lehrbüchern und E-Learning-Plattformen?

     

    Antwort: Dieses Bild stammt aus einem lesenswerten medizinischen Bildatlas aus den USA. Engagierten Medizinerinnen sind Ersatzbilder zu verdanken, z. B. von einer Frau, die sich an einem Treppengeländer abstützt und sich ans Herz fasst. Inzwischen wird in einigen Lehrbüchern, beim E-Learning und in Datenbanken geschlechtsspezifisch unterschieden. Aber ein Lehrbuch für alle klinischen Fächer mit Studien gibt es meines Wissens nicht.

     

    Frage: Können Sie sagen, ob die genderspezifische Lehre an einigen medizinischen Fakultäten besser klappt als an anderen?

     

    Antwort: Das Gutachten unterscheidet nach Regel- und Modellstudiengängen. Das Ergebnis zeigt, dass Modell- und reformierte Studiengänge besser aufgestellt sind. Dort gibt es offenbar mehr jüngere, engagiertere Entscheidungsträger zur Gendermedizin als in den oft noch androzentrierten Regelstudiengängen, in denen der Mann das Maß aller Dinge ist.

     

    Frage: Möchten Studierende und Assistenzärztinnen und -ärzte denn überhaupt geschlechtsspezifische Inhalte?

     

    Antwort: Das Interesse wächst. Gendermedizin kam ursprünglich aus den USA und aus der Frauenecke. Das war ein Handicap, denn sie wurde oft mit Frauenheilkunde verwechselt. Allmählich entdecken auch jüngere Männer, dass es ein Riesengebiet ist, auch in der Forschung. Das finde ich sehr positiv. Doch Medizin ist ein Paukstudium. Viele Studierende denken: Bitte nicht auch noch Gendermedizin. Darauf darf man keine Rücksicht nehmen, dann muss etwas anderes, unwichtigeres gekürzt werden.

     

    Frage: Was müsste sich strukturell ändern?

     

    Antwort: Geschlechtsspezifische Inhalte müssen in den Lehrplänen der medizinischen Fakultäten, dem Nationalen Lernzielkatalog, den Prüfungsfragen und in der Approbationsordnung verankert werden. Auch sind Professuren für Gendermedizin zu wünschen. An der Otto von Guericke Universität Magdeburg und an der im Aufbau befindlichen Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld sind zwei Professuren in der Pipeline. Sie sind ein Tropfen auf den heißen Stein und doch ein Anstoß. Wenn es gelingt, das Thema voranzutreiben und in klinischen Fächern zu verankern, wird es irgendwann keinen Lehrstuhl mehr brauchen. Dann ist es selbstverständlich ‒ wie mit der Frauenquote.

     

    Frau Professor Kaczmarczyk, vielen Dank für das Gespräch! L

     

    Weiterführender Hinweis

    • „Aktueller Stand der Integration von Aspekten der Geschlechtersensibilität und des Geschlechterwissens in Rahmenlehr- und Ausbildungsrahmenplänen, Ausbildungskonzepten, -curricula und Lernzielkatalogen für Beschäftigte im Gesundheitswesen“. Berlin, Mai 2020; Volltext online zum Download unter iww.de/s4546
    Quelle: Ausgabe 04 / 2021 | Seite 19 | ID 47103524