· Fachbeitrag · Datenschutz
Datenschutz-Pingpong in der Personenversicherung ‒ Der gestufte Dialog und seine Folgen
von RA Sascha Conradi, FA VersR und Ass. Michael Schneider
| Um in der Personenversicherung das Risiko beurteilen zu können, benötigt der VR Informationen über den Gesundheitszustand des VN. Wie er diese zulässig erlangen kann, ist Inhalt verschiedener höchstrichterlicher Entscheidungen unter der Rechtsfigur des gestuften Dialogs. Bei einer Abwägung zwischen Informationsinteresse des VR und Persönlichkeitsschutz des Versicherten soll der gestufte Dialog Ausgleich schaffen. Bei diesem Pingpong werden Zustimmungen nicht global, sondern schrittweise eingeholt. Der Beitrag untersucht, ob dieser Ausgleich wahrhaft salomonisch oder nicht vielmehr unpraktisch und ein ganzer Kriegsschauplatz künftiger prozessualer Schlachten mit ungewissem Ausgang ist. |
1. Gestufter Dialog
Schrittweise Informationserhebung bedeutet, dass der VR sich von der Frage, ob in dem Bezugszeitraum Befunde vorliegen, über die Frage, wer diese erhoben hat, über die weitere Frage, auf welche Krankheitsbilder sie sich beziehen, bis zur Einwilligung in die Übersendung dieser (aller?) Befunde behutsam vortastet, anstatt je nach AVB schlicht die Patientenakten der letzten Pentade oder Dekade zu ziehen. Neuhaus hat dies in einem Vortrag (21.2.18, RAK Hamm, Vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung im Versicherungsrecht) treffend als Marschrichtung „vom Groben zum Feinen“ charakterisiert. Dabei sind indes die meisten Details noch unklar.
Beispielhaft ist hier die zweite Grundsatzentscheidung des BGH (5.7.17, IV ZR 121/15, Abruf-Nr. 195754 = VK 18, 15) zu nennen. Der BGH lehnt dort eine allgemeine Schweigepflichtentbindung im Rahmen der Leistungsprüfung ab (Leitsatz 1). Sodann untersucht er ‒ und hier wird es interessant ‒, welche Folgen ausufernde Ermittlungen auf der Rechtsfolgenseite, beispielsweise bei der Arglistanfechtung, haben können (Leitsatz 2).
2. Folgen nicht rechtmäßiger Recherche des VR
Aus dem Strafrecht kennt man die Differenzierung zwischen Beweiserhebungsverboten und ‒ nicht automatisch folgenden ‒ Beweisverwertungsverboten und deren Reichweite („fruit of the poisonous tree“). Für das Versicherungsrecht stellt sich entsprechend die Frage, wie mit Rechercheergebnissen umzugehen ist, wenn die Recherche nicht rechtmäßig erfolgt ist.
Der Entscheidung lag ein Streit über Leistungen aus der BU-Versicherung zugrunde. Eine mitversicherte Ehefrau verneinte die Gesundheitsfragen. Bei Eintritt des Versicherungsfalls (psychische Erkrankung) unterzeichnete sie eine allgemeine Schweigepflichtentbindungserklärung. Nun traten im Rahmen der Leistungsprüfung doch noch die unterschiedlichsten verschwiegenen Vorerkrankungen zutage. Der VR focht den Vertrag wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht an und erklärte sich für leistungsfrei.
Das OLG Schleswig hat die Anfechtung durchgreifen lassen. Es hielt die aufgrund der allgemeinen Schweigepflichtentbindung erlangten Kenntnisse für verwertbar. Der BGH war damit nicht einverstanden. Er hat die Entscheidung aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Der BGH sah das Recht der mitversicherten Person auf informationelle Selbstbestimmung als verletzt an. Hieraus leitete er ein Beweisverwertungsverbot her, ohne sich dieses Begriffs zu bedienen.
Insoweit stellt sich die Frage, ob immer dann, wenn der VR die drei Karten der vorvertraglichen Auskunftspflichtverletzung, der Arglistanfechtung und der Leistungsfreiheit ausspielt, der VN nun mit der Trumpfkarte der Persönlichkeitsrechtsverletzung einen Stich machen kann, oder nicht. Ist der Patientendatenschutz das neue höchste Blatt des Versicherungsrechts?
3. Schweigepflichtentbindung ist o.k., aber ...
Der BGH sieht allgemeine Schweigepflichtentbindungen zwar als grundsätzlich zulässig an, aber nicht im Rahmen der Leistungsprüfung und nicht in AVB. Der Versicherungswillige muss also nicht auf erste Anfrage bereits alle Hüllen fallen lassen. Vielmehr wendet der BGH den allgemeinen Grundsatz der Datensparsamkeit an (das war schon der Kern der vorangegangen Entscheidung BGH 22.2.17, IV ZR 289/14, Abruf-Nr. 193773 = VK 18, 7, dort LS 2b, Rn. 22 zur Klauselkontrolle nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB, Rn. 46 zur Einführung des gestuften Dialogs; dazu Neuhaus, r+s 17, 281). Danach darf der VR im Rahmen eines gestuften Dialogs nur jeweils die Daten schrittweise abfragen, die für seine Entscheidungsfindung aus dem ursprünglichen und dann weiter konkretisierten Entscheidungshorizont heraus erforderlich sind.
Soweit der VR den Versicherten entgegen diesen Grundsätzen sofort informatorisch vollständig entkleidet, ist die Datenerhebung rechtswidrig. Es fehlt dann an der erforderlichen Einwilligung des Betroffenen i. S. d. § 213 Abs. 1 Hs. 2 VVG. Dies ergebe sich unter Hinweis auf die Grundlagenentscheidung des BVerfG (23.10.06, VersR 06, 1669) unmittelbar aus der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Die Datenpreisgabe ist dann eben nur scheinbar, aber nicht wirklich freiwillig.
Merke | Anders ist die Sache nur zu beurteilen, wenn der Betroffene deutlich über das Verfahren des gestuften Dialogs aufgeklärt wird und er in Kenntnis seiner Wahlmöglichkeit sogleich eine weitergehende Einwilligung erteilt, weil er die Sache beschleunigen will.
4. Wann greift das Beweisverwertungsverbot?
Ist eine Verletzung des Informationserhebungsverbots festgestellt, ist auf einer zweite Stufe zu prüfen, ob dies zu einem Beweisverwertungsverbot im Leistungsprozess führt. Dies knüpft der BGH an eine vereinfachte Kausalitätsprüfung. Er stellt die Frage, welche Gesundheitsdaten gerade durch die rechtswidrige Erklärung erlangt worden sind. Nicht selten (und so auch in dem zu entscheidenden Fall) liegen nämlich mehrere Schweigepflichtentbindungen unterschiedlichen Umfangs vor. Dann muss entschieden werden, welche Früchte von dem verbotenen Baum stammen und welche nicht.
- An der schwächsten Stelle der zitierten BGH-Entscheidung (Rn. 38, 41 und 42) stellt der BGH nun keine allgemeinen Grundsätze dafür auf, in welchen Fällen ein Informationserhebungsverbot zu einem Beweisverwertungsverbot führt. Vielmehr verneint er nur einen Automatismus. Er fordert eine Einzelfallabwägung, ohne dafür einen brauchbaren Kriterienkatalog aufzustellen. Dies bleibt infolgedessen vorerst den Obergerichten überlassen. Dadurch eröffnen sich weite Argumentationsspielräume für beide Seiten.
- Der vom BVerfG entliehene und auf den Verfassungsrechtler Konrad Hesse zurückgehende Topos der praktischen Konkordanz der beteiligten Grundrechte bedeutet praktisch nichts anderes, als dass Entscheidungsergebnisse überhaupt nicht prognostizierbar sind. Letztlich wird der Tatrichter anhand des Grads der größeren „Schuftigkeit“ entscheiden. Es steht das schamhafte Verhüllen unter Verstoß gegen die vorvertragliche Anzeigepflicht beim Antragsteller gegen das schamlose Entkleiden unter Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den VR.
- Trifft den VR die größere „Schuftigkeit“, also Missachtung des Grundsatzes der Datensparsamkeit, sieht er sich der von Amts wegen zu beachtenden Arglisteinrede ausgesetzt. Diese lässt die von ihm erklärte Arglistanfechtung des Versicherungsvertrags nicht durchgreifen.
- Interessanterweise stellt der BGH die naheliegendste Frage des rechtmäßigen Alternativverhaltens bei der Kausalitätsprüfung überhaupt nicht, i.e. ob der VR die Informationen nicht auch bei Beachtung des gestuften Dialogs bekommen oder das Versicherungsverhältnis sonst eben abgelehnt hätte. Dies wird von den VR immer so vorgetragen.
- Wäre es so einfach, liefe der gestufte Dialog aber leer. Das würde das BVerfG sicher nicht mitmachen. Insoweit kommt der Unterlassung einer alternativen Kausalitätsprüfung eine Disziplinierungsfunktion der Versicherungswirtschaft zu.
5. Die Behandlung von Altfällen
Noch völlig ungeklärt ist, wie mit Altfällen umzugehen ist. In zeitlicher Reihenfolge liegen hier die Grundsatzentscheidung des BGH, die Neufassung des VVG und die Leitentscheidungen des BGH. Ab wann der VR (zwischen 10.06 und 2.18) über die neue Rechtslage und deren Finessen informiert sein und sich entsprechend verhalten musste, ist noch lange nicht ausklärt.
Ebenfalls ungeklärt ist der Fristbeginn der Anfechtungsfrist (vgl. Neuhaus, r+s 17, 281), wenn sich während des gestuften Dialogs Arglisthinweise vom Anfangsverdacht über einen dringenden Verdacht zur Gewissheit verdichten. Neuhaus plädiert hier im Interesse der Versicherungswirtschaft für einen späten Fristbeginn. Wer vornehmlich VN vertritt, wird diesen dagegen so früh wie möglich ansetzen. Er wird die Mitwirkung im Rahmen der Leistungsprüfung eher zögerlich angehen. Sodann wird er sich auf die eingetretene Verfristung der Anfechtung berufen, weil der Sachbearbeiter ja schon vor mehr als einem Jahr gewusst habe, wie oft die versicherte Person beim Arzt war.
Trifft den VN die größere „Schuftigkeit“, geht die Arglistanfechtung durch. Dabei darf alleine aus vorsätzlich unrichtigen Angaben des VN, i.e. dessen Arglist, noch kein Nachrang des Persönlichkeitsrechts abgeleitet werden. Dies würde für die VR Fehlanreize schaffen würde, doch immer alles sofort einzuholen (Rn. 50).
Insoweit hat Neuhaus in seinem Vortragsskript (a. a. O., S. 33) zu Unrecht das Diktum aufgestellt, der strafrechtlich betrügerisch Handelnde sei nach der Rechtsprechung des BGH nicht schutzwürdig. Der BGH fordert nämlich in jedem Fall eine Abwägung. Er macht gerade keine solche apodiktische Globalaussage. Selbst im Extremfall einer strafrechtlichen Verurteilung wäre damit das Zivilverfahren nicht notwendig präjudiziert, obwohl bei umgekehrter zeitlicher Reihenfolge an eine Wiederaufnahme zu denken wäre. Die laienhafte Frage, „Was braucht es eigentlich noch, damit der VR nicht leisten muss?“, lässt der BGH in dieser Allgemeinheit bewusst unbeantwortet und schiebt sie den Vorinstanzen zu.
6. Fazit
Für die Praxis bedeutet dies, dass der Fachanwalt für Versicherungsrecht auf Anspruchstellerseite (oder Anspruchsgegnerseite) künftig verpflichtet ist, sich gleichsam in einen Fachanwalt für Datenschutzrecht zu verwandeln. Unter der Geltung der DSGVO und des novellierten BDSG muss er irgendwelche Anhaltspunkte dafür ausmachen und deren Gewicht dartun (oder auf der Gegenseite widerlegen oder verharmlosen), dass der VR in den Leistungsprozess Informationen einführt, die er zwar rechtmäßig hätte erlangen können, aber unrechtmäßig erlangt hat, und die daher bei der richterlichen Entscheidungsfindung keine Berücksichtigung finden dürfen (oder doch dürfen).
Dies ist ein Paradigmenwechsel im Berufsbild, der in den einschlägigen Handbüchern und Fortbildungsveranstaltungen den gebotenen Widerhall wohl erst noch finden muss. Außer den für den Entwurf der AVB zuständigen Syndici der VR wird sich kaum jemand einmal ernsthafte Gedanken dazu gemacht haben, wie eine Einwilligungserklärung in die Übermittlung von Patientendaten aussehen muss. Das gilt etwa in Hinblick auf den Zeitraum, die erfassten Krankheitsbilder, die behandelnden Institutionen, die sich aus den von diesen übersandten Unterlagen ergebenden Folgeanknüpfungen (Arztbriefe Dritter!) etc.
Dem VR ist vorerst ein vorsichtig tastendes Vorgehen von Frage zu Frage anzuraten.
War bisher die vorvertragliche Aufklärungspflichtverletzung der Straight Flush des VR, so ist nicht auszuschließen, dass sich die Missachtung des gestuften Dialogs zum Royal Flush des VN entwickeln wird.
Weiterführende Hinweise
- Das gilt zur Erhebung von Gesundheitsdaten durch den VR nach Vertragsschluss: Gundlach, VK 17, 101
- In diesen Fällen darf der VR rechtswidrig erhobene Gesundheitsdaten verwerten: Gundlach, VK 17, 192