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· Fachbeitrag · Unterhaltspflicht

Verletzungen der elterlichen Fürsorgepflicht: Ab wann ist der Elternunterhalt verwirkt?

von RiOLG Dr. Dagny Liceni-Kiersten, Berlin/Brandenburg

| Eltern schulden ihren minderjährigen Kindern nach § 1629 BGB u. a. Schutz und Beistand. Was aber geschieht, wenn Eltern gegen diese persönliche Fürsorgeverpflichtung in der Kindheit verstoßen haben und im Alter ihre Kinder auf Elternunterhalt in Anspruch nehmen (müssen)? |

1. Der Fall des OLG Karlsruhe

Die Problematik soll anhand eines Beispielsfalls deutlich gemacht werden, der an einen Beschluss des OLG Karlsruhe angelehnt ist (22.1.16, 20 UF 109/14, Abruf-Nr. 146760).

 

  • Beispielsfall

Ein 1954 geborenes Mädchen M wuchs mit mehreren Geschwistern im Haushalt seiner Eltern auf. Aufgrund beengter Wohnverhältnisse musste M ihr Kinderzimmer mit dem zwei Jahre älteren Bruder B teilen. Im Alter von 12 Jahren wurde M durch B vergewaltigt und hierbei schwanger. Die Schwangerschaft wurde erst im fünften Monat offenbar. 1967 brachte M in einem Mutter-Kind-Heim einen schwerbehinderten Sohn zur Welt. Nach Rückkehr in den elterlichen Haushalt wurde der Sohn durch die Großmutter der M und die M selbst betreut.

 

Die Mutterschaft der M wurde von den Eltern Dritten gegenüber verheimlicht bzw. es wurden falsche Angaben zur Abstammung des Kindes gemacht. Erst nach Eintritt ihrer Volljährigkeit ließ M die Vaterschaft feststellen und machte Unterhaltsansprüchen gegenüber B geltend. Als Spätfolge ihrer schweren Traumatisierung durch die nicht bewältigte Vergewaltigung wurde M 2005 erwerbsunfähig. Seither bezieht sie Renteneinkünfte.

 

Ihre 90 Jahre alte Mutter lebt in einem Pflegeheim. Der Sozialhilfeträger verlangt aus übergegangenem Recht Elternunterhalt von der M in Höhe von monatlich 150 EUR. Hierbei hatte er mit Blick auf das schwere Schicksal der M selbst einen Abschlag von 40 Prozent vorgenommen. Die an sich leistungsfähige M, beruft sich auf einen vollständigen Unterhaltsausschluss nach § 611 BGB im Hinblick auf das Fehlen von Fürsorge und Beistand durch ihre Mutter nach der Vergewaltigung.

 

2. Voraussetzungen der Verwirkung

Eine Verwirkung des Anspruchs auf Elternunterhalt kommt nach § 1611 Abs. 1 S. 1 BGB in Betracht, wenn der Unterhaltsberechtigte

  • durch sittliches Verschulden bedürftig geworden ist,
  • die eigene Unterhaltspflicht gegen den Pflichtigen gröblich verletzt hat oder
  • sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Pflichtigen oder einen nahen Angehörigen schuldig gemacht hat.

 

Im Beispielsfall wurde der geltend gemachte und vom Sozialhilfeträger im Grundsatz selbst anerkannte Verwirkungseinwand einer früheren schweren vorsätzlichen Verfehlung erörtert. Die Tatbestandsmerkmale der „Vorsätzlichkeit“ und der „Schwere“ bilden dabei das notwendige Korrektiv, um Bagatellfälle oder die üblichen (altersbedingten) Spannungen/Konflikte zwischen Eltern und Kindern auszusondern.

3. Schwere der Verfehlung

Eine schwere Verfehlung i. S. v. § 1611 Abs. 1 S. 1 BGB kann nur angenommen werden, wenn schutzwürdige wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Pflichtigen tiefgreifend beeinträchtigt werden. Dies kann durch aktives Tun und Unterlassen geschehen. Letzteres allerdings nur, wenn der Berechtigte dadurch eine Rechtspflicht zum Handeln verletzt hat. Das gilt für die

  • besonders geregelte Vernachlässigung der Unterhaltspflicht,
  • die dauernde grobe Vernachlässigung,
  • Verletzung der Aufsichtspflicht und
  • für die Verletzung der Pflicht zu Beistand und Rücksicht (§ 1618a BG).

 

Es handelt sich um Rechtspflichten, die das Eltern-Kind-Verhältnis prägen und die ‒ sollten sie verletzt werden ‒ unter den Voraussetzungen des § 1611 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 BGB bedeutend sein können (BGH 19.5.04, XII ZR 304/02, Abruf-Nr. 042324).

 

Angesichts dieser strengen Voraussetzungen sind gerade Verfehlungen der Eltern während der Kindheit in der Praxis häufig nicht leicht unter die eng auszulegende Ausnahmevorschrift des § 1611 BGB zu subsumieren. Es gibt viele unterschiedliche Fallvarianten und situationsbedingte Besonderheiten. Deshalb kann die Grenzziehung im Einzelfall schwierig sein. Denn es geht hier nicht nur um rechtliche sondern auch um moralische Wertungen.

 

a) Aktives Tun

Im Beispielsfall stand für alle Verfahrensbeteiligten außer Frage, dass ein gravierendes Fehlverhalten der Mutter während der Kindheit der M vorgelegen hat. Um dies rechtlich zu beurteilen, muss allerdings zunächst geklärt werden, was schwerpunktmäßig vorzuwerfen ist. Anders als z. B. in den Missbrauchsfällen (wozu auch Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch zählen) ist dies vom Gerichts zurecht nicht in einem aktiven Handeln der Mutter gesehen worden. Nach Aktenlage hatte sie die Vergewaltigung nicht ermöglicht, gefördert oder geduldet. Sonstigen Erziehungsfehlern (z. B. körperliche Züchtigungen) ist kein eigenständiges Gewicht beigemessen worden.

 

b) Unterlassen

Der Vorwurf gründet sich daher auf gravierende Versäumnisse der elterlichen Schutz-, Beistands- und Fürsorgeverpflichtung gegenüber M nach ihrer Vergewaltigung. Weder wurde M anschließend in eine Therapie gegeben noch in anderer Weise von den Eltern bei der Verarbeitung des Erlebten unterstützt. Dieses Unterlassen hat M lebenslang traumatisiert sowie erwerbsunfähig gemacht. Es bildet den rechtlichen Anknüpfungspunkt für die Frage, ob der Unterhaltsanspruch der Mutter teilweise oder sogar vollständig verwirkt ist. Vollständige Verwirkung ist nach § 1611 Abs. 1 S. 2 BGB nur anzunehmen, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre.

4. Vorsatz

Das zentrale Problem bildet hier die Frage nach dem Vorsatz und dem Grad der Schuld der Mutter. Denn die von § 1611 Abs. 1 S. 2 BGB vorausgesetzte grobe Unbilligkeit setzt voraus, dass es dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widersprechen würde, müsste M Elternunterhalt zahlen (BGH 19.5 04, XII ZR 304/02, Abruf-Nr. 042324). Dabei ist auch die Stärke des persönlichen Schuldvorwurfs zu klären. Die damit verbundene Problematik liegt auf der Hand: Der Unterhalt wird in der Gegenwart geschuldet, die Verfehlungen haben aber in der (meist weit zurückliegenden) Vergangenheit stattgefunden. Wie also ist mit gesellschaftlichen Anschauungen umzugehen, die sich im Laufe der Zeit häufig gewandelt haben?

 

a) Rückblick auf die 1960er Jahre

Wer den Verwirkungstatbestand beurteilen will, kommt daher nicht umhin, sich mit geschichtlichen Entwicklungen und früheren gesellschaftlichen Anschauungen zu befassen. Hier ist daher der Blick auf die 1960er Jahren zu richten. Die älteren unter den praktizierenden Juristen werden sich noch erinnern: Die traditionelle Werteordnung von Eltern war in den 60er Jahren eine deutlich andere als heute. Prüderie und Verklemmtheit prägten das Verhalten innerhalb der Gesellschaft.

 

Es gab den sog. Kuppelparagraf. Danach machte sich jeder strafbar, der einem unverheirateten Paar einen Raum zur „Unzucht“ überließ. Homosexualität und Abtreibung waren verboten. Das Thema Sexualität wurde sowohl in den Medien als auch in Familie und Schule schamhaft verschwiegen. Eine Aufklärung fand (wenn überhaupt) „auf der Straße“ statt. 1960 erklärte der Journalist und spätere „Volksaufklärer“ Oswald Kolle in der Zeitschrift „Quick“ anhand seines Artikels „Dein Kind, das unbekannte Wesen“ erstmals öffentlich die Grundzüge der Sexualität. Ein empörter Aufschrei in Politik und Gesellschaft war die Reaktion. Von 1968 bis 1972 sorgten seine Aufklärungsfilme in den Kinos für hohe Besucherzahlen (Erwachsene und Jugendliche).

 

Was die Erziehung zu Beginn der 60er Jahre betrifft, so unterschied sie sich kaum von der Erziehung der vorangegangenen Jahrzehnte. Die Elterngeneration erzog ihre Kinder in dem autoritären Erziehungsstil, den sie selbst erfahren hatte. Kindlichen Wünschen und Bedürfnissen wurde kaum Beachtung geschenkt. Körperliche Züchtigungen waren gesellschaftlicher Konsens und bis in die 70er Jahre die gängige Erziehungsmethode. Kinder hatten zu gehorchen, Widerspruch wurde nicht geduldet, Erklärungen gab es nicht. Erziehungsziel waren Gehorsam und Disziplin, nicht Persönlichkeitsbildung und Stärkung des kindlichen Selbstbewusstseins. Das Eltern-Kind-Verhältnis war entsprechend kühl und distanziert. Erst als die Nachkriegsgeneration selber zu Eltern wurde, wandelte sich spürbar und dauerhaft die Einstellung über die Erziehung, die Rolle des Kindes und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern.

 

b) Einbeziehung in die Entscheidungsfindung

All das konnte auch hier nicht ausgeblendet werden. Das OLG hat die Versäumnisse der Eltern gegenüber M (das Fehlen von fürsorglicher Zuwendung, Gesprächen und Verständnis) zwar weiterhin als schwere Verfehlung beurteilt. Insbesondere weil B nach der Vergewaltigung unbehelligt im Familienverband belassen wurde. Die Mutter habe die unverschuldet in eine Notlage geratene und traumatisierte M sich selbst überlassen, ihr zunächst sogar noch massive Vorwürfe gemacht und sie bestraft. Niemals habe sie sie in der geschuldeten Weise bei der Bewältigung der schweren psychischen Folgen der Vergewaltigung unterstützt. Dies müsse ihr auch bewusst gewesen sein, sodass sie die M zumindest bedingt vorsätzlich im Stich gelassen habe.

 

Nach Auffassung des OLG erscheine das elterliche Fehlverhalten jedoch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Situation, der Erziehungsanschauungen sowie des Stands von Recht und Gesetzgebung in den 1960er Jahren in einem milderen Licht. Bei einem Bekanntwerden der gesamten Umstände habe der Familie gesellschaftliche Ächtung und Isolation gedroht. Psychotherapeutische Behandlungen habe man noch nicht zur Bewältigung krisenhafter Lebenssituationen eingesetzt, sondern ausschließlich in den Fällen von Geisteskrankheiten vorgenommen. Im Ergebnis hat das OLG den Unterhaltsanspruch wegen der schweren psychischen Folgen ihres früheren Fehlverhaltens um 2/3 (von 2.766 EUR auf 922 EUR) herabgesetzt. Eine vollständige Unterhaltsverwirkung hat es auch im Hinblick auf die von der Mutter noch weiterhin ‒ wenn auch mit erheblichen Mängeln ‒ wahrgenommene elterliche Verantwortung für M abgelehnt.

5. Einordnung der Entscheidung

Die Entscheidung macht die Schwierigkeiten deutlich, den Verwirkungstatbestands des § 1611 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 BGB zu beurteilen. Dabei ist nicht das Problem, die schwere vorsätzliche Verfehlung nachzuweisen. Die eigentlichen Schwierigkeiten liegen bei den rechtlichen und moralischen Wertungen, die im Rahmen der gebotenen Abwägung ‒ unter Berücksichtigung sich wandelnder gesellschaftlicher Anschauungen ‒ vorgenommen werden müssen.

 

Man hätte hier ohne Weiteres auch zu dem Ergebnis kommen können, dass die Versäumnisse der Mutter gegenüber der erst 13 Jahre alten Tochter einen so groben Mangel an elterlicher Fürsorge und menschlicher Rücksichtnahme offenbart haben, dass unter Abwägung aller Umstände ein vollständiger Wegfall der Unterhaltspflicht der M zu bejahen ist. Insbesondere, wenn man an die gravierenden lebenslangen Folgen für M und ihren schwerstbehinderten Sohn und die erhebliche Mitverantwortung der Mutter denkt.

 

PRAXISHINWEIS | Hier spielen ersichtlich auch persönliche Vorstellungen und Wertungen eine entscheidende Rolle. Für Anwälte, die in erster Linie von den unterhaltspflichtigen Kindern beauftragt werden, ergeben sich insoweit gute Möglichkeiten, zu den Voraussetzungen der rechtsvernichtenden Einwendung des § 1611 BGB interessenorientiert vorzutragen und eine effektive Verteidigungsstrategie zu entwickeln.

 
Quelle: Sonderausgabe 02 / 2017 | Seite 51 | ID 44963803