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· Fachbeitrag · Schwerbehinderung

Merkzeichen „B“: Notwendigkeit einer Begleitperson muss gut begründet werden

| Ob das Merkzeichen „B“ erteilt wird, hängt vom gesundheitlichen Zustand und Hilfebedarf der Person ab. Warum Gerichte eine Begleitperson oft als nicht notwendig ansehen und wie man dagegen strategisch vorgehen kann, zeigt dieser Beitrag anhand einer aktuellen Entscheidung des SG Stade. |

1. Zugehörigkeit zu einer Krankheitsgruppe genügt nicht

Das SG Stade entschied den Fall eines Klägers mit einem GdB von 100 sowie ausgestattet mit dem Merkzeichen „G“. Der Kläger begehrte mit der Klage zusätzlich die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ (notwendige ständige Begleitung), da er Hilfe beim Aufstehen vor Zielhaltestellen sowie beim Ein- und Aussteigen benötigt. Zudem lag eine schwere, beidseitige Hörbehinderung vor. Das SG wies die Klage ab (6.10.15, S 24 SB 38/14, Abruf-Nr. 145732).

 

a) Versorgungsmedizinische Grundsätze

Das Merkzeichen „B“ ist bei schwerbehinderten Menschen anzuerkennen, bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“, „Gl“ oder „H“ vorliegen) und sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel infolge einer Behinderung auf Hilfe angewiesen sind. Dabei sind die sogenannten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) heranzuziehen (§ 69 SGB IX). Der Teil D Nr. 2 der VMG betrifft das Merkzeichen „B“ und nennt unter c) eine Personengruppe, zu der

  • Querschnittgelähmte,
  • Ohnhänder (Verlust beider Hände, Teile des Oberarms),
  • blinde, Seh- und Hörbehinderte sowie
  • geistig behinderte Menschen oder Anfallskranke gehören.

 

b) Tatsächlich auf Hilfe angewiesen

Bei allen genannten muss eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegen. In diesem Zusammenhang wird angenommen, dass diese Gruppe nach den VMG berechtigt ist, eine ständige Begleitung im Straßenverkehr zu haben. Allerdings ist vorrangig zu prüfen, ob die Person im Einzelfall behinderungsbedingt auf Hilfe angewiesen ist (§ 146 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Die Zugehörigkeit zur VMG-Personengruppe allein begründet nicht schon einen Anspruch auf das Merkzeichen „B“.

2. Regelmäßige im Einzelfall auf Hilfe angewiesen

Das SG hat ausgeführt, dass bei der Nutzung des Nahverkehrs in jedem Einzelfall die betroffene Person auf Hilfe angewiesen und diese auch regelmäßig notwendig sein muss. Sie muss in der Gesamtschau bei Benutzung der überwiegenden Zahl öffentlicher Verkehrsmittel und beim größten Teil der zurückgelegten Fahrten notwendig sein.

 

  • Das SG stellt fest, dass gerade die Gruppen der Seh- und Hörbehinderten eine große Bandbreite aufweisen. In leichteren Fällen ist das Merkzeichen „B“ oft nicht begründbar.

 

  • Auch gelegentliche und abhängig von der Tagesform auftretende Funktionseinschränkungen reichen nicht aus. Genau dies macht die Argumentation für Bevollmächtigte schwierig. Denn gesundheitliche Einschränkungen, die schwankend oder in unregelmäßigen, nicht vorhersehbaren Abständen auftreten, erfordern oft auch nicht „regelmäßig“ eine fremde Hilfe bei der Nutzung des Nahverkehrs.

 

  • Ferner spielt es keine Rolle, wenn in bestimmten Fällen aufgrund baulicher Beschaffenheiten Haltestellen, Bahnhöfen oder die Verkehrsmittel für behinderte schlecht erreichbar oder zu nutzen sind.

 

  • Das LSG Baden-Württemberg stellt für das Merkzeichen „B“ ebenso allein auf den regelmäßigen Hilfebedarf und nicht auf die örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls ab (27.8.15, L 6 SB 1430/15). Unerheblich ist es also z.B., ob eine einzelne Haltestelle
    • ungünstig gebaut,
    • nur schlecht zugänglich oder
    • die Türen (z.B. Bus) nur mit starker Kraftanstrengung zu öffnen sind.

3. Feststellungen des Gerichts im Urteil

Im vorliegenden Fall litt der Kläger zwar unter einer stark ausgeprägten Hörbehinderung beidseits, die ihm auch das Verstehen akustischer Signale in Verkehrsmitteln (z.B. Warnsignale beim Schließen der Tür) erschweren. Die weiter vorgetragenen Einschränkungen (z.B. wiederholte Atemnot beim Ein- und Aussteigen, kein angemessen zügiges Erreichen der Türen) ließen sich nicht ausreichend bestätigen.

 

Das Gericht stützte sich auf medizinische Befundberichte, nachdem der Kläger trotz der Behinderungen nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sei, wenn er öffentliche Verkehrsmittel nutzt. Vorhandene Behindertensitzplätze ermöglichen ihm die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Zudem kann er einen Rollator zu Hilfe nehmen.

 

Entscheidung und Rechtsprechung gehen an den realen Gegebenheiten bei der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs vorbei. Baustellen, ein uneinheitlicher Fortschritt beim barrierefreien Umbau und Haltestellen, die durch ihre Bauweise für behinderte Menschen schwierig zu erreichen oder zu verlassen sind, stellen ein Problem dar.

 

PRAXISHINWEIS | Es wird also eine umfassend der individuelle Hilfebedarf beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt geprüft. Daher sollte auch mit der lokalen Infrastruktur des Nahverkehrs im jeweils genutzten Verkehrsverbund argumentiert werden, um eine regelmäßige Hilfsbedürftigkeit zu begründen.

 

Leidet Ihr Mandant unter gesundheitlichen Einschränkungen, die wechselnd intensiv ausgeprägt oder in unregelmäßigen Intervallen auftreten (hier: Hörvermögen des Klägers), sollte die Klagebegründung auf zwei Säulen fußen.

 

PRAXISHINWEIS | Informieren Sie sich beim zuständigen Verkehrsverbund, ob die vom Mandanten genutzten Linien künftig von Baustellen betroffen sind, welche Ersatzfahrzeuge eingesetzt und welche Haltestellen nicht barrieregerecht sind. Auf diese Weise können Sie dem Gericht gegenüber dokumentieren, dass auf den konkret genutzten Strecken regelmäßig eine Begleitperson notwendig ist. Dies kann vor allem bei temporären, sich über längere Zeit hinziehenden Baumaßnahmen sinnvoll sein und einen Anspruch auf das Merkzeichen „B“ unterfüttern.

 

Weiterführende Hinweise

  • Wann das Merkzeichen „RF“ erteilt wird, SR 14, 19
  • Schwerbehindertenausweis und Übersicht Merkzeichen, SR 15, 42
Quelle: Ausgabe 11 / 2015 | Seite 196 | ID 43701745