· Fachbeitrag · Einkommensteuer
Keine Ausnahme vom Progressionsvorbehalt bei fiktiver unbeschränkter Steuerpflicht
von Prof. Dr. Stephan Peters, Hochschule für Finanzen NRW
| Die Ausnahmen vom Progressionsvorbehalt nach § 32b Abs. 1 S. 2 EStG gelten ausschließlich für DBA-freigestellte Einkünfte (§ 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG). Für nicht steuerbare Einkünfte nach § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EStG gilt die Ausnahme nicht, was insbesondere deshalb unionsrechtskonform ist, weil die Einkünfte nach Nr. 5 sowohl im Rahmen des positiven als auch des negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen sind ( BFH 21.5.25, I R 5/22 ). |
Sachverhalt
Der Ehemann, ein deutscher Staatsangehöriger, hatte seinen Wohnsitz im Inland und erzielte dort im Jahr 2018 Einkünfte aus unselbständiger Arbeit. Seine Ehefrau, polnische Staatsangehörige, lebte im Streitjahr in Polen. Sie erzielte ebenfalls im Inland Einkünfte. Zudem erklärte die Ehefrau im Rahmen des Antrags auf Zusammenveranlagung polnische Einkünfte aus Lohneinkünften und der Vermietung einer in Polen belegenen Immobilie, die aus Sicht der Eheleute nicht in Deutschland zu versteuern waren.

Das Finanzamt veranlagte die Eheleute gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 1 Abs. 3, § 1a Abs. 1 Nr. 2 EStG zusammen zur Einkommensteuer, unterwarf aber sämtliche in Polen erzielte Einkünfte der Ehefrau nach § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EStG dem Progressionsvorbehalt. Gegen diese Behandlung legten die Eheleute Einspruch ein und reichten anschließend Klage ein. Sie beriefen sich auf die Ausnahmeregelung des § 32b Abs. 1 S. 2 Nr. 3 EStG, die ihrer Auffassung nach auch für die polnischen Vermietungseinkünfte gelten müsse. Das FG Berlin-Brandenburg (13.12.21, 9 K 9061/21) wies die Klage jedoch ab, weshalb der Ehemann sein Interesse nunmehr im Wege der Revision verfolgte. Ohne Erfolg.
Entscheidungsgründe
Zutreffend haben Finanzamt und FG entschieden, dass die polnischen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Ehefrau durch das in Polen belegene unbewegliche Vermögen gemäß § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5, Abs. 2 EStG dem Progressionsvorbehalt unterliegen.
An der Anwendung von § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EStG bestanden keine Zweifel. Es lag insbesondere kein Fall von § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG vor, weil die Einkünfte der Ehefrau nicht in Deutschland steuerbar waren. Eine Freistellung aufgrund des DBA-Polen kam daher schon dem Grunde nach nicht in Betracht. Die fiktive unbeschränkte Steuerpflicht der Ehefrau änderte daran nichts, weil wegen des Belegenheitsorts in Polen keine inländischen Einkünfte i. S. d. § 49 EStG vorlagen.
MERKE | Eine Anwendung der Ausnahmeregelung des § 32b Abs. 1 S. 2 Nr. 3 EStG ‒ über den nach dem Wortlaut eindeutig auf DBA-freigestellte Einkünfte (§ 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG) beschränkten Anwendungsbereich hinaus ‒ auf Fälle des § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EStG lehnte das Gericht ab. Wortlaut und Systematik stehen einer solchen Anwendung entgegen. Der Gesetzgeber hat sich bei der Änderung von § 32b Abs. 1 S. 2 Nr. 3 EStG bewusst auf die Fälle von § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 (DBA-freigestellte Einkünfte) beschränkt. |
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH verstößt es nicht gegen Unionsrecht, wenn ein nicht steuerberechtigter Staat (hier: Deutschland) ausländische Einkünfte einer in seinem Staatsgebiet ansässigen Person (hier: die Ehefrau) im Wege des Progressionsvorbehalts berücksichtigt (EuGH 27.6.96, C-107/94, DStR 25, 1997). Dies ist zulässig, weil die ausländischen Einkünfte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der steuerpflichtigen Person erhöhen (EuGH 15.9.11, C-240/10, Schulz-Delzers und Schulz). Anders könne dies indes sein, wenn für ausländische Einkünfte ein positiver Progressionsvorbehalt besteht, aber kein negativer (EuGH 21.2.06, C-152/03, Ritter-Coulais, RIW 06, 317).
Daraus folge aber nach Ansicht des BFH nicht, dass im Inland nicht ansässige Steuerpflichtige (hier: Ehefrau), die gemäß § 1 Abs. 3 i. V. m. § 1a EStG fiktiv unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und damit ihre persönlichen Verhältnisse im Wege der Zusammenveranlagung nach § 26 Abs. 1 S. 1 EStG berücksichtigen können, einschränkungslos wie unbeschränkt Steuerpflichtige zu behandeln sind (vgl. BFH 28.2.24, I R 26/21, BFH/NV 24, 757 zu § 1a EStG).
Eine unionsrechtswidrige Ungleichbehandlung liegt nicht vor, insbesondere weil auf der einen Seite die positiven Einkünfte der Ehefrau im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen sind, andererseits i. S. der vom EuGH betonten Symmetrie auch negative Einkünfte im Rahmen eines negativen Progressionsvorbehalts berücksichtigt worden wären. Aufgrund der aus Sicht des BFH eindeutigen Rechtslage wurde auf eine Vorlage an den EuGH verzichtet.
Relevanz für die Praxis
Der BFH stellt mit seiner Entscheidung klar, dass die Ausnahmeregelung zum Progressionsvorbehalt gemäß § 32b Abs. 1 S. 2 Nr. 3 EStG keine Anwendung findet, wenn die Einkünfte aufgrund fiktiver unbeschränkter Steuerpflicht (§ 1 Abs. 3, § 1a Abs. 1 EStG) gemäß § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EStG dem Progressionsvorbehalt unterliegen. Damit kommt es zu einer Ungleichbehandlung von unbeschränkt und fiktiv unbeschränkt steuerpflichtigen Einkünften. In der Praxis ließe sich dieses Problem vermeiden, wenn die Ehefrau im Inland einen Wohnsitz und/oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründete.

Lösung: In der Abwandlung wären die Eheleute gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 EStG unbeschränkt steuerpflichtig (Welteinkommensprinzip). Abkommensrechtlich wäre die Ehefrau in Deutschland ansässig (Art. 4 Abs. 1 DBA-PL). Das Besteuerungsrecht an den Einkünften aus der Vermietung (unbewegliches Vermögen) würde nach Art. 6 Abs. 1 DBA-PL Polen zustehen, da das unbewegliche Vermögen in Polen (anderer Staat) belegen ist. Deutschland vermeidet die Doppelbesteuerung gemäß Art. 24 Abs. 1 Buchst. a) S. 1 DBA-PL durch Freistellung und Einbeziehung in den Progressionsvorbehalt (Art. 24 Abs. 1 Buchst. d) DBA-PL i. V. m. § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG).
Nach nationalem Recht würde in diesem Fall die Ausnahme zum Progressionsvorbehalt aus § 32b Abs. 1 S. 2 Nr. 3 EStG greifen, weil es sich um DBA-freigestellte Einkünfte aus der Vermietung von unbeweglichem Vermögen handelt, das in einem anderen als einem Drittstaat (hier: Polen) belegen ist. Die Einkünfte finden demnach keine Berücksichtigung im Rahmen des Progressionsvorbehalts.
Dieses Ergebnis entspricht dem ausdrücklichen Wortlaut von § 32b Abs. 1 S. 2 Nr. 3 EStG, der den Anwendungsbereich der Ausnahme zum Progressionsvorbehalt ausdrücklich auf Fälle des § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG (DBA-freigestellte Einkünfte) beschränkt.
Dies hat indes auch zur Folge ‒ und zwar neben den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung auch für die Einkünfte aus gewerblicher Betriebsstätte ‒, dass die Einkünfte i. S. d. § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EStG nicht nur im Rahmen des positiven Progressionsvorbehalts vollständig zu berücksichtigen sind, sondern als Folge der Änderung von § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EStG mit dem JStG 2008 vom 10.12.07 (BGBl I 07, 4210) auch im Rahmen des negativen Progressionsvorbehalts.

Lösung: In der Abwandlung 2 sind die negativen Einkünfte der Ehefrau (Verlust aus Vermietung und Verpachtung) nach § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EStG vollständig im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Es handelt sich dabei um einen negativen Progressionsvorbehalt. Dieser kann im Ergebnis dazu führen, dass sich der inländische Steuersatz auf null reduziert.
Beachten Sie | Dies gilt auch für die negativen Einkünfte aus einer im Ausland betriebenen gewerblichen Tätigkeit in einem anderen als in einem Drittstaat, weil es sich nicht um Einkünfte aus einem Drittstaat handelt und es im Gegensatz zu § 32b Abs. 1 S. 2 Nr. 2 EStG auch nicht darauf ankommt, ob die Tätigkeit aktiv oder passiv ist. Im Rahmen der fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht sind demnach positive und negative Einkünfte im Rahmen des positiven und negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen, ohne dass es auf die Frage der Art der Tätigkeit i. S. d. § 2a Abs. 2 EStG ankommt.
Dass ‒ im Vergleich zu § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 a. F. ‒ der Progressionsvorbehalt nicht mehr nur dann anzuwenden ist, wenn die Summe der nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte positiv ist, sondern auch im Falle negativer Einkünfte, ist Ausfluss der Rechtsprechung des EuGH (18.7.07, C-182/06, DStR 07, 1339). Der Ausschluss des negativen Progressionsvorbehalts stellte danach einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten dar (vgl. Krippner in: Bordewin/Brandt, EStG, § 32b, Rn. 47a).
FAZIT | Die fiktive unbeschränkte Steuerpflicht führt ‒ was § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EStG zeigt ‒ nicht zu einer vollständigen Gleichstellung mit der unbeschränkten Steuerpflicht. Insbesondere greifen die Ausnahmen aus § 32b Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und Nr. 3 EStG nicht in Fällen der fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht, da es bereits an inländischen Einkünften i. S. d. § 49 EStG fehlt und sich die Frage der Anwendung eines DBA gar nicht stellt. Diese Unterscheidung zwischen unbeschränkter und fiktiv unbeschränkter Steuerpflicht setzt sich auch bei der Betrachtung des Unionsrechts fort. Die ausländischen Einkünfte erhöhen die Leistungsfähigkeit, was die Einbeziehung in den Progressionsvorbehalt rechtfertigt. Da der Progressionsvorbehalt sowohl negativ als auch positiv gilt, besteht die vom EuGH geforderte Symmetrie, weshalb auf eine Vorlage an den EuGH verzichtet wurde. Diese Einbeziehung im Wege des positiven bzw. negativen Progressionsvorbehalts gilt für sämtliche Einkunftsarten und nicht nur für die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, unabhängig davon, ob es sich um eine aktive oder passive Tätigkeit handelt ‒ zumindest dann, wenn § 2a EStG nicht greift. |