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  • · Fachbeitrag · Wegzugsbesteuerung

    Wann § 6 AStG greift: Passive Entstrickung und Gefährdungstatbestand im Fokus

    von Univ.-Prof. Dr. Stephan Kudert, Berlin

    Die Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG nimmt in der steuerlichen Beratungspraxis in den letzten Jahren einen zunehmenden Raum ein. Besonders relevant sind dabei die Fragen, ob auch passive Entstrickungen erfasst werden und ob die Norm als Gefährdungstatbestand zu verstehen ist. Die folgenden Ausführungen beleuchten diese Fragen praxisnah und ökonomisch fundiert im Kontext des aktuellen Steuerrechts.

    1. Die Tatbestandsvoraussetzungen gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 AStG

    Hält eine nach § 1 Abs. 1 EStG und zugleich § 6 Abs. 2 AStG unbeschränkt steuerpflichtige natürliche Person Anteile i. S. d. § 17 Abs. 1 EStG an einer Kapitalgesellschaft, so kann der Wegzug, also die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht (§ 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AStG), die sog. Wegzugsbesteuerung auslösen. Die unentgeltliche Übertragung der Anteile auf einen Steuerausländer durch Schenkung oder Erbschaft in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG und die Beschränkung oder der Verlust des deutschen Besteuerungsrechts durch irgendein anderes Ereignis in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG stellen Ergänzungstatbestände dar, die ebenfalls das deutsche Besteuerungsrecht an den stillen Reserven in den Anteilen sichern sollen.

     

    Beachten Sie — Der Anwendungsbereich der Wegzugsbesteuerung wurde ab dem Veranlagungszeitraum 2024 auf Investmentanteile und Spezial-Investmentanteile erweitert (§ 19 Abs. 3 und § 49 Abs. 5 InvStG).

     

    Dabei interpretiert die Finanzverwaltung die Tatbestände so, dass auch passive Entstrickungen die Rechtsfolgen des § 6 Abs. 1 S. 1 AStG auslösen können und die Norm zudem als Gefährdungstatbestand anzusehen ist. Diese weite Interpretation wird naturgemäß von großen Teilen der Praxis abgelehnt.

     

    Im Folgenden wird als

    • passive Entstrickung ein Sachverhalt interpretiert, bei dem ohne Zutun des Steuerpflichtigen die Wegzugsbesteuerung ausgelöst wird, und als
    • Gefährdungstatbestand die allein abstrakte Möglichkeit des Eintritts eines Ereignisses definiert, durch die das deutsche Besteuerungsrecht nach dem Entstrickungszeitpunkt eingeschränkt oder ausgeschlossen werden könnte.

    2. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 AStG

    2.1 Keine passive Entstrickung

    Die Tatbestände in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 (Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht) und Nr. 2 (unentgeltliche Übertragung) AStG basieren auf dem Zutun des Steuerpflichtigen. Diese führen somit zu „aktiven“ Entstrickungen. Da § 6 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 AStG ‒ auch nach Ansicht des BMF im Anwendungserlass zum AStG vom 22.12.23 ‒ die Tatbestandsvoraussetzungen abschließend benennen (AEAStG, Tz. 78), können sie nicht zu passiven Entstrickungen führen.

     

    MERKE — Wenn aufgrund eines Ereignisses, das ohne Zutun des Steuerpflichtigen eintritt, Deutschland das alleinige Besteuerungsrecht an den stillen Reserven verlöre (z. B. durch die Änderung eines DBA), greifen weder § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AStG (Wegzug) noch Nr. 2 AStG (unentgeltliche Übertragung). Diese Tatbestände setzen stets eine dieser beiden Handlungen des Steuerpflichtigen voraus.

     

    2.2 Gefährdungstatbestände

    Bemerkenswerterweise setzen beide Nummern nicht die Beschränkung oder den Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts voraus. D.h., auch wenn nach einer in den Nrn. 1 und 2 benannten Handlung des Steuerpflichtigen Deutschland weiterhin ein Besteuerungsrecht hat, kann die Wegzugsbesteuerung ausgelöst werden. Dies sehen die Finanzverwaltung (AEAStG, Tz. 80 zu Nr. 1 und Tz. 82 zu Nr. 2) und der BFH (8.12.21, I R 30/19) auch so. Eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs auf Fälle, bei denen durch ein in den Nrn. 1 oder 2 genanntes Zutun des Steuerpflichtigen das deutsche Besteuerungsrecht an den stillen Reserven tatsächlich entzogen oder beschränkt wird, hat der BFH abgelehnt.

     

    Sachverhalt (I R 30/19)

    Ein Steuerinländer schenkt Anteile an einer deutschen Kapitalgesellschaft, deren Aktiva zu mehr als 50 % aus unbeweglichem Vermögen in Deutschland bestehen, an einen Steuerausländer (US-Amerikaner).

     

    Deutschland verliert nicht sein Besteuerungsrecht. Aufgrund der Schenkung würde der Beschenkte bei einer späteren Veräußerung der Anteile beschränkt steuerpflichtig nach § 1 Abs. 4 EStG mit seinen inländischen Einkünften nach § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. e) Doppelbuchst. cc) EStG sein. Auch abkommensrechtlich würde Deutschland das vollumfängliche Besteuerungsrecht behalten, da Art. 13 Abs. 2 Buchst. b) DBA-USA eine Klausel für Immobilienkapitalgesellschaften enthält.

     

    Obwohl das deutsche Besteuerungsrecht nach der Schenkung bestehen bleibt, sieht der BFH den Anwendungsbereich des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG als eröffnet an. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass durch Vermögensumschichtungen nach der Schenkung aus der Immobilienkapitalgesellschaft eine normale Kapitalgesellschaft werden könnte (BFH 8.12.21, I R 30/19, Tz. 20). Da dann bei einer Veräußerung der Anteile nicht mehr Art. 13 Abs. 2 DBA, sondern Art. 13 Abs. 5 DBA greifen würde, verlöre Deutschland aufgrund dieser nach der Schenkung geänderten Bilanzstruktur sein Besteuerungsrecht.

     

    MERKE — Es besteht bereits im Zeitpunkt der Schenkung die abstrakte Gefahr, Deutschland könnte aufgrund eines Ereignisses, das erst später eintreten könnte, die stillen Reserven nicht mehr besteuern. Bereits diese mögliche Gefährdung ist ausreichend, um die Wegzugsbesteuerung auszulösen. Gemäß § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AStG erfolgt die Entstrickung im Zeitpunkt der unentgeltlichen Übertragung.

     

    Gleiches gilt, wenn ein unbeschränkt Steuerpflichtiger, der an einer Kapitalgesellschaft beteiligt ist, deren Aktiva zu mehr als 50 % aus unbeweglichem Vermögen in Deutschland bestehen, seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland aufgibt und z. B. nach Österreich verzieht.

     

    Auch in diesem Fall verliert Deutschland sein Besteuerungsrecht nicht. Der Steuerpflichtige ist zwar nicht mehr unbeschränkt, aber bei Veräußerung beschränkt einkommensteuerpflichtig gemäß § 1 Abs. 4 EStG mit den inländischen Einkünften nach § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. e) Doppelbuchst. cc) EStG. Deutschland würde aufgrund des Art. 13 Abs. 2 DBA-Österreich auch nach dem Wegzug abkommensrechtlich das vollumfängliche Besteuerungsrecht zustehen. Auch in diesem Fall wird aufgrund der abstrakten Gefahr, das deutsche Besteuerungsrecht könnte später eingeschränkt oder ausgeschlossen werden, die Wegzugsbesteuerung ‒ diesmal nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG ‒ ausgelöst. Gemäß § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG erfolgt die Entstrickung im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht.

     

    ZWISCHENFAZIT — § 6 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 AStG enthalten abschließend Tatbestände, die nur durch ein Zutun des Steuerpflichtigen ausgelöst werden können ‒ also den Wegzug oder die unentgeltliche Übertragung der Anteile auf einen Steuerausländer. Andere Ereignisse, insbesondere rein passiv eintretende Sachverhalte, fallen nicht unter diese Normen. Die Tatbestände setzen aber nicht voraus, dass Deutschland durch dieses Zutun sein Besteuerungsrecht tatsächlich verliert oder einschränkt. Finanzverwaltung und Rechtsprechung sehen die Normen daher als Gefährdungstatbestände an: Bereits die abstrakte Möglichkeit, dass das deutsche Besteuerungsrecht erst nach dem Entstrickungszeitpunkt eingeschränkt oder ausgeschlossen werden könnte, genügt, um die Wegzugsbesteuerung auszulösen.

     

    3. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG

    3.1 Passive Entstrickung

    Der dritte Tatbestand ist eine Auffangklausel. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG greift nur vorbehaltlich der Nrn. 1 und 2. Wenn durch ein sonstiges Ereignis das deutsche Besteuerungsrecht an den stillen Reserven beschränkt oder ausgeschlossen wird, kommt demnach ebenfalls die Wegzugsbesteuerung zur Anwendung.

     

    MERKE — Anders als die Nrn. 1 und 2 setzt Nr. 3 kein Zutun des Steuerpflichtigen voraus, um die Wegzugsbesteuerung auszulösen. Vorbehaltlich der im Schrifttum artikulierten verfassungs- und europarechtlichen Bedenken, könnte damit die Wegzugsteuer auch durch eine passive Entstrickung ausgelöst werden.

     

    Beachten Sie — Die Sicherung des deutschen Steuersubstrats stellt zwar einen Eingriff in die Grundfreiheiten dar. Ob dieser Eingriff europarechtswidrig ist, hängt m. E. aber nicht von § 6 Abs. 1 S. 1 AStG, sondern von den Stundungsregeln (§ 6 Abs. 5 AStG) ab. Das polnische Wojewodschaftsverwaltungsgericht in Warschau hat mit Beschluss vom 29.5.25 (III SA/Wa 566/25) ein Beschwerdeverfahren zur Wegzugsbesteuerung ausgesetzt und auf der Grundlage von Art. 267 AEUV dem EuGH drei zentrale Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (C-430/25). Die Antworten des EuGH werden auch erheblichen Einfluss auf § 6 AStG haben (vgl. Kudert/Jamrozy, PIStB 25, 324).

     

    3.1.1 Ansicht des Gesetzgebers

    Der deutsche Gesetzgeber hat in mehrfacher Form die Möglichkeit einer passiven Entstrickung zum Ausdruck gebracht.

     

    • In der Begründung des Gesetzentwurfs vom 19.4.21 zum ATADUmsG wird explizit darauf hingewiesen, dass der Ausgleichsposten nach § 4g EStG auch für die Entstrickungsbesteuerung im Betriebsvermögen bei „einer sog. passiven Entstrickung gebildet“ werden dürfe (BT-Drs. 19/28652, 33).

     

    • In Tz. 4 des Protokolls des DBA-Liechtenstein wurde explizit ein Passus zur Bildung des Ausgleichspostens nach § 4g EStG für die passive Entstrickung im Betriebsvermögen aufgrund des Abschlusses des DBA aufgenommen.

     

    • In der Begründung des Gesetzentwurfs zum ZollkodexAnpG vom 22.12.14 (BT-Drs. 18/3017, 54) verweist der Gesetzgeber ausdrücklich auf eine Entstrickungsbesteuerung nach § 6 AStG. Dies betrifft den Fall, in dem aufgrund einer Änderung des DBA einem anderen Staat erstmals das Besteuerungsrecht für die Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen zugewiesen wird, deren Wert überwiegend auf im Quellenstaat belegenen Immobilien beruht.

     

    3.1.2 Ansicht der Finanzverwaltung

    Die Finanzverwaltung hat sich zur passiven Entstrickung in Tz. 88 AEAStG ebenso eindeutig positioniert und bezieht sich nach Tz. 87 dabei explizit auf den Tatbestand in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG:

     

    AEAStG, Tz. 88

    „Ein Ausschluss des Besteuerungsrechts liegt z. B. vor, soweit ein künftiger Veräußerungsgewinn nach einem DBA erstmals freizustellen wäre. Eine Beschränkung des Besteuerungsrechts liegt z. B. vor, wenn ausländische Steuern nach einem DBA oder § 34c EStG erstmals anzurechnen oder abzuziehen wären. Ursachen hierfür können sowohl Änderungen des Sachverhalts sein, insbesondere durch aktive Handlungen des Steuerpflichtigen, als auch die erstmalige Anwendbarkeit von abkommensrechtlichen Rechtsnormen an sich bei ansonsten unveränderter Sachlage (sog. passive Entstrickungen).“

     

    Ob diese Rechtsauffassung vor der Finanzgerichtsbarkeit Bestand haben wird, ist offen.

     

    3.1.3 Ansicht der Rechtsprechung

    Die Finanzgerichtsbarkeit selbst hat sich hingegen noch nicht eindeutig zur passiven Entstrickung im Zusammenhang mit § 6 AStG positioniert.

     

    • In dem Verfahren zur passiven Entstrickung bei einer Immobilienkapitalgesellschaft (der sog. Finca-Fall) aufgrund der Änderung des DBA-Spanien zum 1.1.13 hat das FG Köln im Ergebnis offengelassen, ob § 6 Abs. 1 AStG auch bei einer passiven Entstrickung greift: „Im Streitfall kann nach Auffassung des Senats dahingestellt bleiben, ob § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG (a. F.; d. Verf.) überhaupt eine ‚passive Entstrickung‘ durch Abschluss eines geänderten Doppelbesteuerungsabkommens ohne Mitwirkungsakt des Steuerpflichtigen erfasst und ob dies verfassungsrechtlich zulässig ist.“ (FG Köln 17.6.21, 15 K 888/18). Weil die Norm aufgrund der damals verunglückten Rückwirkung der Stundungsregelung nach Ansicht des FG Köln bereits europarechtswidrig war, musste der erkennende Senat über die Zulässigkeit der passiven Entstrickung nicht mehr entscheiden.

     

    • Im Revisionsverfahren zum Finca-Fall teilte der BFH (16.4.24, IX R 38/21) zwar nicht die europa- bzw. verfassungsrechtlichen Bedenken des FG Köln, ließ aber im Ergebnis ebenfalls offen, ob die Änderung des DBA-Spanien, die zum 1.1.13 erfolgte, zu einer passiven Entstrickung führt, da die Finanzverwaltung die Entstrickungsbesteuerung eine Sekunde zu spät vorgenommen hatte. Denn selbst wenn es eine passive Entstrickung geben sollte, wäre ein „Entstrickungsgewinn in dem Zeitpunkt in Ansatz zu bringen, in dem Deutschland abkommensrechtlich letztmalig das (unbeschränkte) Besteuerungsrecht für einen Veräußerungsgewinn inne hatte.“ Das wäre der 31.12.12 um 24.00 Uhr und nicht der 1.1.13 um 0.00 Uhr gewesen. Der Entstrickungsgewinn wäre daher im VZ 2012 zu erfassen gewesen.

     

    • Auch das FG Münster (10.8.22, 13 K 559/19 G, F, s. PIStB 23, 62) hat sich zur passiven Entstrickung geäußert. Es stellt diese zwar grundsätzlich infrage, das Urteil ist allerdings zur Entstrickung im Betriebsvermögen und nicht bezüglich einer Beteiligung im Privatvermögen ergangen. Da der erkennende Senat seine Rechtsauffassung aus dem systematischen Zusammenhang des § 4 Abs. 1 S. 3 EStG im Normgefüge des § 4 Abs. 1 EStG ableitete, können seine Ausführungen nicht unmittelbar auf § 6 AStG übertragen werden. Der BFH konnte sich bislang dazu nicht äußern, weil das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist (I R 41/22: mdl. Verhandlung am 19.11.25).

     

    • Das FG des Saarlands (30.3.21, 1 V 1374/20) hat im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ebenfalls deutliche Bedenken bezüglich einer passiven Entstrickung aufgrund eines rein staatlichen Handelns geäußert. Aber auch dieser Beschluss betraf die Entstrickung im Betriebsvermögen (sog. Windpark-Fall). Der BFH (24.11.21, I B 44/21 [AdV]) hat jedoch im Beschwerdeverfahren zum Windpark-Fall keine Aussage darüber getroffen, ob eine passive Entstrickung den Tatbestand einer Entstrickungsregelung auslösen kann.

     

    3.2 Kein Gefährdungstatbestand

    Schwierig zu beantworten ist die Frage, ob § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG einen Gefährdungstatbestand darstellt. Während die Finanzverwaltung diese Frage bejaht (AEAStG, Tz. 89), zweifelt der erkennende Senat des FG Münster (10.8.22, 13 K 559/19 G, F, Tz. 39) allerdings, „ob bereits in dem Wechsel vom alleinigen Besteuerungsrecht zu einer Besteuerung unter Anrechnung einer ausländischen Steuer eine Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland i. S. d. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG zu erblicken ist. Dagegen spricht, dass die Bundesrepublik Deutschland auch nach Inkrafttreten des DBA Spanien am 1.1.13 ihr Besteuerungsrecht behält und lediglich nach Art. 22 Abs. 2 Buchst. b) DBA Spanien die spanische Steuer anrechnen muss, die nach dem Recht des Königreichs Spanien gezahlt worden ist. Zu einer Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland i. S. d. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG würde es demnach erst dann kommen, wenn tatsächlich nach dem Recht des Königreichs Spanien eine Steuer gezahlt worden und diese auf die inländische Steuer anzurechnen wäre. Ob und ggf. wann dies der Fall ist bzw. sein wird, kann erst in Zukunft festgestellt werden, da der Beigeladene bislang seine Anteile an der S. L. noch nicht veräußert hat und mithin auch keinen in Spanien steuerbaren Veräußerungsgewinn erzielt hat. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es jedenfalls noch nicht zu einer derartigen Besteuerung gekommen, sondern es verbleibt ‒ anders als bei der Freistellungsmethode ‒ bei dem deutschen Besteuerungsrecht.“

     

    Bezüglich der Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts können die Aussagen des FG Münster, obwohl sie die Entstrickung nach § 4 Abs. 1 S. 3 EStG betreffen, auf § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG übertragen werden. Das Gericht sieht in der bloßen Möglichkeit einer späteren Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts aufgrund der Anrechnung einer ausländischen Steuer keinen Anwendungsfall der Entstrickung.

     

    Die Finanzverwaltung sieht dies jedoch völlig anders. Gemäß Tz. 89 AEAStG reicht bereits die theoretische Möglichkeit, dass das Ausland später eine Steuer auf den Verkauf der Anteile erheben könnte, aus, um die Entstrickungsbesteuerung auszulösen: „Dies gilt unabhängig davon, ob der ausländische Staat tatsächlich eine Steuer auf den Veräußerungsgewinn erheben würde; die abstrakte Beschränkung des Besteuerungsrechts genügt.“

     

    Beachten Sie — Diese Sichtweise der Finanzverwaltung ist m. E. deutlich überzogen und weder durch den Wortlaut noch durch das Telos des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG gedeckt. Der Gesetzgeber nennt „die Beschränkung des Besteuerungsrechts“. Er meint damit die konkrete und nicht irgendeine abstrakte, später mögliche Beschränkung aufgrund eines denkbaren künftigen Ereignisses. Daher sollte die Norm auch so angewendet werden, dass eine allein abstrakte Gefährdung nicht ausreicht, den Anwendungsbereich der Norm zu eröffnen.

     

    Aus ökonomischer Perspektive erscheint eine vermittelnde Position zwischen den Aussagen des FG Münster und dem Anwendungsschreiben zum AStG sachgerecht. Diese ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang zwischen § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 und § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AStG. M. E. sind in einem hypothetischen Vergleich die deutschen Besteuerungsrechte an der fiktiven Veräußerung der Anteile in der logischen Sekunde vor und nach dem Zeitpunkt, in dem das Ereignis konkret eintritt, zu beurteilen:

     

    • Nur wenn das Ausland eine solche Veräußerung tatsächlich besteuern und Deutschland diese Steuer nach § 34c Abs. 1 i. V. m § 34d EStG anrechnen oder nach § 34c Abs. 3 EStG abziehen müsste, wäre das Besteuerungsrecht beschränkt.

     

    • Wenn hingegen der andere Vertragsstaat, etwa, weil er nach nationalem Recht Veräußerungen im Privatvermögen grundsätzlich nicht besteuert, den hypothetischen Veräußerungsgewinn nicht besteuern kann, reicht m. E. die abstrakte Möglichkeit, dass das ausländische Steuerrecht irgendwann nach diesem Zeitpunkt geändert werden könnte, nicht aus, eine Gefährdung des deutschen Besteuerungsrechts anzunehmen. Erst wenn eine Gesetzesänderung im Ausland tatsächlich eintreten würde, griffe § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG. In diesem Fall käme es gemäß § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AStG „unmittelbar vor“ dieser Gesetzesänderung zur Entstrickungsbesteuerung. Da § 6 AStG aber nicht als Treaty Override ausgestaltet ist, könnte § 6 AStG im Ergebnis ins Leere laufen.

     

    3.3 Zwischenfazit

    Das Zwischenergebnis zur passiven Entstrickung ist recht eindeutig. Anders als § 6 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 AStG benennt Nr. 3 kein konkretes Zutun des Steuerpflichtigen als Tatbestandsmerkmal, das die Wegzugsbesteuerung auslöst, sondern lediglich irgendwelche Ereignisse, durch die das Besteuerungsrecht Deutschlands beschränkt oder ausgeschlossen wird. Gesetzgeber und Finanzverwaltung sehen die passive Entstrickung daher zu Recht als möglichen Anwendungsfall der Nr. 3, die FG eher nicht und der BFH hat sich dazu noch nicht positioniert.

     

    § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG setzt aber voraus, dass durch dieses Ereignis das deutsche Besteuerungsrecht beschränkt oder ausgeschlossen wird. Die Finanzverwaltung sieht die Norm zwar als Gefährdungstatbestand an. Allein die abstrakte Möglichkeit, das deutsche Besteuerungsrecht könnte durch ein Ereignis, das nach dem Entstrickungszeitpunkt eintritt, eingeschränkt oder ausgeschlossen werden (abstrakte Gefährdung), sollte aber nicht ausreichen, den Tatbestand des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG auszulösen. Die Norm enthält somit keinen Gefährdungstatbestand.

     

    FAZIT — Die ökonomische Analyse des § 6 Abs. 1 S. 1 AStG kommt zu einem eindeutigen Ergebnis.

     

    • § 6 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 AStG benennen abschließend Tatbestände, die nur durch ein Zutun des Steuerpflichtigen erfüllt sein können, nämlich die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht bzw. die unentgeltliche Übertragung der Anteile auf einen Steuerausländer. Passive Entstrickungen können nicht unter diese Normen fallen.

     

    • § 6 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 AStG setzen aber nicht voraus, dass durch dieses Zutun das deutsche Besteuerungsrecht tatsächlich beschränkt oder ausgeschlossen wird. Die Normen sind daher als Gefährdungstatbestände anzusehen. Bereits die abstrakte Möglichkeit, das deutsche Besteuerungsrecht könnte nach dem Entstrickungszeitpunkt durch ein weiteres Ereignis eingeschränkt oder ausgeschlossen werden, ist also ausreichend, um die Wegzugsbesteuerung auszulösen.

     

    • § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG erfordert hingegen kein konkretes Zutun des Steuerpflichtigen, sondern lediglich irgendwelche Ereignisse, durch die das Besteuerungsrecht Deutschlands beschränkt oder ausgeschlossen wird. Damit können auch passive Entstrickungen unter diese Normen fallen.

     

    • § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG setzt aber voraus, dass durch das nämliche Ereignis das deutsche Besteuerungsrecht bei einer fiktiven Veräußerung tatsächlich beschränkt oder ausgeschlossen wird. Allein die abstrakte Gefahr, das deutsche Besteuerungsrecht könnte durch ein weiteres Ereignis, das nach dem Entstrickungszeitpunkt eintritt, eingeschränkt oder ausgeschlossen werden, sollte aber nicht ausreichen, um den Tatbestand des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG auszulösen. Die Norm enthält somit keinen Gefährdungstatbestand.
     
    Quelle: Ausgabe 01 / 2026 | Seite 13 | ID 50638831