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  • 30.06.2016 · IWW-Abrufnummer 186928

    Finanzgericht Köln: Urteil vom 14.04.2016 – 2 K 1205/15

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Köln

    2 K 1205/15

    Tenor:

    Der Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 14. April 2015 verpflichtet, das Verständigungsverfahren nach Art. 26 DBA-Schweiz einzuleiten.

    Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

    Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruches der Klägerin abwenden, soweit der Kläger nicht zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

    Die Revision wird zugelassen.

    Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.

    1
    Tatbestand

    2
    Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein Verständigungsverfahren einzuleiten ist oder ob der Kläger insoweit die Antragsfrist versäumt hat.

    3
    Der Kläger hat seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland. Im Streitjahr 2005 war er als Geschäftsführer der in der Schweiz ansässigen B AG tätig. Aus dieser Tätigkeit erzielte er Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit. Diese Einkünfte wurden sowohl in der Schweiz als auch in der Bundesrepublik Deutschland der Einkommensteuer unterworfen.

    4
    Die Besteuerung in der Schweiz erfolgte mit dem Schweizer Einkommensteuerbescheid vom 31. Mai 2006 (s. Schriftsatz des Bekl. v. 14. August 2015, Seite 2, Bl. 81 der E‑Akte). In Deutschland wurden diese Einkünfte mit Einkommensteuerbescheid vom 6. März 2007 erfasst.

    5
    Die bezüglich des Streitjahres 2005 am 24. Februar 2011 beim zuständigen Finanzgericht Baden-Württemberg eingelegte Klage (Az.: 3 K 3878/13) war mangels wirksamen Einspruchs unzulässig. Die Beteiligten erklärten in der Folge das Klageverfahren insoweit in der Hauptsache für erledigt.

    6
    Mit Schreiben vom 9. Dezember 2011 (Posteingangsdatum beim Beklagten: 13. Dezember 2011) stellte der Kläger einen Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens nach Art. 26 Abs. 1 DBA-Schweiz.

    7
    Mit Bescheid vom 14. April 2015 wurde der Antrag wegen Versäumung der Antragsfrist im Wesentlichen mit folgenden Argumenten abgelehnt:

    8
    Der Kläger habe die in dem BMF-Schreiben vom 13. Juli 2006 (Merkblatt zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen, BStBl I 2006, 461) in Tz. 2.2.3. geregelte Vierjahresfrist nicht eingehalten.

    9
    Die Tatsache, dass in selber Sache ein finanzgerichtlicher Streit am Finanzgericht Baden-Württemberg anhängig sei, habe keinen Einfluss auf die durch das Bundesministerium für Finanzen geregelte Frist.

    10
    Die Vierjahresfrist des BMF Schreibens vom 15. April 2014 korrespondiere im Übrigen mit der regulären Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO, die anzuwenden sei, da insoweit eine vergleichbare Situation vorliege.

    11
    Im Übrigen sei der allgemeine Rechtsgrundsatz der Verwirkung, also der illoyalen Rechtsausübung aufgrund zeitlicher Verspätung, einschlägig.

    12
    Am 5. Mai 2015 hat der Kläger eine Sprungklage gemäß § 45 FGO erhoben, der der Beklagte (nach Zustellung der Klage am 12. Mai 2015) am 15. Juni 2015 zugestimmt hat.

    13
    Der Kläger trägt vor, dass das Verfahren besonders eilbedürftig sei, da die Frist zur Revision von Veranlagungsverfügungen in der Schweiz zehn Jahre ab dem Datum des Erlasses der Verfügung betrage (Art. 147 ff. DBG, Art. 51 StHG). Als Grund für eine Revision einer Schweizer Veranlagungsverfügung diene insbesondere auch die Einleitung eines Verständigungsverfahrens nach einem von der Schweiz abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen. Die Frist zur Revision des Schweizer Einkommensteuerbescheides 2005 werde demnächst ablaufen, so dass er ein besonderes Interesse daran habe, dass zuvor eine Entscheidung über die Einleitung des Verständigungsverfahrens getroffen werde.

    14
    Zwar sei die Klage vor dem Finanzgericht Baden-Württemberg hinsichtlich des Streitjahres 2005 unzulässig gewesen. Gleichwohl habe der zuständige Berichterstatter in dem dort durchgeführten Erörterungstermin feststellt, dass das Besteuerungsrecht für das Jahr 2005 bezüglich der Geschäftsführereinkünfte der Bundesrepublik Deutschland zustehe, da er in vollem Umfang die Voraussetzungen für eine Besteuerung als Grenzgänger gemäß Art. 15a DBA-Schweiz erfülle. Damit erweise sich die im Jahr 2005 in der Schweiz gegen ihn vorgenommene Besteuerung – mit Ausnahme der 4,5 %igen Grenzgängersteuer nach Art. 15a Abs. 1 Satz 2 DBA-Schweiz – als abkommenswidrig.

    15
    Rechtsgrundlage für die begehrte positive Ermessensentscheidung des Beklagten sei Art. 26 DBA-Schweiz. Weder aus Art. 26 DBA-Schweiz noch aus dem hierzu gehörigen Transformationsgesetz vom 5. September 1972 (BGBl II 1972, 1021), zuletzt vom 2. November 2011 (BGBl II 2011, 1090), ergebe sich eine Fristgebundenheit für einen Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens.

    16
    Da die Bundesrepublik vielfach in ihren Doppelbesteuerungsabkommen derartige Fristen explizit regele, könne nicht davon ausgegangen werden, dass sich die deutsche Verhandlungsdelegation bei der Aushandlung des Doppelbesteuerungsabkommens über die Frage einer Fristenregelung nicht bewusst gewesen sei. Hinzu komme, dass in der deutschen Abkommenspraxis für die Einleitung von Verständigungsverfahren eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Fristenregelungen festzustellen sei, die in vielen Fällen von der Fristenregelung des Art. 25 Abs. 1 Satz 2 OECD-MA abweichen würden. Teilweise würden die Fristen der im OECD-MA vorgesehenen Dreijahresfrist entsprechen. Es würden jedoch auch Abkommen vorliegen, die – wie das DBA-Schweiz – keinerlei Frist vorsehen. Darüber hinaus würden auch Abkommen bestehen, die eine kürzere Einleitungsfrist von zwei Jahren (z.B. DBA-Belgien) oder längere Einleitungsfristen von vier (z.B. DBA-USA) bis zu sechs Jahren (z.B. DBA-Großbritannien) regeln würden.

    17
    Die vom Beklagten angewandte Frist ergebe sich ausschließlich aus einer deutschen Verwaltungsregelung, dem BMF-Merkblatt vom 13. Juli 2006 (BStBl I 2006, 461, Tz. 2.2.3.). Der Beklagte könne die sich aus dieser Verwaltungsregelung ergebende Frist jedoch nicht in die einfachgesetzliche Regelung des Art. 26 DBA-Schweiz i.V.m. dem einschlägigen Zustimmungsgesetz hineininterpretieren. Denn eine reine Verwaltungsregelung vermag eine gesetzliche Regelung weder zu überschreiben noch entgegen deren eindeutigen Wortlaut zulasten eines Steuerpflichtigen zu ergänzen. Die bloße Verwaltungsregelung könne auch nicht eine Ermessensausübung durch den Beklagten beschränken oder ersetzen.

    18
    Bei der Ermessensentscheidung darüber, ob ein Verständigungsverfahren einzuleiten sei, habe der Beklagte insbesondere auch den Zweck des Verständigungsverfahrens zu berücksichtigen.

    19
    Die Aufnahme einer Verständigungsklausel in ein Doppelbesteuerungsabkommen sei eine allgemeine Pflicht für die Bundesrepublik Deutschland zum diplomatischen Schutz der ihrer Besteuerungshoheit Unterworfenen darstelle (BFH-Urteil vom 26. Mai 1982 – I R 16/78, BStBl II 1982, 583). Dieser Schutz bestehe insbesondere darin, dass aufgrund der Verständigungsklausel der andere Vertragsstaat aufgefordert werde, wegen des aufgetretenen Konflikts im Besteuerungsverfahren in Verhandlungen einzutreten. In der Literatur wird aus diesem Gedanken sogar ein Rechtsanspruch des Steuerpflichtigen auf Durchführung eines Verständigungsverfahrens gefolgert, soweit das betroffene DBA eine Verständigungsklausel enthalte. Dabei werde die Auffassung vertreten, dass die dem Heimatstaat des Antragstellers obliegende diplomatische Schutzpflicht das Ermessen im Hinblick auf die Einleitung eines Verständigungsverfahrens auf Null reduziere.

    20
    In Ansehung des Wortlauts des Art. 26 Abs. 2 DBA-Schweiz könne dies jedoch dahingestellt bleiben. Denn dessen Voraussetzungen seien unzweifelhaft erfüllt. Nach dem Verlauf des Verfahrens beim Finanzgericht Baden-Württemberg (3 K 718/11) dürfte geklärt sein, dass er, der Kläger, als Geschäftsführer einer Schweizer Kapitalgesellschaft im Jahr 2005 nichtselbständig tätig gewesen sei und dass die Voraussetzungen für eine Grenzgängerbesteuerung nach Art. 15a DBA-Schweiz bei ihm vorgelegen hätten. Dies habe zur Folge, dass die durch das Finanzamt A vorgenommene Besteuerung seiner Einkünfte für das Jahr 2005 abkommenskonform und zutreffend sei und die bereits zuvor vorgenommene Schweizer Ertragsbesteuerung in den Regelungen des DBA-Schweiz keine Stütze finde, mithin abkommenswidrig erfolgt sei. Folglich könne die deutsche Finanzbehörde bei diesem Sachverhalt selbst keine „befriedigende Lösung“ herbeiführen. Die Formulierung des Art. 26 Abs. 2 DBA-Schweiz „… so wird sie sich bemühen …“ begründe ein im Regelfall gebundenes Ermessen des Beklagten, im Falle einer tatsächlich erfolgten abkommenswidrigen Doppelbesteuerung das Verständigungsverfahren einzuleiten. Diese Überlegung werde dadurch gestützt, dass die Vertragsparteien des DBA-Schweiz in Art. 26 gerade keine Frist für die Einleitung eines Verfahrens aufgenommen und die Vertragsparteien offensichtlich eine zeitlich unbefristete und möglichst vollständige Vermeidung einer Doppelbesteuerung intendiert hätten.

    21
    Die Verfahrenseinleitung von deutscher Seite könne bei verständiger Würdigung nur zu einer Rücknahme der Schweizer Besteuerung für das Jahr 2005 führen. Dem würden im Ergebnis auch nicht die Schweizer Rechtsvorschriften zur Revision von Steuerveranlagungen entgegenstehen. So würden Art. 148 DBG, Art. 51 Abs. 3 StHG Regelungen enthalten, wonach selbst in Bestandskraft erwachsene Steuerveranlagungen in der Schweiz innerhalb einer Frist von zehn Jahren nach Eröffnung der Veranlagungsverfügung oder des Veranlagungsentscheids durch bilaterale Verständigungsmaßnahmen geändert werden könnten. Dies sei im Ergebnis auch Ausfluss der Bereitschaft der Schweiz, Verständigungsverfahren – wie Art. 26 DBA-Schweiz zeige – ohne Ansehung einer Frist einzuleiten oder bei Einleitung durch die Gegenseite in sie einzutreten (s. hierzu BMF-Schreiben vom 30. Juni 1997, BStBl I 1997, 651).

    22
    Darüber hinaus sei die Vierjahresfrist selbst unter Zugrundelegung des BMF-Schreibens nicht anwendbar. Es würden „besondere Umstände“ i.S.d. Tz. 2.2.3. vorliegen. Diese seien in der besonderen Historie des materiellrechtlichen Steuerverfahrens begründet. Denn er habe bereits für das Jahr 2000 bei gleichem Sachverhalt wie für die Jahre 2001-2004 ein Verständigungsverfahren bei dem Beklagten eingeleitet. Seinerzeit habe das Finanzamt A jedoch den Sachverhalt fehlerhaft dargestellt und dies habe letztlich im Ergebnis dazu geführt, dass die Schweizer Finanzverwaltung nicht in das Verständigungsverfahren eingetreten sei. Die unzureichende Sachverhaltsaufklärung des Finanzamtes A habe sich bis in die Jahre 2001-2007 fortgesetzt und habe schließlich durch ihren Prozessbevollmächtigten richtiggestellt werden müssen. Dieser von den beteiligten Finanzbehörden verschuldete, desaströse Verfahrensablauf stelle „besondere Umstände“ dar, die auch nach Ablauf der Vierjahresfrist des BMF-Schreibens eine Ermessensentscheidung zu Gunsten einer Einleitung des Verständigungsverfahrens erfordern würden.

    23
    Soweit der Beklagte vortrage, dass die Anwendung der Vierjahresfrist gerechtfertigt sei, weil sie mit der allgemeinen Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO korrespondiere und die Situation vergleichbar sei, bleibe unklar, was er damit meine. Eine vergleichbare Situation liege schon deshalb nicht vor, weil es sich bei der Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO um Fristen für eine Steuerfestsetzung, mithin für gebundene Verwaltungsakte handele.

    24
    Entgegen der Auffassung des Beklagten sei es im Streitfall ohne rechtliche Bedeutung, dass das OECD-MA in Art. 25 Abs. 1 Satz 2 eine Antragsfrist von drei Jahren vorsehe. Das OECD-MA entfalte im Streitfall als völkerrechtlicher Vertrag keine Bindungswirkung.

    25
    Es bleibe unklar, was der Beklagte damit meine, dass die fehlende Fristenregelung im DBA-Schweiz dazu führen würde, dass die innerstaatlichen Regelungen des jeweiligen Vertragsstaats anzuwenden seien. Soweit er damit auf Art. 3 Abs. 2 DBA-Schweiz zurückkommen wolle, sei anzumerken, dass diese Norm lediglich die Auslegung eines im Abkommen enthaltenen Rechtsbegriffs nach dem Recht des Anwenderstaates zulasse. Im Streitfall sei aber kein im Abkommen enthaltener Rechtsbegriff nach deutschem Rechtsverständnis auszulegen.

    26
    Das Argument des Beklagten, dass die Fristenregelung in dem BMF-Merkblatt 2006 aus Gründen der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung und aus Gründen der Wahrung eines einheitlichen Standards geboten sei, gehe ins Leere. Denn einen derartigen einheitlichen Standard gebe es angesichts der unterschiedlichen Fristenregelungen in den von Deutschland geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen nicht.

    27
    Der Kläger beantragt,

    28
    den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 14. April 2015 zu verpflichten, für das Jahr 2005 ein Verständigungsverfahren nach Art. 26 DBA-Schweiz einzuleiten;

    29
    hilfsweise die Revision zuzulassen.

    30
    Der Beklagte beantragt,

    31
    die Klage abzuweisen.

    32
    Der Beklagte trägt vor, dass die Einleitung eines Verständigungsverfahrens nach Art. 26 DBA-Schweiz abzulehnen sei, weil der Kläger seinen entsprechenden Antrag für das Streitjahr 2005 erst nach Ablauf der insoweit zu beachtenden Frist gestellt habe.

    33
    Art. 26 DBA-Schweiz enthalte zwar keine Bestimmungen über einzuhaltende Antragsfristen. Die Regelung bestimme jedoch auch nicht positiv, dass eine Antragstellung ohne Einhaltung einer Frist, mithin zeitlich unbeschränkt möglich sein solle.

    34
    Zur Gewährleistung einer innerstaatlich einheitlichen Handhabung des Verfahrens in Fällen, in denen mit dem Abkommenspartnerstaat keine individuell einschlägigen DBA-Bestimmungen über die Verfahrenseinleitung vereinbart worden seien, habe das BMF im Erlasswege den an Art. 25 OECD-MA orientierten BMF-Erlass 2006 veröffentlicht. Demzufolge stimme die deutsche Finanzverwaltung der Einleitung eines Verständigungsverfahrens nicht zu, wenn der Steuerpflichtige eine Zeit von mehr als vier Jahren zwischen der Bekanntgabe der maßgebenden Besteuerungsmaßnahme an ihn selbst und seinem Antrag habe verstreichen lassen, soweit nicht besondere Umstände eine frühere Geltendmachung ausgeschlossen hätten (vgl. BMF-Schreiben 2006, Tz. 2.2.3.).

    35
    Das einschlägige OECD-MA verschärfe die Antragsfrist sogar auf drei Jahre. Die innerstaatlich gesetzte Frist von vier Jahren sei also angemessen und trage dem Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers hinreichend Rechnung.

    36
    Eine Antragsfrist sei ein allgemein anerkanntes Rechtsinstitut, welches im Interesse aller beteiligten Parteien ab einem definierten Termin für Rechtssicherheit und Rechtsfrieden sorge. Mithin stelle eine Antragsbefristung keine Beschneidung von Rechten des Klägers dar, die er aus Art. 26 DBA-Schweiz ableiten könne. Vielmehr führe die fehlende Fristenregelung im DBA-Schweiz gerade dazu, dass die innerstaatlichen Regelungen des jeweiligen Vertragsstaates - hier die Regelung des BMF-Schreibens – anzuwenden seien. Entsprechendes empfehle die einschlägige Kommentierung zum OECD-MA für Fälle, in denen das DBA keine zu Art. 25 Abs. 1 Satz 2 OECD-MA vergleichbare Frist enthalte. Dabei werde auf den Schutz der Verwaltung vor dem Eingang zeitlich unbefristeter Anträge zur Einleitung von Verständigungsverfahren hingewiesen. In diesem Falle sei auf eine Antragsfrist in Analogie zu den nationalen Regelungen bezüglich DBA abzustellen (so Art. 25 Tz. 20 OECD-MK).

    37
    Der in Textziffer 2.2.3. des BMF-Erlass 2006 zur Beantragung von Verständigungsverfahren vorgesehene Vierjahreszeitraum korrespondiere dabei mit der in § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vorgesehenen Verjährungsfrist für die Festsetzungsverjährung von Steuerbescheiden. Dabei sei die Situation mit der Einleitung von Verständigungsverfahren vergleichbar. Denn die Beantragung eines Verständigungsverfahrens werde in Textziffer 2.2.3. des BMF-Erlasses 2006 von dem Erlass einer die doppelbesteuerungsabkommenswidrige Besteuerung begründenden Maßnahme – wie z.B. einem Steuerbescheid – abhängig gemacht.

    38
    Eine solche Sachverhaltsbehandlung entspreche auch der Auffassung des BFH, wonach die Auslegung von Vorschriften eines Abkommens auch nach den Grundsätzen des innerdeutschen Rechts erfolgen könne (BFH-Urteil vom 23. März 1972 – I R 128/70, BStBl II 1972, 948). Schon allein aus Gründen der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung sei es geboten, einen einheitlichen Standard einzuhalten, so wie er mit dem BMF-Erlass 2006 gesetzt werde (vgl. § 85 AO).

    39
    Im Streitfall habe der Kläger die Vierjahresfrist versäumt. Die Frist habe mit der Bekanntgabe des deutschen Einkommensteuerbescheides am 9. März 2007 begonnen (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO). Folglich sei die Frist zur Einleitung des Verständigungsverfahrens mit Ablauf des 9. März 2011 und damit vor der tatsächlichen Beantragung durch den Kläger am 9. Dezember 2011 geendet.

    40
    Die Anhängigkeit nationaler Rechtsbehelfsverfahren habe keinen Einfluss auf die Frist zur Einleitung eines Verständigungsverfahrens (vgl. OECD-MK Art. 25 Tz. 25). Der Antragsteller habe die Wahl, welche der verfügbaren Alternativen – innerstaatliches Rechtsbehelfsverfahren oder zwischenstaatliches Verständigungsverfahrens – seines Erachtens ihm mit höherer Wahrscheinlichkeit die angestrebte Entlastung bringen könne.

    41
    Gewichtige Gründe, die eine Antragstellung vor dem tatsächlichen Termin verhindert haben könnten, seien von dem Kläger weder vorgetragen worden noch seien sie erkennbar. Der steuerrechtlich beratene Kläger habe primär auf die Verfolgung des innerstaatlichen Rechtsbehelfsverfahrens vertraut und darüber die rechtzeitige Einleitung des Verständigungsverfahrens versäumt.

    42
    Die Einleitung des Verständigungsverfahrens scheitere ausschließlich an der Versäumung der Frist.

    43
    Entscheidungsgründe

    44
    Die Klage ist zulässig und begründet.

    45
    A. Der Senat versteht den Antrag der Klägerin auf Verpflichtung des Beklagten zur Einleitung eines Verständigungsverfahrens als allgemeine Leistungsklage (§ 40 Abs. 1 Alt. 3 FGO). Begehrt wird schlichtes Verwaltungshandeln; denn eine unmittelbare Rechtswirkung der eingeforderten Verfahrenseinleitung i. S. d. § 118 AO ist nicht gegeben. Eine auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtete Verpflichtungsklage (§ 40 Abs. 1 Alt. 2 FGO) scheidet damit aus. Aber selbst wenn man in der Ablehnung der Einleitung des Verständigungsverfahrens einen Verwaltungsakt sehen wollte (vgl. Flüchter, in Schönfeld/Ditz, DBA, Art. 25 Rn. 130), wäre die Klage zulässig. Insbesondere die mangelnde Durchführung eines Vorverfahrens i.S.d. § 44 FGO wäre unschädlich, da die Voraussetzungen einer Sprungklage gemäß § 45 FGO gegeben sind.

    46
    B. Der Kläger ist durch den Ablehnungsbescheid vom 14. April 2015 in seinen Rechten verletzt. Er hat einen Anspruch auf die Einleitung eines Verständigungsverfahrens nach Art. 26 DBA-Schweiz für das Jahr 2005. Die vom Beklagten angewandte Antragsfrist entbehrt einer rechtlichen Grundlage und hat folglich keine Geltung.

    47
    I. Die Antragsfrist ist weder in dem DBA-Schweiz noch in dem Transformationsgesetz vom 5. September 1972 (BGBl II 1972, 1021), zuletzt vom 2. November 2011 (BGBl II 2011, 1090), enthalten. Soweit das OECD-MA in Art. 25 Abs. 1 Satz 2 eine dreijährige Frist vorsieht, ist diese unbeachtlich, da sie keine Bindungswirkung zwischen den Vertragsstaaten des DBA-Schweiz hat. Auch im Übrigen ist keine Rechtsgrundlage ersichtlich. Insbesondere das Merkblatt des BMF vom 13. Juli 2006 (VV DEU BMF 2006-07-13 IV B 6-S 1300-340/06, BStBl I 2006, 461) stellt als reine Verwaltungsregelung keine Rechtsgrundlage dar.

    48
    II. Die Frist des BMF-Merkblatts (Abschn. 2.2.3.) ist auch nicht als Ermessensrichtlinie erheblich.

    49
    Art. 26 DBA-Schweiz ist keine Ermessensvorschrift (so auch Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 16.101; Flüchter, in Schönfeld/Ditz, DBA, Art. 25 Rn. 124 ff.; Kubaile, in Flick/Wassermeyer/Kempermann, DBA Deutschland-Schweiz, Art. 26 Rn. 55).

    50
    1. Dem Wortlaut nach normiert Art. 26 Abs. 2 DBA-Schweiz folgendes: Hält die zuständige Behörde die Einwendung für begründet und ist sie selbst nicht in der Lage, eine befriedigende Lösung herbeizuführen, so wird sie sich bemühen, den Fall durch Verständigung mit der zuständigen Behörde des anderen Vertragsstaates so zu regeln, dass eine dem Abkommen nicht entsprechende Besteuerung vermieden wird. Das heißt, dass immer dann, wenn die abkommenswidrige Besteuerung gegeben ist, und die zuständige Behörde diese nicht durch Abhilfe im eigenen Staat beseitigen kann, ein Bemühen um bilaterale Verständigung vorgesehen ist. Das Bemühen um bilaterale Verständigung beginnt mit der Einleitung des Verständigungsverfahrens. Nach Auffassung des Senats besteht insoweit kein Ermessen der zuständigen Behörde. Das Bemühen steht nicht im Ermessen der Behörde, sondern ist als Rechtsfolge vorgesehen, sofern die Voraussetzungen des Art. 26 Abs. 1 DBA-Schweiz vorliegen. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 26 Abs. 2 DBA-Schweiz, der nicht als Kann- oder Soll-Vorschrift formuliert ist.

    51
    2. Der Senat setzt sich damit nicht in Widerspruch zu der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BFH.

    52
    a. Der BFH hatte in seinem Urteil vom 26. Mai 1982 (I R 16/78, BStBl II 1982, 583) zwar entschieden, dass der zuständigen Behörde ein Ermessen hinsichtlich der Einleitung des Verständigungsverfahrens nach dem DBA-Schweiz zustehe. Allerdings betrifft diese Entscheidung das DBA-Schweiz in seiner Fassung von 1931/1959. Die im Streitfall anwendbare Fassung des DBA-Schweiz weicht hiervon ab. Der dem heutigen Art. 26 Abs. 1 und Abs. 2 DBA-Schweiz ähnliche damalige Art. 13 Abs. 1 DBA-Schweiz 1931/1959 war als Soll-Vorschrift formuliert („soll … versuchen … sich zu verständigen“). Mangels damals erforderlicher juristischer Doppelbesteuerung sah der BFH Art. 13 Abs. 1 DBA-Schweiz 1931/1959 als nicht anwendbar an. Er prüfte sodann Art. 13 Abs. 2 DBA-Schweiz 1931/1959, der dem heutigen Art. 26 Abs. 3 DBA-Schweiz ähnelt, jedoch als Kann-Vorschrift formuliert war. Hieraus folgt, dass das Urteil des BFH vom 26. Mai 1982 zur Auslegung des heutigen Art. 26 DBA-Schweiz nicht herangezogen werden kann. Zwar hat das FG Hamburg in seinem Urteil vom 13. Juli 2000 (V 2/97, EFG 2001, 27) auch hinsichtlich eines neueren DBAs (DBA-Zypern 1974) ein Ermessen der zuständigen Behörde bezüglich der Einleitung eines Verständigungsverfahrens angenommen. Zur Begründung hat es sich jedoch auf das BFH-Urteil vom 26. Mai 1982 gestützt, ohne auf den deutlichen Wortlautunterschied zwischen Art. 25 Abs. 2 DBA-Zypern und der für das BFH-Urteil wesentlichen Vorschrift des Art. 13 Abs. 2 DBA-Schweiz 1931/1959 einzugehen.

    53
    b. Auch die Erwägungen des BFH, die über den Wortlaut hinausgehen, sind nicht auf Art. 26 DBA-Schweiz in der im Streitfall anwendbaren Fassung übertragbar. So hatte der BFH erwogen, dass eine zum Handeln im zwischenstaatlichen Bereich berufene Behörde im Interesse der Allgemeinheit ihres Landes internationale Rücksichtnahme und ggf. Zurückhaltung üben können müsse. Angesichts Art. 25 Rz. 37 Satz 1 OECD-MK überzeugt diese Erwägung jedoch nicht. Denn nach Art. 25 Rz. 37 Satz 1 OECD-MK verpflichtet Art. 25 Abs. 2 zum Verhandeln, so dass international in dieser Hinsicht keine Zurückhaltung erwartet werden wird.

    54
    3. Auch die Verwaltung selbst sieht in dem BMF-Merkblatt vom 13. Juli 2006 keine Ermessensausübung vor, wenn die materiellen Voraussetzungen für das Verständigungsverfahren hinreichend dargelegt sind (s. Abschn. 2.4.3. des BMF-Merkblatts vom 13. Juli 2006). Denn dann „leitet“ das Bundeszentralamt für Steuern hiernach das Verständigungsverfahren ein. Es besteht kein Ermessensspielraum. Insbesondere ist der noch im Vorgängermerkblatt von 1997 enthaltene Hinweis auf ein Ermessen und auf das BFH-Urteil von 1982 entfallen (vgl. BMF-Merkblatt vom 1. Juli 1997 – IV C 5 – S 1300 – 189/96, BStBl I 1997, 717 Rz. 2.4.3.).

    55
    III. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die Einleitung des Verständigungsverfahrens nach Art. 26 Abs. 2 DBA-Schweiz eine Ermessensentscheidung darstellen würde, wäre die Anwendung der Frist i.S.d. Abschnitts 2.2.3. des BMF-Merkblatt vom 13. Juli 2006 als Ermessensrichtlinie nicht rechtmäßig. Denn eine Selbstbindung der Verwaltung scheidet aus, wenn sie in Widerspruch zu einem Gesetz oder einem DBA steht. Im Streitfall sehen weder Art. 26 DBA-Schweiz noch das entsprechende Transformationsgesetz eine solche Frist vor, so dass die durch die Verwaltung vorgesehene Frist dem widerspricht. Dies wäre auch im Rahmen des nach § 102 FGO bestehenden eingeschränkten gerichtlichen Prüfungsumfangs zu berücksichtigen.

    56
    IV. Entgegen der Auffassung des Beklagten ergibt sich die Rechtmäßigkeit der Frist auch nicht aus einer entsprechenden Anwendung von § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO. Insoweit ist bereits keine Regelungslücke gegeben. Dies wird durch die historische Entwicklung des Art. 26 DBA-Schweiz bestätigt. Art. 26 DBA-Schweiz wurde mit dem Revisionsprotokoll vom 27. Oktober 2010 dahingehend geändert, dass eine Schiedsklausel eingeführt wurde. Diese Änderung ist mit Wirkung ab dem 1. Januar 2012 in Kraft getreten. Trotz Änderung des Art. 26 DBA-Schweiz ist davon abgesehen worden, in Absatz 1 eine Fristenregelung einzuführen, obwohl Art. 25 Abs. 1 Satz 2 OECD-MA bereits seit 1977 eine Frist von drei Jahren vorsieht, innerhalb derer ein Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens gestellt sein muss. Hierin sieht der Senat eine Bestätigung dafür, dass die Vertragsstaaten Deutschland und Schweiz auf die Einführung einer Frist bewusst verzichtet haben.

    57
    V. Auch soweit sich der Beklagte auf Art. 25 Rz. 20 OECD-MK beruft, vermag dies nicht zu überzeugen. Denn hiernach sind vom OECD-MA abweichende Fristen nur zu Gunsten des Steuerpflichtigen vorgesehen.

    58
    VI. Die übrigen Voraussetzungen für die Einleitung eines Verständigungsverfahrens gemäß Art. 26 Abs. 1 und 2 DBA-Schweiz sind - auch nach Auffassung des Beklagten - erfüllt. Hieran zu zweifeln besteht für den Senat kein Anlass.

    59
    VII. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

    60
    VIII. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

    61
    IX. Die Revision wird wegen grundlegender Bedeutung i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.

    62
    X. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52, 63 GKG.

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