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  • · Fachbeitrag · Verlustnutzung über die Grenze

    EU-Entwicklungen zur Verlustverrechnung

    von Prof. Dr. Dieter Endres und StB Dr. Stefan Brunsbach, Frankfurt a. M.

    | Die Frage, ob eine grenzüberschreitende Berücksichtigung steuerlicher Verluste innerhalb der Europäischen Union (EU) möglich ist, hat in der Rechtsprechung des EuGH eine langjährige Historie. Die Ende 2015 ergangene EuGH-Entscheidung Timac Acro ( EuGH 17.12.15, C-388/14, BStBl II 16, 362) hat die bisherige Rechtsprechungspraxis infrage gestellt und wieder alle Aufmerksamkeit auf eines der Zentralthemen im Unternehmenssteuerrecht gelenkt - die steuerliche Verlustnutzung über die Grenze. Der Musterfall zeigt die Rechtsentwicklung im Hinblick auf die unionsrechtliche Verpflichtung zur Berücksichtigung ausländischer Betriebsstättenverluste auf. |

    1. Sachverhalt

    Die beiden italienischen Brüder Silvio und Giovanni eröffneten vor 20 Jahren ihre erste Eisdiele in Mannheim. Ihre einzigartigen Rezepturen für besonders ausgefallene Eissorten bereiteten ihnen in kürzester Zeit einen enormen Erfolg. Silvio und Giovanni wagten daher den großen Schritt und gründeten eine Eisfabrik, die in der Rechtsform der GmbH geführt wird. Über ein Franchise-Konzept beliefert diese Lido GmbH mittlerweile 100 Eisdielen in ganz Deutschland.

     

    2013 sollte das erfolgreiche Geschäftsmodell auch im angrenzenden Ausland eingeführt werden. Zu diesem Zweck wurde in Belgien eine zweite Produktionsstätte für Speiseeis eröffnet. Leider erwies sich das Franchise-Konzept in Belgien nicht als erfolgreich und so erwirtschaftete die belgische Niederlassung in den Jahren 2013 - 2015 jeweils Verluste von 1 Mio. EUR. Ende 2015 beschlossen die Brüder daher, das belgische Geschäftsmodell grundsätzlich neu zu strukturieren. Aus Haftungsgründen soll das belgische Geschäft ab dem 1.10.16 in der Rechtsform einer BV (vergleichbar der deutschen GmbH) fortgeführt werden. Die Lido BV wird als 100-prozentige Tochtergesellschaft der Lido GmbH gegründet. Die Lido BV erwirbt sämtliches Betriebsvermögen der belgischen Niederlassung von der Lido GmbH zum Marktwert, der dem Buchwert entspricht.

     

    Durch die Übertragung des belgischen Betriebsstättenvermögens auf die Lido BV wird die Betriebsstätte aufgelöst. Eine Übertragung der Verluste auf die Lido BV erfolgt nach belgischem Steuerrecht nicht, sodass die Betriebsstättenverluste in Belgien final nicht mehr genutzt werden können. Ist eine Berücksichtigung dieser Verluste bei der Lido GmbH in Deutschland möglich?

    2. Lösungshinweise

    2.1 Eckpfeiler der Rechtsprechung zur Verlustverrechnung

    In seinem Grundsatzurteil in der Rechtssache Marks & Spencer (EuGH 13.12.05, C-446/03, DStR 05, 2168) hat der EuGH zu einem Konzernsachverhalt entschieden, dass die uneingeschränkte Versagung eines Verlustabzugs über die Grenze und damit die Ungleichbehandlung von inländischen und ausländischen Verlusten im britischen Steuerrecht mit geltendem EU-Recht unvereinbar ist. Zur Wahrung der Niederlassungsfreiheit muss der Ansässigkeitsstaat eine Verlustberücksichtigung allerdings nur zulassen, wenn

     

    • die Tochtergesellschaft die lokalen Möglichkeiten zur Verlustberücksichtigung ausgeschöpft hat und
    • keine Möglichkeit im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft besteht, dass die Verluste von ihr selbst oder einem Dritten berücksichtigt werden.

     

    Damit hat der EuGH - auch um eine doppelte Verlustnutzung in zwei Mitgliedsstaaten zu vermeiden - einer unbegrenzten Verlustverrechnung für europaweit tätige Konzerne eine Absage erteilt. Die ausländische Verlustverrechnung fällt primär in die Kompetenz des Tätigkeitsstaates. Erst wenn die Auslandstochter alle Möglichkeiten zur Verlustverrechnung ausgeschöpft und keine Möglichkeit mehr hat, die Verluste selbst oder durch Übertragung auf Dritte zu nutzen (No Possibilities Test), ist eine grenzüberschreitende Verlustnutzung bei der Muttergesellschaft EU-rechtlich geboten. Insoweit kann von dem Bestehen einer unionsrechtlichen Verpflichtung zur Gewährung einer „Ausfallbürgschaft“ des Heimatstaates gesprochen werden, falls Verluste im Quellenstaat nicht nutzbar sind (so Schnitger, in: Lüdicke/Schnitger/Spengel, Besteuerung internationaler Unternehmen, Festschrift für Dieter Endres, München 2016, 365). Eine Versagung des Abzugs solcher finaler Verluste ist gemeinschaftsrechtswidrig (Ultimo-Ratio-Regelung).

     

    Mit der EuGH-Rechtsprechung zur finnischen Gruppenbesteuerung (EuGH 18.7.07, C-231/05, DStRE 08, 285) und dem EuGH-Urteil in der Rechtssache Lidl Belgium (EuGH 15.5.08, C-414/06, BStBl II 09, 692) sind die Grundlinien der Marks & Spencer-Entscheidung bestätigt und auf Betriebsstättensachverhalte übertragen worden (zur bisherigen Rechtsprechung zu Betriebsstättenverlusten vgl. Kögel, in: Lüdicke/Mellinghoff/Rödder, Nationale und internationale Unternehmensbesteuerung in der Rechtsordnung, Festschrift für Dietmar Gosch, München 2016, 207). Im Urteil in der Rechtssache KR Wannsee (EuGH 23.10.08, C-157/07, BStBl II 09, 566) schränkt der EuGH in einem Betriebsstättensachverhalt seine vorherigen Entscheidungen dahin gehend ein, dass nicht immer davon ausgegangen werden kann, dass der Ansässigkeitsstaat des Stammhauses eine Verpflichtung zur „finalen“ Verlustberücksichtigung habe. Besteht beispielsweise keine Möglichkeit eines Verlustvortrags im Betriebsstättenstaat, so könne der Steuerpflichtige diesen Nachteil nicht auf den Ansässigkeitsstaat des Stammhauses abschieben. Der EuGH begründet seine Entscheidung damit, dass Deutschland nicht verpflichtet werden kann, die eventuell ungünstigen Auswirkungen der ausländischen Regelung zu kompensieren. Diese Auffassung entspricht dem BMF-Schreiben (13.7.09, IV B 5 - S 2118 a/07/10004, BStBl I 09, 835), das die Nichtanwendung des BFH-Urteils vom 17.7.08 (I R 84/04, DStR 08, 1869) festlegt. Der BFH hatte darin noch eine großzügigere Verlustabzugsmöglichkeit vorgesehen.

     

    Der BFH hat sich auf Basis dieser EuGH-Rechtsprechung in einigen Entscheidungen mit der Frage beschäftigt, wann von dem Bestehen finaler Verluste auszugehen ist, d. h. unter welchen Umständen die „Ausfallbürgschaft“ des Ansässigkeitsstaates der Muttergesellschaft/des Stammhauses greift (so BFH 9.6.10, I R 107/09, IStR 10, 670; BFH 5.2.14, I R 48/11, IStR 14, 377). Demnach können Verluste trotz einer abstrakten Möglichkeit der zukünftigen Verlustverwertung im anderen Staat als final qualifiziert werden, wenn diese Möglichkeit „so gut wie ausgeschlossen ist“ und andernfalls später verfahrensrechtlich rückwirkend noch korrigiert werden kann (zu weiteren Hinweisen vgl. Schnitger, a. a. O., 366 ff; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, 8. Aufl., 432 ; Hey, in: Lüdicke/ Mellinghoff/Rödder, a. a. O., 171).

     

    Das vorläufig letzte Kapitel in der EuGH-Rechtsprechung zu diesem Themenkreis liefern die Entscheidungen in den Rechtssachen Nordea Bank (EuGH 17.7.14, C-48/13, BB 14, 1813) und Timac Acro (EuGH 17.12.15, C-388/14, BStBl II 16, 362), welche die Inlandsberücksichtigung ausländischer Betriebsstättenverluste betreffen. In der Timac-Acro-Entscheidung hat der EuGH eine deutsche Verpflichtung zur Berücksichtigung österreichischer Betriebsstättenverluste abgelehnt (zur Urteilsanalyse vgl. Schnitger, IStR 16, 72; Wilke, PIStB 16, 119 f). Die Wertungswidersprüche zu den Grundprinzipien der Marks & Spencer-Entscheidung sind offenkundig (insoweit spricht Schnitger, a. a. O., 373, auch von einem „Flickenteppich“ in der Rechtsprechung). Da die deutsche Finanzverwaltung dieses Urteil als eine Kehrtwende des EuGH betrachtet, ist davon auszugehen, dass die Finanzverwaltung bis auf Weiteres auch finale ausländische Betriebsstättenverluste grundsätzlich nicht anerkennen wird.

     

    2.2 Konsequenzen für den Sachverhalt

    Die Lido GmbH ist im Inland mit ihrem Welteinkommen unbeschränkt steuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 KStG). Die einer belgischen Betriebsstätte zuzurechnenden Einkünfte stellen Einkünfte aus einem Unternehmen i. S. d. Art. 3 Abs. 1 Nr. 5 DBA Deutschland/Belgien (DBA D/B) dar, die in Belgien gemäß Art. 7 Abs. 1 DBA D/B besteuert werden können. Entsprechendes gilt für Gewinne aus der Veräußerung von Betriebsstättenvermögen (Art. 13 Abs. 2 DBA D/B). Nach Art. 23 Abs. 1 Nr. 1 DBA D/B sind die Einkünfte einer belgischen Betriebsstätte in Deutschland von der Steuer befreit.

     

    Da sich der Begriff Betriebsstätteneinkünfte auf einen Nettobetrag bezieht, sind nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich nicht nur Betriebsstättengewinne, sondern ebenso Betriebsstättenverluste aus der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer auszunehmen (vgl. BFH 17.7.08, I R 84/04, DStR 08, 1869; BFH 3.2.10, I R 23/09, DStR 10, 918 und BFH 9.6.10, I R 107/09, DStR 10, 1611). Dies entspricht der Symmetriethese, nach der Verluste, die in einer ausländischen Betriebsstätte anfallen, für die nach dem jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommen die Freistellungsmethode anzuwenden ist, grundsätzlich nicht auf Ebene des deutschen Stammhauses steuerlich berücksichtigt werden können, da entsprechende Gewinne auch von der inländischen Bemessungsgrundlage ausgenommen werden (kritisch zu dieser Symmetriethese Kögel, a. a. O., 217).

     

    Fraglich ist aber, ob bei dieser Sachverhaltskonstellation (dem Auftreten finaler, in Belgien nicht mehr nutzbarer Verluste) der Rückgriff auf die EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit den Verlustabzug in Deutschland eröffnet. War hiervon nach dem BFH-Urteil vom 5.2.14 (I R 48/11, IStR 14, 377) noch auszugehen, so ist mit der jüngsten Entscheidung des EuGH zur Rechtssache Timac Acro (EuGH 17.12.15, C-388/14, BStBl II 16, 362) die Diskussion neu entfacht.

     

    Die Berücksichtigung ausländischer Betriebsstättenverluste wird in diesem Urteil ohne allzu dezidierte Begründung verneint. Im Wesentlichen rechtfertigt der EuGH seine Auffassung damit, dass die Situation einer in Österreich belegenen Betriebsstätte nicht mit der Situation einer in Deutschland belegenen Betriebsstätte vergleichbar ist. Welche Auswirkungen sich hieraus für den Rechtsanwender ergeben, muss abgewartet werden, da nach dieser Entscheidung der verbleibende Anwendungsbereich für die Berücksichtigung ausländischer finaler Verluste sehr eingeschränkt wird. So ist im Fall der Lido GmbH anzunehmen, dass sich die deutsche Finanzverwaltung in ihrer kritischen Betrachtung zur Zulässigkeit der Verlustverrechnung bestätigt sieht und bis auf Weiteres die (finalen) belgischen Betriebsstättenverluste in Deutschland nicht zur Verrechnung anerkennen wird.

     

    FAZIT |

    In Zeiten der Globalisierung ist gerade auch die Thematik, ob und inwieweit Auslandsverluste grenzüberschreitend verrechenbar sind, von besonderem Interesse. Die Frage nach einer unionsrechtlichen Verpflichtung zur Berücksichtigung von Auslandsverlusten ist deshalb auch ein Dauerthema entsprechender Fachkreise. Zwar hat der EuGH einer unbegrenzten Verlustverrechnung für europaweit tätige Unternehmen in den Grundsatzurteilen Marks & Spencer und Lidl Belgium eine Absage erteilt, gleichzeitig aber partiell - für finale Verluste - die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung statuiert.

     

    Die jüngere EuGH-Rechtsprechung hat allerdings die bisher recht weitgehende Rechtsprechung zur Berücksichtigung finaler Verluste deutlich eingeschränkt. Dabei hat sie nicht die erhoffte Definition zum Finalitätsbegriff beschert, sondern stattdessen das bisherige Verständnis ins Wanken gebracht und so neue Zweifelsfragen aufgeworfen (vgl. Schnitger, IStR 16, 74; Jung/Rode, DB 16, 138). Insoweit dürfte die fiskalisch umkämpfte Anerkennung ausländischer Verluste auch künftig die nationalen und europäischen Gerichte beschäftigen. Auch eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage in der EU wird auf absehbare Zeit diesbezüglich wohl noch keine Klärung bringen. Soweit der nationale Gesetzgeber hier nicht zur Lückenschließung eingreift, wird der Praktiker gerade im grenzüberschreitenden Bereich auch über andere Planungsstrategien zur Verlustnutzung nachdenken müssen.

     
    Quelle: Ausgabe 08 / 2016 | Seite 225 | ID 44152694

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