· Umsatzsteuerbefreiung
Vertretungsweise übernommener ärztlicher Notfalldienst gegen Entgelt

von StB Dipl.-FinW. (FH) Philipp Peplowski (LL. M.), Köln, www.laufmich.de
Die entgeltliche Übernahme ärztlicher Notfalldienste durch einen Arzt (unter Freistellung des ursprünglich eingeteilten Arztes von sämtlichen Verpflichtungen im Zusammenhang mit diesem Dienst) ist unabhängig davon, wem gegenüber diese sonstige Leistung erbracht wird, als Heilbehandlung i. S. d. § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG umsatzsteuerfrei (BFH 14.5.25, XI R 24/23).
1. Problemstellung
Die Befreiung ärztlicher Heilbehandlungen nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG setzt voraus, dass die Leistung einen therapeutischen Zweck erfüllt. Ob eine Leistung diesem Ziel dient, ist nicht immer offensichtlich ‒ insbesondere dann nicht, wenn die Leistung nicht direkt gegenüber den Patientinnen und Patienten, sondern gegenüber Dritten, etwa Kolleginnen und Kollegen sowie Krankenhäusern, erbracht wird (Subunternehmer-Konstruktionen). Im vorliegenden Fall hatte der BFH zu beurteilen, ob ein Arzt, der vertretungsweise Notfalldienste für niedergelassene Hausarztpraxen übernahm und dafür von diesen ein Stundenhonorar erhielt, damit eine steuerfreie Heilbehandlung erbrachte ‒ oder eine steuerpflichtige sonstige Leistung.
Sachverhalt (BFH 14.5.25, XI R 24/23) |
Ein selbstständiger Allgemeinmediziner war ohne eigenen Praxisbetrieb als Vertreter im ärztlichen Notdienst der KV Westfalen-Lippe (KVWL) tätig. Er übernahm die Verpflichtungen anderer Ärztinnen und Ärzte, die zum Notdienst verpflichtet waren, und rechnete seine erbrachten Leistungen entweder direkt mit der KVWL oder privat mit den Patienten ab. Zusätzlich erhielt er ein Entgelt von den vertretenen Ärzten, basierend auf einem Stundensatz von 20 bis 40 EUR. Der Kläger unterwarf die vorgenannten Leistungen nicht der Umsatzsteuer. Das FA behandelte die von den vertretenen Arztpraxen erhaltenen Entgelte für die Übernahme der Notdienste als umsatzsteuerpflichtig, da es die Voraussetzungen des § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG nicht als erfüllt ansah. Das Einspruchsverfahren und auch das FG-Verfahren verliefen für den Kläger erfolglos. Der BFH hingegen hob die Entscheidung der Vorinstanz auf und bestätigte, dass es sich bei der entgeltlichen Übernahme ärztlicher Notfalldienste um eine sonstige Leistung gegen Entgelt handelt, die nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG befreit ist. |
2. Ärztlicher Notfalldienst eine Heilbehandlung?
Zentraler Aspekt war die Frage, ob die Vertretungstätigkeit eine umsatzsteuerfreie Heilbehandlung i. S. d. § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG darstellte. Der BFH bejahte dies ausdrücklich und verwies auf die vom EuGH vertretene weite Begriffsauslegung der Heilbehandlung.
2.1 Vertretung im Rahmen eines ärztlichen Notdienstes
Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin umfassen nicht nur Diagnosen und Therapien, sondern auch präventive Leistungen und solche, die der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit dienen. Daraus folge aber ausdrücklich nicht zwangsläufig, dass die therapeutische Zielsetzung einer Leistung in einem besonders engen Sinn zu verstehen sei (vgl. EuGH 24.11.22, C-458/21, UR 2023, 476-479 „CIG Pannónia Életbiztosító“, Rz. 25). Entscheidend sei stets der therapeutische Zweck.
Das FG habe die Leistung des Klägers rechtsfehlerhaft als Vertretungsleistung gewürdigt, die nur der Freistellung von einer (lästigen) Verpflichtung diene. Hierbei habe das FG jedoch nicht berücksichtigt und bedacht, dass der Kläger die zum Notfalldienst eingeteilten Ärzte nur deshalb durch die Übernahme des Dienstes freistellen konnte, weil er dann selbst den ärztlichen Notfalldienst ausführte. Die Leistung sei daher nicht auf die Freistellung des vertretenen Arztes beschränkt gewesen, sondern habe notwendig die tatsächliche Durchführung des ärztlichen Notdienstes umfasst. Die vertretungsweise Übernahme der Notfalldienste gewährleistete eine zeitnahe Behandlung von Notfallpatienten im jeweiligen Einsatzgebiet. Die Bereitschaft, jederzeit und unmittelbar privat- und kassenärztliche Leistungen in Notfällen zu Zeiten zu erbringen, zu denen eine haus- oder fachärztliche Versorgung nicht stattfindet, diene an sich einem therapeutischen Zweck, da sich der Kläger während des Bereitschaftsdienstes bereithalte, um gesundheitliche Gefahrensituationen bei Notfallpatienten zu erkennen, gegebenenfalls sofort entsprechende Maßnahmen einzuleiten und damit einen größtmöglichen Erfolg einer (späteren) Behandlung in einer Klinik bzw. bei einem Fach- oder Hausarzt sicherzustellen.
Entscheidend sei, dass der Kläger während der Dienstzeiten verpflichtet sei, jederzeit ärztliche Hilfe im Notfall zu leisten. Diese Bereitschaft allein ‒ unabhängig von der konkreten Inanspruchnahme durch Patienten ‒ erfülle bereits den therapeutischen Zweck, der für die Steuerfreiheit maßgeblich sei. Es komme nicht darauf an, ob eine Behandlung tatsächlich erfolge, sondern ob der Arzt zur Notfallversorgung bereit und befugt sei.
2.2 Person des Leistungsempfängers unerheblich
Ein weiterer zentraler Aspekt der Entscheidung war die Klarstellung, dass die Steuerfreiheit nicht an die Person des Leistungsempfängers gebunden sei. Der Kläger erhielt das Entgelt nicht von Patienten oder der KV, sondern von den Kolleginnen und Kollegen, die er vertreten hatte. Der BFH sah darin keinen Ausschlussgrund für die Steuerfreiheit: Maßgeblich sei allein, dass die Leistung durch einen Angehörigen eines heilberuflichen Berufs erfolge und einen therapeutischen Zweck erfülle. Eine Leistung könne auch dann steuerfrei sein, wenn sie ‒ wie hier ‒ gegenüber einem anderen Arzt bzw. einer anderen Ärztin erbracht werde.
2.3 Einordnung in die BFH-Rechtsprechung
Der BFH konkretisiert seine bisherige Rechtsprechung zur Umsatzsteuerfreiheit ärztlicher Leistungen in Notfallkontexten. Er knüpft an ein früheres Urteil (BFH 2.8.18, V R 37/17, BFHE 263, 63) an, in dem notärztliche Bereitschaftsdienste bei Großveranstaltungen ebenfalls als steuerfreie Heilbehandlungen anerkannt wurden.
Die Entscheidung reiht sich darüber hinaus in die aktuellen Entscheidungen zur Umsatzsteuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG ein. So vertritt der BFH, gestützt auf den EuGH, eine zunehmend großzügigere Auslegung des therapeutischen Ziels. So ist insbesondere die Entscheidung des BFH vom 7.7.22 zur isolierten Einlagerung eingefrorener Eizellen (BFH 7.7.22, V R 10/20 ‒ BFHE 276, 445) zu erwähnen, mit der der BFH das Konzept des „therapeutischen Kontinuums“ nun explizit auch im Rahmen des § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG anwendet und eine großzügigere Auslegung als möglich und geboten ansieht. Auch wenn sich aus der bisherigen Rechtsprechung noch keine allgemeinen und belastbaren Voraussetzungen für das Konzept des sog. „therapeutischen Kontinuums“ ableiten lassen, könnten damit nun auch andere selbstständige Leistungen, die unerlässlicher Bestandteil einer Heilbehandlung sind, in den Genuss dieser Steuerbefreiung kommen (vgl. hierzu auch Wüst, in: Wäger, §. 4. UStG, Rz. 64.1).
3. Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung ist für alle „nachtschwärmenden“ Ärztinnen und Ärzte von großer Bedeutung. Der BFH hat klargestellt, dass nicht entscheidend ist, wer die Leistung empfängt, sondern was der Leistungsinhalt selbst ist. Durch die tätigkeitsbezogene Betrachtungsweise im Urteilsfall wird eine bundesweit möglichst einheitliche umsatzsteuerliche Behandlung ärztlicher Notfalldienste sichergestellt, da regionale Unterschiede in der Organisation der Notdienstvertretung durch die jeweils zuständigen KV dabei unerheblich sind.
Dessen ungeachtet müssen Vertretungsfälle im ärztlichen Bereich weiterhin auch aus dem Blickwinkel der Sozialversicherung kritisch betrachtet werden. Beispielhaft sei dazu auf das Urteil des BSG 19.10.21, B 12 R 1/21 R) verwiesen. Insbesondere bei wiederholten Übernahmen von hausärztlichen Notdiensten gegen Entgelt ist ein Statusfeststellungsverfahren zur Klärung der sozialversicherungsrechtlichen Verhältnisse dringend zu empfehlen. Sollte sozialversicherungsrechtlich eine abhängige Beschäftigung gegeben sein, ist das ein gewichtiges Indiz für die Negierung der umsatzsteuerlichen Unternehmerstellung (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG). Zumindest eine Umsatzsteuerbelastung würde dann entfallen können.
PRAXISTIPP — Man könnte nun versuchen, dieses Urteil auf andere Bereiche der Leistungsbeziehungen im Bereich der Heilbehandlungen anzuwenden. Ein Streitpunkt in Bezug auf die Anwendbarkeit der Umsatzsteuerfreiheit sind in der Praxis z. B. Terminausfallgebühren („No-show“-Leistungen). Grundsätzlich können sie als echter, nicht steuerbarer Schadenersatz eingestuft werden. Sollte es sich aber um einen möglicherweise steuerpflichtigen unechten Schadenersatz handeln, könnte nach dem hiesigen Besprechungsurteil hilfsweise eine Umsatzsteuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG greifen (Leistungsbereitschaft).
Am Rande sei erwähnt, dass der BFH bestätigte, dass Blutalkoholuntersuchungen (z. B. im Rahmen von polizeilichen Verkehrskontrollen) der Umsatzsteuer unterliegen. Hierbei liegt kein therapeutisches Ziel vor, sodass die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG nicht zur Anwendung kommt. Dies hatte richtigerweise die Vorinstanz ebenso beurteilt. |