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  • 29.04.2004 · IWW-Abrufnummer 041122

    Bundesgerichtshof: Urteil vom 15.02.2000 – VI ZR 48/99

    a) Hat sich gerade das Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt werden mußte und tatsächlich aufgeklärt worden ist, so spielt es regelmäßig keine Rolle, ob bei der Aufklärung auch andere Risiken der Erwähnung bedurften. Vielmehr kann aus dem Eingriff keine Haftung hergeleitet werden, wenn der Patient in Kenntnis des verwirklichten Risikos seine Einwilligung erteilt hat.



    b) Das Erfordernis eines Aufklärungsgesprächs gebietet bei einer Routineimpfung nicht in jedem Fall eine mündliche Erläuterung der Risiken. Es kann vielmehr genügen, wenn dem Patienten nach schriftlicher Aufklärung Gelegenheit zu weiteren Informationen durch ein Gespräch mit dem Arzt gegeben wird.


    BGH, Urteil vom 15. Februar 2000 - VI ZR 48/99 - OLG Karlsruhe LG Offenburg


    BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
    VI ZR 48/99

    Verkündet am 15. Februar 2000

    Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

    in dem Rechtsstreit

    Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. Februar 2000 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Dr. v. Gerlach, Dr. Müller, Dr. Dressler und Wellner

    für Recht erkannt:

    Tenor:

    Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des 13. Zivilsenats in Freiburg des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 30. Dezember 1998 teilweise aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Offenburg vom 22. Juli 1997 insgesamt zurückgewiesen.

    Die Klägerin trägt die Kosten beider Rechtsmittelzüge.

    Von Rechts wegen

    Tatbestand:

    Die am 8. Februar 1994 in der 34. Schwangerschaftswoche geborene Klägerin verlangt von der beklagten Kinderärztin Schadensersatz wegen eines Impfschadens.

    Am 17. März 1994 wurde die Klägerin von ihrer Mutter erstmals bei der Beklagten zur Kindervorsorgeuntersuchung U 3 vorgestellt. Weitere Vorstellungen durch die Mutter schlossen sich am 18. März und 5. April 1994 an. Als die Klägerin am 11. Mai 1994 zur Vorsorgeuntersuchung U 4 erneut bei der Beklagten vorgestellt wurde, verabreichte ihr diese mit Zustimmung der Mutter eine Grundimmunisierung gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis und Haemophilus Typ B sowie im Wege der Schluckimpfung mit einem dreifach-lebend Impfstoffpräparat gegen Kinderlähmung (Poliomyelitis). Zuvor war der Mutter der Klägerin von der Sprechstundenhilfe der Beklagten ein Merkblatt der regionalen Kinderärzte zu den Impfungen ausgehändigt worden, von dem sie im Wartezimmer Kenntnis nahm und das sie anschließend wieder zurückgab, ohne es unterzeichnet zu haben. Als Nebenwirkungen der Impfung gegen Kinderlähmung war in dem Merkblatt unter anderem aufgeführt: "Selten treten fieberhafte Reaktionen auf, extrem selten Lähmungen (1 Fall auf 5 Millionen Impfungen)". Beim Eintritt in das Behandlungszimmer war sie dann von der Beklagten befragt worden, ob sie das Merkblatt gelesen habe, was sie bejahte. Nach Untersuchung der Klägerin hatte die Beklagte anschließend erklärt, wenn die Mutter es wolle, könne man jetzt impfen.

    Am 13. Juni 1994 kam die Mutter mit dem Kind wegen eines Hautausschlags erneut zur Beklagten. Bei diesem Anlaß wurde die zweite Impfung gegen Poliomyelitis vorgenommen. Am 18. Juni 1994 wurden bei der Klägerin Fieber und am 25. Juni eine Schonhaltung des linken Beines festgestellt. Die danach vorgenommenen Untersuchungen ergaben, daß die Klägerin an Kinderlähmung erkrankt war. Das Versorgungsamt F. hat einen Impfschadensfall mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80% festgestellt und eine Impfschadensrente bewilligt.

    Die Klägerin hat der Beklagten fehlerhafte Behandlung und unzureichende Aufklärung mit der Folge einer fehlenden wirksamen Einwilligung in die Impfung vorgeworfen; auch habe die notwendige Einwilligung ihres Vaters gefehlt. Sie hat die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 100.000 DM sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für alle Folgeschäden aus den Polioimpfungen begehrt.

    Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat ihr unter Zubilligung eines Schmerzensgeldes von 80.000 DM im wesentlichen stattgegeben. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

    Entscheidungsgründe:

    I.

    Das Berufungsgericht hält - dem Landgericht folgend - einen Behandlungsfehler der Beklagten nicht für nachgewiesen. Es meint jedoch, die Klage sei deshalb überwiegend begründet, weil die Mutter der Klägerin mangels hinreichender Aufklärung durch die Beklagte nicht wirksam in die Impfungen eingewilligt habe. Zwar sei das der Mutter am 11. Mai 1994 überlassene Merkblatt in bezug auf die Polioimpfung inhaltlich als ausreichende Aufklärung anzusehen. Jedoch sei die Aufklärung nicht rechtzeitig erfolgt.

    Hierzu hat das Berufungsgericht ausgeführt, daß die Mutter der Klägerin mit der Frage der Impfung ernsthaft erstmals am 11. Mai 1994 konfrontiert worden sei. Weder sei ihr bei Übergabe des Merkblattes noch danach von der Beklagten deutlich gemacht worden, daß sie nunmehr eine eigenständige Entscheidung darüber treffen müsse, ob sie die Impfung durchführen lassen wolle oder nicht. Das habe sich auch aus dem Merkblatt nicht hinreichend deutlich ergeben. Dieses habe eine Vielzahl von Informationen über vier verschiedene Impfungen enthalten. Es habe die Gefahr bestanden, daß beim ersten Durchlesen die Einzelheiten nicht vollständig erfaßt und am Ende der Lektüre der am Anfang stehende Text schon wieder vergessen gewesen sei oder zumindest nicht mehr klar vor Augen gestanden habe. Zudem sei die Mutter beim Durchlesen des Blattes im Wartezimmer durch den Säugling auf ihrem Arm abgelenkt worden, so daß die Möglichkeit bestehe, daß ihr zur reiflichen Überlegung vor Erteilung der Einwilligung nicht genügend Zeit geblieben sei.

    Eine ordnungsgemäße, rechtzeitige Aufklärung wäre ohne weiteres in der Weise möglich gewesen, daß der Mutter das Merkblatt entweder schon bei der Untersuchung U 3 oder bei einem der weiteren Besuche übergeben und ihr belassen worden wäre, um es Zuhause in Ruhe zu lesen, oder aber bei der Untersuchung U 4 einen gesonderten Termin zu vereinbaren, da die erste Impfung gerade zu diesem Termin keineswegs zwingend gewesen sei.

    II.

    Diese Ausführungen halten im Ergebnis der rechtlichen Prüfung nicht stand. Der Klägerin steht ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte wegen rechtswidriger Verletzung ihrer Gesundheit nicht zu. Die Revision rügt zu Recht, daß die Annahme des Berufungsgerichts, die Mutter der Klägerin habe mangels hinreichender Aufklärung durch die Beklagte nicht wirksam in die Impfung eingewilligt, auf zu strengen Anforderungen beruht.

    1. Zutreffend hat das Berufungsgericht allerdings ausgeführt, an einer wirksamen Einwilligung fehle es nicht schon deshalb, weil der Vater der Klägerin der Impfung nicht zugestimmt habe. Zwar bedarf es in Fällen, in denen wie hier die elterliche Sorge beiden Eltern gemeinsam zusteht (§§ 1626 ff. BGB), zu einem ärztlichen Heileingriff, zu dem auch eine Vorsorgeimpfung gehört, der Einwilligung beider Elternteile. Doch wird man im allgemeinen davon ausgehen können, daß der mit dem Kind beim Arzt erscheinende Elternteil ermächtigt ist, die Einwilligung in die ärztliche Behandlung für den abwesenden Elternteil mit zu erteilen, worauf der Arzt in Grenzen vertrauen darf, solange ihm keine entgegenstehenden Umstände bekannt sind. Dies gilt, wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 28. Juni 1988 (BGHZ 105, 45) ausgeführt hat und woran er festhält, jedenfalls in Routinefällen, zu denen auch die Routineimpfung gehört.

    Bei der im ersten Halbjahr 1994 durchgeführten Schluckimpfung gegen Kinderlähmung mit lebenden abgeschwächten Polioerregern handelte es sich, wie das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei ausgeführt hat, um eine Routineimpfung. Sie war von der Ständigen Impfkommission des Bundesgesundheitsamtes (STIKO) seit langem empfohlen (vgl. BGesundhbl. 1991, 384 ff. und 1994, 85) und wurde auch in Baden-Württemberg von der zuständigen Gesundheitsbehörde gemäß § 14 Abs. 3 BSeuchG insbesondere 1994 öffentlich empfohlen (GABl. BW 1994, 286). Sie wurde seit Einführung des oralen Polioimpfstoffes 1962 millionenfach durchgeführt. Die Frage der Vornahme solcher Impfungen stellte sich jedem Sorgeberechtigten in den ersten Lebensmonaten eines Kindes (vgl. STIKO-Empfehlung 1991 aaO S. 384), und zwar üblicherweise anläßlich der routinemäßigen Vorsorgeuntersuchungen der Säuglinge und Kleinkinder, was allgemein bekannt war. Bei einer derart empfohlenen Impfung, die eine Vielzahl von Eltern an ihren Kindern vornehmen ließen, durfte die Beklagte daher mangels gegenteiliger konkreter Anhaltspunkte darauf vertrauen, daß die Mutter der Klägerin sich mit der Ermächtigung des Vaters für die Impfung entschied, zumal - wie das Berufungsgericht zutreffend bemerkt - die Mutter auch zuvor stets allein mit der Klägerin in der Praxis erschienen war.

    2. Das Berufungsgericht geht ferner mit Recht davon aus, daß die von der Mutter der Klägerin erteilte Einwilligung in die Impfung nur wirksam war, wenn sie zuvor über die damit verbundenen Risiken aufgeklärt worden war. Einer solchen Risikoaufklärung bedarf es auch bei einer freiwilligen Impfung, und zwar selbst dann, wenn diese öffentlich empfohlen ist (BGHZ 126, 386; BGH, Urteil vom 15. Februar 1990 - III ZR 100/88 - VersR 1990, 737 zu 3.; vgl. auch BGH, Urteil vom 26. Januar 1959 - III ZR 213/57 - VersR 1959, 355).

    Die Notwendigkeit zur Aufklärung über die Gefahr, daß der Impfling aufgrund der Impfung mit lebenden Polioviren an einer spinalen Kinderlähmung erkrankt, entfiel entgegen der Auffassung der Revision nicht deshalb, weil es sich dabei um eine äußerst seltene Folge der Impfung handelt. Das Berufungsgericht hat unter Hinweis auf C. Braemer (in: Arznei-Telegramm 6/1997, S. 57 m.w.N.) eine Schadenshäufigkeit von 1: 4,4 Millionen zugrunde gelegt. In dem von der Beklagten der Mutter der Klägerin ausgehändigten Merkblatt ist das Risiko mit 1: 5 Millionen angegeben. Soweit die Revisionserwiderung demgegenüber geltend macht, diese Werte seien unzutreffend, bei Erstimpfungen steige das Risiko nämlich auf 1: 750.000 Impfdosen, bedurfte es einer näheren Klärung der Schadenshäufigkeit nicht, da statistischen Risikowerten nur ein vergleichsweise geringer Wert zukommt (BGHZ 126, 386, 389; Senatsurteil vom 22. April 1980 - VI ZR 37/79 - VersR 1981, 456, 457). Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht ist nicht ein bestimmter Grad der Risikodichte, insbesondere nicht eine bestimmte Statistik. Maßgebend ist vielmehr, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet (BGHZ 126, 386, 389; Senatsurteil vom 21. November 1995 - VI ZR 341/94 - VersR 1996, 330, 331). Der Senat hält daher daran fest, daß grundsätzlich auch über derartige äußerst seltene Risiken aufzuklären ist. Das gilt entgegen der Auffassung der Revision und entsprechender Äußerungen im Schrifttum (Deutsch VersR 1998, 1053, 1057) auch für öffentlich empfohlene Impfungen, bei denen die Grundimmunisierung der Gesamtbevölkerung zur Verhinderung einer epidemischen Verbreitung der Krankheit im öffentlichen Interesse liegt. In Fällen öffentlicher Impfempfehlung hat zwar durch die Gesundheitsbehörden eine Abwägung zwischen den Risiken der Impfung für den einzelnen und seine Umgebung auf der einen und den der Allgemeinheit und dem einzelnen drohenden Gefahren im Falle der Nichtimpfung auf der anderen Seite bereits stattgefunden. Das ändert aber nichts daran, daß die Impfung gleichwohl freiwillig ist und sich der einzelne Impfling daher auch dagegen entscheiden kann. Dieser muß sich daher nicht nur über die Freiwilligkeit der Impfung im Klaren sein (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 1959 aaO), was hier in bezug auf die Mutter der Klägerin nicht in Zweifel gezogen wird. Er muß auch eine Entscheidung darüber treffen, ob er die mit der Impfung verbundenen Gefahren auf sich nehmen soll oder nicht. Das setzt die Kenntnis dieser Gefahren, auch wenn sie sich nur äußerst selten verwirklichen, voraus; diese muß ihm daher durch ärztliche Aufklärung vermittelt werden.

    3. Der Senat tritt dem Berufungsgericht auch darin bei, daß die schriftlichen Hinweise zur Impfung gegen Kinderlähmung in dem Merkblatt, das der Mutter der Klägerin ausgehändigt wurde, inhaltlich nicht zu beanstanden sind.

    a) Das Merkblatt enthält in bezug auf die Poliomyelitis folgende Belehrung:

    Kinderlähmung ist eine Viruserkrankung, die zu bleibenden Lähmungen und sogar zum Tode führen kann. Eine ursächliche Behandlung gibt es nicht. Vor Einführung der Impfung gab es jährlich tausende von Erkrankungen und hunderte von Todesfällen. Die Impfung wird als Schluckimpfung mit abgeschwächten, lebenden Viren in der Regel dreimal in den ersten beiden Lebensjahren durchgeführt. Eine Auffrischungsimpfung sollte nach 10 Jahren erfolgen.

    Nebenwirkungen: Die Impfung wird normalerweise komplikationslos vertragen. Öfters werden als normale Reaktion breiige Stühle beobachtet, selten treten fieberhafte Reaktionen auf, extrem selten Lähmungen (1 Fall auf 5 Millionen Impfungen).

    b) Der darin enthaltene Hinweis auf die Gefahr des Auftretens von Lähmungen war ausreichend.

    aa) Er umfaßte zunächst das Risiko einer durch die Verabreichung von Lebendviren verursachten Kinderlähmung (sog. Impf-Poliomyelitis). Zu Unrecht bemängelt die Revisionserwiderung den unterlassenen Hinweis darauf, daß Lähmungen, insbesondere eine schlaffe Lähmung der Beine auch durch das sogenannte Guillain-Barré-Syndrom auftreten könnten, bei dem es sich ebenfalls um eine gefürchtete Folge der Impfung mit lebenden Polioviren handele. Nach der Rechtsprechung des Senats braucht der Patient nur "im großen und ganzen" über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt zu werden. Nicht erforderlich ist die exakte medizinische Beschreibung der in Betracht kommenden Risiken (BGHZ 90, 103, 106 sowie Senatsurteile vom 12. März 1991 - VI ZR 232/90 - VersR 1991, 777; vom 26. November 1991 - VI ZR 389/90 - VersR 1992, 238, 240). Der Hinweis auf Lähmungen umfaßte daher auch solche aufgrund des Guillain-Barré-Syndroms, so daß eine gesonderte Aufklärung hierüber nicht geboten war.

    Soweit die Revisionserwiderung zusätzliche Risiken anspricht (Meningo-Encephalitis, Krampfanfälle etc., vgl. OLG Stuttgart MedR 2000, 35), über die nicht aufgeklärt worden sei, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Hat sich nämlich wie im Streitfall gerade dasjenige Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt werden mußte und tatsächlich auch aufgeklärt worden ist, so spielt es regelmäßig keine Rolle, ob bei der Aufklärung auch andere Risiken der Erwähnung bedurften. Vielmehr hat der Patient in Kenntnis des verwirklichten Risikos seine Einwilligung gegeben, so daß von daher aus dem Eingriff keine Haftung hergeleitet werden kann. Überlegungen dazu, ob er die Zustimmung bei Hinweis auf ein anderes Risiko möglicherweise versagt hätte, sind notwendigerweise spekulativ und können deshalb nicht Grundlage für einen Schadensersatzanspruch sein.

    bb) Der Senat vermag der Revisionserwiderung auch nicht darin zu folgen, daß die Belehrung in dem Merkblatt das Risiko der Erkrankung an Kinderlähmung, vor dem die Impfung schützen soll, in unzutreffender Weise dramatisiert habe, weil der Eindruck erweckt werde, die Impfung mit lebenden Viren sei erforderlich, um eine Erkrankung an Poliomyelitis, unter Umständen mit tödlicher Folge, zu vermeiden. Es ist zwar richtig, daß in dem Merkblatt nur von der Vielzahl von Erkrankungen und Todesfällen vor Einführung der Schluckimpfung die Rede ist, von dem inzwischen eingetretenen Rückgang der Erkrankungsgefahr infolge der jahrzehntelangen Impfpraxis dagegen nichts erwähnt wird. Doch ist der Mutter der Klägerin deswegen keine unrichtige Vorstellung von der Schaden-Nutzen-Relation vermittelt worden.

    Der Grund für die Einführung der Schluckimpfung mit Lebendviren im Jahre 1962 bestand darin, daß die übertragbare Kinderlähmung in zunehmendem Maße die Gesundheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik bedrohte und ein ausreichender Schutz dagegen durch die bis dahin übliche Impfung mit einem injizierten Impfstoff, der nur nicht vermehrungsfähige, inaktivierte Polioviren (IPV) enthielt, nicht erreicht werden konnte (Begründung des Regierungsentwurfs zur Änderung des BSeuchG 1963, BT-Drucks. IV/3097 S. 3). Das änderte sich, als ein Impfstoff zur Verfügung stand, der aus lebenden, abgeschwächten Polioerregern bestand und oral zu sich genommen werden konnte (orale Polio-Vakzine [OPV]).

    Die in der Folgezeit durchgeführten Schluckimpfungen führten nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in Deutschland dazu, daß die autochthone Poliomyelitis, d.h. die durch Wildviren verursachte Kinderlähmung erheblich zurückging. Seit 1986 wird Deutschland als poliofrei angesehen (Koch/Thilo, Dt.Ärztebl. 1998, B-324). Daraus erwuchs die Erkenntnis, daß das Risiko, an einer durch Impfung mit Lebendviren ausgelösten Kinderlähmung zu erkranken, höher war als das einer Infektion durch Wildviren, die wenigen in Deutschland festgestellten Polioerkrankungen also ausschließlich durch Impfung mit Lebendviren herbeigeführt worden waren. Die STIKO änderte deshalb 1998 ihre Impfempfehlung: Sie empfahl - wegen des Risikos einer "vakzineassoziierten paralytischen" Poliomyelitis- nicht mehr wie bisher den Polio-Lebendimpfstoff (OPV), sondern nur einen "zu injizierenden Impfstoff, inaktivierte Polio-Vakzine (IPV), mit gleicher Wirksamkeit" (BGesundhbl. 1998, 312, 319).

    Diese Gegebenheiten lassen jedoch entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung nicht den Schluß zu, der Mutter der Klägerin sei über den Nutzen und die Gefahrträchtigkeit der Schluckimpfung für sich selbst und für die Allgemeinheit ein unzutreffender Eindruck vermittelt worden. Aus dem Hinweis auf die Häufigkeit von Erkrankungen vor Einführung der Impfung folgt für den Leser keineswegs, daß die Gefahr in unvermindertem Ausmaß fortbesteht, seitdem die Bevölkerung überwiegend gegen Poliomyelitis geimpft wird. Das Gegenteil liegt vielmehr nahe.

    Überdies ist zu beachten, daß die Empfehlungen der STIKO nach den Feststellungen des sachverständig beratenen Berufungsgerichts medizinischer Standard sind. Da die STIKO daher auch im hier maßgeblichen Zeitraum Anfang 1994 die Impfung ab dem dritten Lebensmonat unter Anwendung des oralen Polio-Impfstoffs empfahl (BGesundhbl. 1994, 85) und die zuständigen Gesundheitsbehörden der Länder dem folgend diese Impfmethode gemäß § 14 Abs. 3 BSeuchG öffentlich empfahlen, war dies für den jeweiligen Kinderarzt maßgebend. Für ihn bedeuteten derartige Empfehlungen, daß das Verhältnis zwischen Nutzen und Schadensrisiko für den Impfling von diesen Gremien bereits abgewogen war, mögen dabei auch epidemiologische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, die freilich auch für den einzelnen Impfling nicht ohne Bedeutung sind. Dementsprechend durfte auch die Beklagte mangels gegenteiliger Erkenntnis von einem überwiegenden Nutzen der Schluckimpfung im Vergleich zum Risiko einer Erkrankung ausgehen.

    c) Die Aufklärung in dem Merkblatt war auch nicht deshalb unzureichend, weil darin nicht auf die Möglichkeit einer Impfung mit einem anderen Impfstoff als mit lebenden Polioerregern, bei dem die Gefahr einer Impf-Poliomyelitis nicht besteht, hingewiesen wurde.

    aa) Es bestand zwar, wie bereits ausgeführt, seit langem die Möglichkeit, die Impfung gegen Kinderlähmung auch mit einem aus abgetöteten Polioerregern bestehenden Impfstoff (IPV) vorzunehmen, der medizinisch anerkannt und nach der STIKO-Empfehlung 1998 von "gleicher Wirksamkeit" war. Doch hielt die STIKO, wie aus der Impfempfehlung 1994 hervorgeht, den inaktivierten anstelle von oralem Polioimpfstoff nur bei Personen mit Immundefizienz (angeborener oder infolge immunsuppressiver Therapie oder HIV-Infektion u.a.) für indiziert (aaO S. 85). In den STIKO-Empfehlungen 1991 war die IPV-Impfung dagegen überhaupt noch nicht als in Betracht kommend erwähnt worden; sie tauchte nur bei den sich anschließenden Hinweisen des Bundesgesundheitsamtes auf (BGesundhbl. 1991, 384, 387 f.).

    Im Normalfall entsprach somit im Jahr 1994 die Impfung mit OPV dem medizinischen Standard. Die Beklagte brauchte daher die Mutter der Klägerin auch nicht auf die Möglichkeit einer Impfung mit IPV hinzuweisen.

    bb) Allerdings muß der Arzt den Patienten nach der Rechtsprechung des Senats dann auf die Möglichkeit einer anderen Behandlung hinweisen, wenn ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft gewichtige Bedenken gegen eine zum Standard gehörende Behandlung und die damit verbundenen Gefahren äußern (Urteil vom 27. September 1977 - VI ZR 162/76 - VersR 1978, 41, 42; vom 21. November 1995 - VI ZR 329/94 - VersR 1996, 233). Diese Grundsätze hätten entsprechend auch dann zu gelten, wenn wegen veränderter Impfsituation Zweifel an der Notwendigkeit der Schluckimpfung mit lebenden Viren aufgekommen wären und die Auffassung vertreten worden wäre, daß der Impfzweck unter Vermeidung der mit der bisherigen Impfmethode verbundenen Gefahren auch durch eine Impfung mit abgetöteten Polioerregern erreicht werden könnte. Eine dahingehende Aufklärung konnte von der Beklagten hier jedoch nicht erwartet werden, denn das Berufungsgericht hat unangegriffen festgestellt, daß die Diskussion um die Zweckmäßigkeit von Polioimpfungen mit Lebendviren, die 1998 schließlich zu einer Änderung der Impfempfehlung von seiten der STIKO führte, erst nach 1994 eingesetzt habe.

    d) Mit Recht macht die Revisionserwiderung allerdings geltend, daß die Beklagten nach dem bereits mehrfach erwähnten Urteil des Bundesgerichtshofs in BGHZ 126, 386 auf die Gefahr der Ansteckung von Kontaktpersonen der mit Lebendviren geimpften Klägerin hätte hinweisen müssen, was hier nicht geschehen ist. Dieses Versäumnis hat jedoch nicht zur Folge, daß die von der Mutter der Klägerin erklärte Einwilligung in die Impfung unwirksam war. Die Belehrung über die für Kontaktpersonen bestehende Ansteckungsgefahr ist Bestandteil der dem Patienten geschuldeten therapeutischen Aufklärung. Ihre Unterlassung stellt daher einen Behandlungsfehler dar, der Schadensersatzansprüche von seiten geschädigter Dritter auslösen kann (BGHZ 126, 386, 388). Um solche Ansprüche geht es im vorliegenden Fall jedoch nicht.

    4. Durchgreifenden Bedenken begegnet hingegen die Auffassung des Berufungsgerichts, die Aufklärung könne im Hinblick auf die Art und Weise, wie sie hier vorgenommen worden sei, nicht als rechtzeitig angesehen werden.

    a) Das Berufungsgericht stellt, was die Revision nicht angreift, fest, daß die Mutter der Klägerin erstmals bei der Vorsorgeuntersuchung U 4 am 11. Mai 1994 mit der Frage der Impfung konfrontiert worden sei. Die Aufklärung unmittelbar vor der Impfung durch Aushändigung des Merkblatts, das die Mutter - wie das Berufungsgericht ebenfalls unangegriffen feststellt - im Wartezimmer las, hält das Berufungsgericht nicht für rechtzeitig, zumal die Mutter durch den Säugling auf dem Arm abgelenkt gewesen sei und daher die Möglichkeit bestehe, daß ihr zu einer reiflichen Überlegung nicht genügend Zeit geblieben sei. Nach Auffassung des Berufungsgerichts wäre es für eine ordnungsgemäße, rechtzeitige Aufklärung geboten gewesen, der Mutter das Merkblatt schon bei der Untersuchung U 3 im März 1994 oder bei einem der weiteren Besuche zu übergeben und es ihr zu belassen, um es zu Hause in Ruhe zu lesen, oder aber bei der Untersuchung U 4 einen gesonderten Termin für die erste Impfung zu vereinbaren.

    b) Damit überspannt das Berufungsgericht, wie die Revision zu Recht rügt, die Anforderungen an eine rechtzeitige Aufklärung bei einer Routineimpfung.

    Nach gefestigter Rechtsprechung reicht bei ambulanten Eingriffen grundsätzlich eine Aufklärung am Tage des Eingriffs aus (Senatsurteile vom 14. Juni 1994 - VI ZR 178/93 - VersR 1994, 1235, 1236; vom 4. April 1995 - VI ZR 95/94 - VersR 1995, 1055, 1057; vom 14. November 1995 - VI ZR 359/94 - VersR 1996, 195, 197). Das gilt nur dann nicht, wenn die Aufklärung erst so unmittelbar vor dem Eingriff erfolgt, daß der Patient unter dem Eindruck steht, sich nicht mehr aus einem bereits in Gang gesetzten Geschehensablauf lösen zu können (z.B. Aufklärung unmittelbar vor der Tür zum Operationssaal).

    Die hier vorgenommene Mehrfachimpfung erforderte keine Aufklärung zu einem früheren, von der Impfung abgesonderten Zeitpunkt. Insbesondere kann nicht, wie es das Berufungsgericht für geboten hält, verlangt werden, das Merkblatt der Mutter mit nach Hause zu geben, damit sie es dort in Ruhe lesen und bedenken konnte, und die Impfung alsdann in einem gesonderten Termin durchzuführen. Dadurch werden an den Arzt überzogene Anforderungen gestellt.

    Die Schluckimpfung stellte, auch wenn sie nicht völlig risikolos war, die Eltern nicht vor schwierige Entscheidungen, die erst einer gründlichen Abwägung und reiflichen Überlegung bedurft hätten. Es handelte sich, wie bemerkt, um eine Routineimpfung, bei der den Eltern der Entscheidungskonflikt aufgrund der von den Gesundheitsbehörden vorgenommenen Abwägung des Für und Wider und der von ihnen ausgesprochenen Impfempfehlung weitgehend abgenommen war. Die Notwendigkeit der Impfung war in der Bevölkerung seit langem allgemein anerkannt und wurde von den Eltern bei ihren Kindern zur Vermeidung der gefürchteten Kinderlähmung allseits veranlaßt. Bei dieser Sachlage konnte die Beklagte davon ausgehen, daß auch die Mutter der Klägerin mit der Impfung vertraut und über die allseits akzeptierte Notwendigkeit im Bilde war. Sollte der Sorgeberechtigte in einem solchen Fall ausnahmsweise eine Bedenkzeit wünschen, so kann von ihm erwartet werden, daß er dies gegenüber dem Arzt zum Ausdruck bringt und eine sofortige Impfung ablehnt.

    c) Die der Mutter der Klägerin zuteil gewordene Aufklärung war auch nicht deshalb unzureichend, weil die Beklagte sie nicht in einem persönlichen Gespräch über die Impfung und deren Risiko aufgeklärt hat.

    Nach der Rechtsprechung des Senats bedarf es allerdings zum Zwecke der Aufklärung des "vertrauensvollen Gesprächs zwischen Arzt und Patienten" (Urteil vom 8. Januar 1985 - VI ZR 15/83 - VersR 1985, 361, 362). Das schließt jedoch keineswegs die Verwendung von Merkblättern aus, in denen die notwendigen Informationen zu dem Eingriff einschließlich seiner Risiken schriftlich festgehalten sind. Derartige schriftliche Hinweise sind heute weitgehend üblich und haben den Vorteil einer präzisen und umfassenden Beschreibung des Aufklärungsgegenstandes sowie der für den Arzt wesentlichen Beweisbarkeit. Sie sind insbesondere bei Routinebehandlungen, also auch bei öffentlich empfohlenen Schutzimpfungen am Platze.

    Freilich vermögen solche Merkblätter nicht das erforderliche Arztgespräch zu ersetzen (Senatsurteil vom 8. Januar 1985 aaO), in dem sich der Arzt davon überzeugen muß, ob der Patient die schriftlichen Hinweise gelesen und verstanden hat, und das ihm die Möglichkeit gibt, auf die individuellen Belange des Patienten einzugehen und eventuelle Fragen zu beantworten.

    Doch gebietet dieses Erfordernis eines Aufklärungsgesprächs, an dem grundsätzlich festzuhalten ist, nicht in jedem Fall eine mündliche Erläuterung der Risiken. Unter Umständen, wie sie beim vorliegenden Sachverhalt im Hinblick auf den Routinecharakter der öffentlich empfohlenen Impfung gegeben sind, kann der Arzt ausnahmsweise davon ausgehen, daß der Patient auf eine zusätzliche gesprächsweise Risikodarstellung keinen Wert legt. Bei derartigen Routinemaßnahmen kann es genügen, wenn dem Patienten nach schriftlicher Aufklärung Gelegenheit zu weiteren Informationen durch ein Gespräch mit dem Arzt gegeben wird. Das entspricht auch den Empfehlungen der STIKO von 1998 zur Aufklärungspflicht vor Schutzimpfungen (BGesundhbl. 1998, 312). Ob die Impfung in öffentlichen Impfterminen oder wie hier als Einzelimpfung vorgenommen wird, ist dabei nicht von maßgeblicher Bedeutung.

    Gelegenheit zu einem Gespräch ist der Mutter der Klägerin im vorliegenden Fall gegeben worden. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts fragte die Beklagte sie beim Eintritt in das Behandlungszimmer, ob sie das Merkblatt gelesen habe, was sie bejahte. Im Anschluß an die Untersuchung des Säuglings erklärte die Beklagte, man könne jetzt impfen, wenn die Mutter es wolle. Damit war der Klägerin in ausreichender Weise Gelegenheit gegeben, weitere Fragen zu der bevorstehenden Impfung zu stellen, wenn sie dies gewollt hätte. Bei einer Routineimpfung wie hier durfte die Beklagte bei dem Hinweis, man könne jetzt die Impfung vornehmen, erwarten, daß die Mutter einen etwaigen Wunsch nach weiterer Aufklärung zu erkennen gibt. Umgekehrt durfte sie aus dem Schweigen entnehmen, daß ein derartiges Bedürfnis nicht bestand. Ebenso konnte sie erwarten, daß die Mutter spätestens bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen würde, daß sie bei der Lektüre des Merkblatts durch den Säugling auf ihrem Arm, wie das Berufungsgericht verfahrensfehlerfrei feststellt, abgelenkt war.

    War danach die Art und Weise der Aufklärung bei der ersten Impfung am 11. Mai 1994 unter den hier gegebenen Umständen nicht zu beanstanden, kommt es auf die Rüge der Revision, jedenfalls habe die Mutter bis zur zweiten Impfung am 13. Juni 1994, die für den Impfschaden ursächlich war, ausreichend Zeit für eine freie Entscheidung gehabt, nicht mehr an. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung bedurfte es vor der zweiten Impfung auch keiner erneuten Aufklärung darüber, daß der von der STIKO empfohlene Abstand zwischen den beiden Impfungen nicht eingehalten war, denn das sachverständig beratene Berufungsgericht hat - dem landgerichtlichen Urteil folgend - verfahrensfehlerfrei festgestellt, daß diese Abweichung unbedeutend war.

    III.

    Nach alledem ist das angefochtene Urteil auf die Revision der Beklagten aufzuheben und - da weitere Feststellungen nicht mehr in Betracht kommen - das klagabweisende Urteil des Landgerichts wiederherzustellen.

    RechtsgebietBGBVorschriften§ 823 BGB