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  • 01.09.2025 · IWW-Abrufnummer 249953

    Europäischer Gerichtshof: Entscheidung vom 10.07.2025 – C-258/24


    Dieses Quellenmaterial (z. B. Original-Urteil) wurde bereits bei dem Gericht bzw. der Behörde angefordert, es liegt uns aber noch nicht vor.

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    Europäischer Gerichtshof, Entscheidung vom 10.07.2025, Az.: C-258/24

    SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

    LAILA MEDINA

    vom 10. Juli 2025(1)

    Rechtssache C-258/24

    Katholische Schwangerschaftsberatung

    gegen

    JB

    (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts [Deutschland])

    „ Vorlage zur Vorabentscheidung ‒ Sozialpolitik ‒ Richtlinie 2000/78/EG ‒ Gleichbehandlung ‒ Ungleichbehandlung wegen der Religion ‒ Art. 4 Abs. 2 ‒ Berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht ‒ Religion, die eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt ‒ Kündigung einer Arbeitnehmerin wegen Austritts aus der katholischen Kirche ‒ Art. 17 AEUV ‒ Art. 10 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union “


    I. Einführung

    1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf(2). Es wurde vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Katholischen Schwangerschaftsberatung, einem Verein der katholischen Kirche in Deutschland, und JB, einer ehemaligen Angestellten dieses Vereins, vorgelegt. JB wurde aufgrund ihrer Entscheidung, aus der katholischen Kirche auszutreten, gekündigt. Ihren Angaben zufolge traf sie diese Entscheidung, weil sie nicht bereit war, die Sonderabgabe (Kirchgeld) zu zahlen, die die Kirche von Personen erhebt, die mit einem gut verdienenden Ehepartner in einer glaubensverschiedenen Ehe leben.

    2.        Die vorliegende Rechtssache schließt unmittelbar an die Urteile in den Rechtssachen Egenberger(3) und IR(4) an, in denen der Gerichtshof einschlägige Leitlinien dafür aufgestellt hat, wann die Religion einer Person eine berufliche Anforderung darstellen kann, wenn berufliche Tätigkeiten in Kirchen und öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, ausgeübt werden(5). Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof daher die Gelegenheit, die Voraussetzungen näher zu erläutern, die diese Kirchen und religiösen Organisationen erfüllen müssen, um sich mit Erfolg auf die in Art. 4 der Richtlinie 2000/78 aufgeführten Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung, insbesondere auf die in Abs. 2 dieses Artikels genannten, berufen zu können. Insoweit sind auch zwei einschlägige Bestimmungen des Primärrechts der Union zu berücksichtigen, nämlich zum einen Art. 17 AEUV, wonach die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und nicht beeinträchtigt, und zum anderen Art. 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(6), in dem ausdrücklich die Freiheit des Einzelnen verankert ist, seine Religion zu wechseln.

    II. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

    3.        Die Katholische Schwangerschaftsberatung, die Revisionsklägerin des Ausgangsverfahrens(7), ist ein Frauen- und Fachverband in der katholischen Kirche in Deutschland, der sich der Hilfe für Kinder, Jugendliche, Frauen und ihre Familien in besonderen Lebenslagen widmet. Zu seinen Aufgaben gehört die Beratung von schwangeren Frauen, insbesondere in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch.

    4.        In den Arbeitsverträgen, die die Revisionsklägerin mit ihren Arbeitnehmern abschließt, wird ausdrücklich auf die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22. September 1993 Bezug genommen(8). Diese Ordnung enthält die Regeln, die die katholische Kirche auf ihre Arbeitsverhältnisse in Deutschland anwendet, und legt insbesondere die Loyalitäts- und Verhaltenspflichten der Arbeitnehmer fest.

    5.        Nach der Grundordnung können schwerwiegende Verstöße gegen die Loyalitätsobliegenheiten zur Kündigung eines Arbeitnehmers führen(9). Ein Verstoß gegen die Loyalitätspflicht gilt als schwerwiegend, wenn ein Arbeitnehmer öffentlich gegen tragende Prinzipien der katholischen Kirche eintritt, indem er beispielsweise Abtreibung oder Fremdenhass propagiert. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der betreffende Arbeitnehmer katholisch ist oder nicht(10). Bei katholischen Arbeitnehmern stellt zudem der Austritt aus der katholischen Kirche einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Loyalitätsobliegenheiten dar(11).

    6.        JB ist Mutter von fünf Kindern und war bei der Revisionsklägerin seit dem Jahr 2006 beschäftigt, u. a. als projektbezogene Beraterin in der Schwangerschaftsberatung. Im Oktober 2013, als sie sich in Elternzeit befand, erklärte JB vor der zuständigen kommunalen Behörde den Austritt aus der katholischen Kirche. In Anbetracht der finanziellen Belastung ihrer Familie ging es ihr in erster Linie darum, von der Zahlung der Sonderabgabe befreit zu werden, der sie als Katholikin, die mit einem gut verdienenden Ehepartner in einer glaubensverschiedenen Ehe verheiratet ist, unterworfen war.

    7.        Nachdem die Revisionsklägerin Kenntnis von dieser Entscheidung erhalten hatte, versuchte sie zunächst, JB nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit nach Maßgabe der in der Grundordnung vorgesehenen Regelungen zum Wiedereintritt in die katholische Kirche zu bewegen(12). Da sich JB weigerte, kündigte die Revisionsklägerin das Arbeitsverhältnis im Juni 2019, da sie der Ansicht war, dass diese Entscheidung einen schweren Verstoß gegen die in der Grundordnung niedergelegten Loyalitätsobliegenheiten darstelle. Zum Zeitpunkt der Kündigung beschäftigte die Revisionsklägerin in der Schwangerschaftsberatung sechs Personen, von denen zwei evangelisch waren.

    8.        JB wandte sich vor den deutschen Arbeitsgerichten gegen die von der Revisionsklägerin ausgesprochene Kündigung: Ihrer Kündigungsschutzklage wurde stattgegeben und die Revisionsklägerin zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt. Die Revisionsklägerin legte darauf beim Bundesarbeitsgericht, dem vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache, Revision gegen die Entscheidungen der Vorinstanzen ein.

    9.        Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt die Kündigung von JB eine Ungleichbehandlung dar. Grundsätzlich liege hierin eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit Art. 1 der Richtlinie 2000/78. Das Gericht hat indessen Zweifel, ob die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 bzw. in Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar sind.

    10.      Was erstens Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 betrifft, der sich im Kern auf wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderungen aufgrund der Religion einer Person bezieht, so stellt das vorlegende Gericht nicht in Frage, dass es sich bei der Revisionsklägerin um eine religiöse Organisation handelt. Fraglich sei aber, ob der Verbleib in einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder der Wiedereintritt in diese Gemeinschaft nach einem Austritt eine berufliche Anforderung im Sinne dieser Vorschrift darstellen könne. Für das Ausgangsverfahren weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Revisionsklägerin die Ausübung der in Rede stehenden Berufstätigkeit nicht von der Mitgliedschaft in der katholischen Kirche abhängig gemacht habe. Sie habe nicht einmal verlangt, dass ihre Arbeitnehmer überhaupt einer Religionsgemeinschaft angehörten. Allerdings gehöre der Austritt aus der katholischen Kirche nach kanonischem Recht zu den schwersten Vergehen gegen den Glauben und die Einheit der Kirche. In Anbetracht der in Art. 17 AEUV anerkannten Autonomie der Kirchen könne das vorlegende Gericht daher nicht ausschließen, dass ein Arbeitnehmer durch seinen Austritt aus der katholischen Kirche nicht mehr für eine Beschäftigung innerhalb dieser Kirche geeignet sei.

    11.      Was zweitens Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 betrifft, der sich auf das Recht der Kirchen bezieht, von ihren Mitarbeitern zu verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten, so hebt das vorlegende Gericht hervor, dass der Wortlaut dieses Unterabsatzes ausdrücklich verlange, dass die in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien erfüllt würden. Das bedeute, dass jede Ausnahme vom Verbot der unmittelbaren Diskriminierung nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 davon abhänge, dass die in Unterabs. 1 dieses Artikels genannten Kriterien, insbesondere im Licht der Urteile Egenberger und IR, zu prüfen seien. Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 impliziert, dass die Verpflichtung zu loyalem und aufrichtigem Verhalten auf das Ethos der Kirche abstellt, der eine religiöse Organisation angehört, oder aber auf die Organisation selbst als Arbeitgeber. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts mag ein Arbeitnehmer beispielsweise gegenüber der katholischen Kirche illoyal gehandelt haben, indem er aus dieser Kirche austrat. Das bedeute jedoch nicht zwangsläufig, dass er gegenüber seinem Arbeitgeber, dessen Ethos der Arbeitnehmer bei der Erfüllung seiner Aufgaben beachten müsse, illoyal gehandelt habe.

    12.      Drittens weist das vorlegende Gericht in Bezug auf Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, der für wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen gilt, sofern ihr Zweck rechtmäßig und die betreffende Anforderung angemessen ist, darauf hin, dass diese Bestimmung nicht verlange, diese Kriterien im Hinblick auf das Ethos des Arbeitgebers zu prüfen, sondern dahin gehend, inwieweit diese durch die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit und die Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben seien. Unter diesem Gesichtspunkt erscheine es nicht objektiv notwendig, Mitglied der katholischen Kirche zu bleiben, um in der Schwangerschaftsberatung zu arbeiten. Gleichwohl sei nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass das Ethos einer auf religiösen Grundsätzen beruhenden Organisation als eine objektive Anforderung im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden könne. Auch in diesem Zusammenhang sollte wohl die von Art. 17 AEUV geschützte Autonomie der Kirchen zu berücksichtigen sein.

    13.      Vor diesem Hintergrund hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.      Ist es mit Unionsrecht, insbesondere der Richtlinie 2000/78 im Licht von Art. 10 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 der Charta, vereinbar,

    wenn eine nationale Regelung vorsieht, dass eine private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht,

    von den für sie arbeitenden Personen verlangen kann, während des Arbeitsverhältnisses nicht aus einer bestimmten Kirche auszutreten,

    oder den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses davon abhängig machen darf, dass eine für sie arbeitende Person, die während des Arbeitsverhältnisses aus einer bestimmten Kirche ausgetreten ist, dieser wieder beitritt,

    wenn sie von den für sie arbeitenden Personen im Übrigen nicht verlangt, dieser Kirche anzugehören,

    und die für sie arbeitende Person sich nicht öffentlich wahrnehmbar kirchenfeindlich betätigt?

    2.      Sofern die erste Frage bejaht wird: Welche gegebenenfalls weiteren Anforderungen gelten gemäß der Richtlinie 2000/78 im Licht von Art. 10 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 der Charta an die Rechtfertigung einer solchen Ungleichbehandlung wegen der Religion?

    14.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 12. April 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Die griechische Regierung, die Europäische Kommission und die Parteien des Ausgangsverfahrens haben schriftliche Erklärungen eingereicht. An der Sitzung vom 17. März 2025 vor der Großen Kammer des Gerichtshofs haben alle am Verfahren Beteiligten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, teilgenommen.

    III. Würdigung

    15.      Mit seinen beiden Fragen ersucht das vorlegende Gericht um Klärung bezüglich der Auslegung der Richtlinie 2000/78 im Licht von Art. 10 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 der Charta.

    16.      Auch wenn sich keine dieser Fragen auf eine konkrete Bestimmung dieser Richtlinie bezieht, geht aus den Erwägungen in der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, ob Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 oder hilfsweise ihr Art. 4 Abs. 1 dahin auszulegen ist, dass die Kündigung eines Arbeitnehmers durch eine religiöse Organisation wegen dessen Entscheidung, aus der Kirche, der diese Organisation angehört, auszutreten, eine Diskriminierung darstellt. Das vorlegende Gericht stellt diese Frage insbesondere im Hinblick auf eine berufliche Tätigkeit, deren Ausübung nicht von der Mitgliedschaft in der betreffenden Kirche abhängig gemacht wurde, und in Bezug auf einen Arbeitnehmer, der nicht öffentlich wahrnehmbar in einer Weise handelt, die dem Ethos dieser Kirche zuwiderläuft. Für den Fall, dass festgestellt werden sollte, dass in einem solchen Fall keine Diskriminierung vorliegt, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit seiner zweiten Frage um Klarstellung, welche Anforderungen gegebenenfalls zu berücksichtigen sind, um eine solche Ungleichbehandlung wegen der Religion zu rechtfertigen.

    17.      In den vorliegenden Schlussanträgen prüfe ich in der Reihenfolge der vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel in Bezug auf die erste Frage, ob die in den beiden Unterabsätzen von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 vorgesehenen Ausnahmeregelungen auf einen Sachverhalt wie den, der der Vorlageentscheidung zugrunde liegt, anwendbar sind. Sollte keine dieser Ausnahmeregelungen anwendbar sein, werde ich sodann prüfen, ob die in Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahmeregelung auf einen Sachverhalt wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar sein könnte. Ich werde die zweite Vorlagefrage indes nur prüfen, wenn eine dieser Regelungen nach meinem Dafürhalten anwendbar ist, denn auf diese Voraussetzung stützt sich diese zweite Frage.

    A. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78

    18.      Zweck der Richtlinie 2000/78 ist nach ihrem Art. 1 die Schaffung eines allgemeinen Rahmens, um u. a. die Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten zu bekämpfen(13). Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, konkretisiert diese Richtlinie damit in dem von ihr erfassten Bereich das in Art. 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot(14).

    19.      Überdies enthält der mit der Richtlinie 2000/78 geschaffene allgemeine Rahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Art. 4 Abs. 2 eine Spezialregelung, die die Ungleichbehandlung wegen der Religion bei beruflichen Tätigkeiten in Kirchen und religiösen Organisationen betrifft.

    20.      Insbesondere bestimmt Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen oder religiösen Organisationen einzelstaatliche Rechtsvorschriften beibehalten oder erlassen können, wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion einer Person keine Diskriminierung darstellt. Das setzt nach diesem Unterabsatz voraus, dass die Religion der Person eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Organisation darstellt. Darüber hinaus muss eine solche Ungleichbehandlung die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts beachten und sollte keine Diskriminierung aus einem anderen Grund rechtfertigen.

    21.      Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 bestimmt im Wesentlichen, dass diese Richtlinie, sofern ihre Vorgaben im Übrigen eingehalten werden, das Recht der Kirchen und anderer religiöser Organisationen unberührt lässt, gemäß den einzelstaatlichen Verfassungs- und Rechtsvorschriften von ihren Arbeitnehmern zu verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten.

    22.      Der Gerichtshof hat in Bezug auf Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 festgestellt, dass die Rechtmäßigkeit einer Ungleichbehandlung wegen der Religion nach Maßgabe dieser Vorschrift vom objektiv überprüfbaren Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit abhängt(15). Demnach darf eine Kirche oder eine andere religiöse Organisation ihre Mitarbeiter wegen der Religion nur dann unterschiedlich behandeln, wenn die betreffende Religion unter Berücksichtigung der Art der ausgeübten Berufstätigkeit oder der Umstände, unter denen sie ausgeübt wird, in Anbetracht des Ethos der Kirche oder Organisation eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt(16).

    23.      Insbesondere hat der Gerichtshof zunächst ausgeführt, dass die Verwendung des Adjektivs „wesentlich“ in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 bedeutet, dass das Bekenntnis zu der Religion, auf der das Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation beruht, aufgrund der Bedeutung der betreffenden beruflichen Tätigkeit für die Bekundung dieses Ethos oder die Ausübung des in Art. 17 AEUV anerkannten Rechts dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie notwendig erscheinen muss(17).

    24.      Der Gerichtshof hat ferner darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Ausdrucks „rechtmäßig“ durch den Unionsgesetzgeber zeigt, dass er sicherstellen wollte, dass die das Bekenntnis zu der Religion, auf der das Ethos der in Rede stehenden Kirche oder Organisation beruht, betreffende Anforderung nicht zur Verfolgung eines sachfremden Ziels ohne Bezug zu diesem Ethos oder zur Ausübung des Rechts dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie dient(18).

    25.      Der Begriff „gerechtfertigt“ schließlich impliziert nicht nur, dass die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien durch ein innerstaatliches Gericht überprüfbar sein muss, sondern auch, dass es der Kirche oder Organisation, die eine berufliche Anforderung aufgestellt hat, obliegt, im Licht der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls darzutun, dass die geltend gemachte Gefahr einer Beeinträchtigung ihres Ethos oder ihres Rechts auf Autonomie wahrscheinlich und erheblich ist, so dass sich eine solche Anforderung als notwendig erweist(19).

    26.      In der vorliegenden Rechtssache ist vorab festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kündigung nach Ansicht des vorlegenden Gerichts eine Ungleichbehandlung wegen der Religion darstellt. Das vorlegende Gericht ist ferner der Auffassung, dass diese unterschiedliche Behandlung eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 darstelle, da die Kündigung von JB nicht auf der Grundlage augenscheinlich neutraler Vorschriften, Kriterien oder Verfahren beschlossen worden sei, sondern auf der Grundlage einer Regelung, die nur für Arbeitnehmer gelte, die der katholischen Kirche angehörten, nicht aber für Arbeitnehmer, die sich zu einer anderen Religion oder zu gar keiner Religion bekennten.

    27.      Hier ist daran zu erinnern, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs(20) Sache des vorlegenden Gerichts ist, unter Berücksichtigung aller erheblichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob eine Ungleichbehandlung eine Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 darstellt. Ebenso ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die in Rede stehende Diskriminierung gemäß Buchst. a dieser Vorschrift als unmittelbar oder im Sinne von Buchst. b derselben Bestimmung als mittelbar einzustufen ist.

    28.      Daraus folgt, dass der Gerichtshof, auch wenn sich die Revisionsklägerin in ihren schriftlichen Erklärungen gegen die Feststellungen des vorlegenden Gerichts zu der im Ausgangsverfahren streitgegenständlichen Ungleichbehandlung wendet, nicht verpflichtet ist, diese Frage zu prüfen, da keine der vorgelegten Fragen die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 betrifft. Gleiches gilt für die Feststellung des vorlegenden Gerichts, die von keinem der Verfahrensbeteiligten vor dem Gerichtshof in Frage gestellt worden ist und wonach die Revisionsklägerin als religiöse Organisation im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 einzustufen sei.

    29.      Hinsichtlich der drei in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 festgelegten Kriterien, die für die in dieser Bestimmung genannten beruflichen Anforderungen gelten, ist hervorzuheben, dass sie kumulativ sind. Mithin genügt es, dass eines dieser Kriterien nicht erfüllt wurde, um zu folgern, dass eine Ungleichbehandlung wegen der Religion nicht mit Hinweis auf die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahmeregelung zu rechtfertigen ist.

    30.      Dies ist hier der Fall: Denn meines Erachtens erfüllt eine berufliche Anforderung, wonach einer Kirche angehörende Arbeitnehmer nicht aus dieser austreten dürfen, ohne Gefahr zu laufen, gekündigt zu werden, in Ansehung einer beruflichen Tätigkeit wie der im Vorlagebeschluss beschriebenen nicht das Kriterium der Wesentlichkeit von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78.

    31.      Wie sich nämlich aus der in Nr. 23 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, muss, damit das Kriterium der Wesentlichkeit erfüllt ist, eine berufliche Anforderung vor allem wegen der Bedeutung der betreffenden beruflichen Tätigkeit für die Förderung des Ethos der Kirche oder der religiösen Organisation oder für die Ausübung des Rechts dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie erforderlich sein. Nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 sind bei der Beurteilung, ob dieses Kriterium erfüllt ist, die Art der beruflichen Tätigkeit und die Umstände ihrer Ausübung zu berücksichtigen. Das bedeutet im Kern, dass eine berufliche Anforderung im Sinne dieser Bestimmung als wesentlich anzusehen ist, wenn die Tatsache, dass sich der betreffende Arbeitnehmer nicht zu einer Religion bekennt, ihn aufgrund der Art der beruflichen Tätigkeit und der Umstände ihrer Ausübung sowie unter Berücksichtigung des Ethos der Organisation für die Ausübung dieser Tätigkeit ungeeignet macht.

    32.      Eine berufliche Anforderung, die in der kontinuierlichen Zugehörigkeit zu einer Kirche besteht, ist jedoch nicht als wesentlich anzusehen, wenn eine als Arbeitgeber handelnde religiöse Organisation die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit nicht von dieser Zugehörigkeit abhängig macht und diese Organisation außerdem Personen mit anderen Religionszugehörigkeiten zur Ausübung eben dieser Tätigkeit beschäftigt.

    33.      Insofern ist darauf hinzuweisen, dass es in einem solchen Fall nicht erforderlich ist, vorab zu prüfen, ob die betreffende berufliche Tätigkeit für die Förderung des Ethos der religiösen Organisation oder die Ausübung ihres Rechts auf Autonomie bedeutsam ist. Denn schließlich hat die religiöse Organisation selbst die Art der beruflichen Tätigkeit so konzipiert und festgelegt, dass für die Ausübung dieser Tätigkeit keine Mitgliedschaft in einer Kirche erforderlich ist. Im Übrigen lassen auch die Bedingungen, unter denen diese Tätigkeit ausgeübt wird, offenkundig nicht den Schluss zu, dass der Verbleib in einer Kirche eine wesentliche Verpflichtung darstellt, deren Nichtbeachtung einen Arbeitnehmer zur Erfüllung seiner Aufgaben ungeeignet macht, wenn das zur Ausübung dieser beruflichen Tätigkeit beschäftigte Personal aus Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften besteht, wie dies im Ausgangsverfahren der Fall ist.

    34.      Die Revisionsklägerin des Ausgangsverfahrens macht jedoch geltend, dass die Tatsache, dass Arbeitnehmer, die eine bestimmte berufliche Tätigkeit ausübten, nicht verpflichtet seien, einer bestimmten Kirche anzugehören, nicht gleichbedeutend mit der Anforderung sei, für die gesamte Dauer des Arbeitsverhältnisses nicht aus dieser Kirche auszutreten. Wie auch vom vorlegenden Gericht in seinem Vorlagebeschluss erläutert, weist die Revisionsklägerin im Ausgangsverfahren im Wesentlichen darauf hin, dass der Austritt aus der katholischen Kirche nach kanonischem Recht zu den schwersten Vergehen gegen diese Kirche gehöre. Dies sei im deutschen Verfassungsrecht anerkannt, insbesondere in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Deutschland), das des Weiteren anerkannt habe, dass der Austritt aus der katholischen Kirche im Licht des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts einen Kündigungsgrund darstelle. Nach Ansicht der Revisionsklägerin sollte daher eine berufliche Anforderung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende angesichts der Autonomie, die einer Kirche nach Art. 17 AEUV bei der Begründung ihrer Arbeitsverhältnisse in einem Mitgliedstaat zuzuerkennen sei, nicht als Diskriminierung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden.

    35.      Insoweit ist vorab daran zu erinnern, dass Art. 17 AEUV die Neutralität der Europäischen Union im Hinblick auf die Gestaltung der Beziehungen der Mitgliedstaaten zu den Kirchen und religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften zum Ausdruck bringt(21). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(22) ist diese Neutralität bereits in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78(23) verankert, der einen angemessenen Ausgleich zwischen dem u. a. in Art. 17 AEUV anerkannten Recht der Kirchen und anderer religiöser Organisationen auf Autonomie einerseits und dem in Art. 21 der Charta anerkannten Recht der Arbeitnehmer andererseits, nicht wegen ihrer Religion diskriminiert zu werden, in Fällen gewährleisten soll, in denen diese Rechte möglicherweise miteinander kollidieren(24).

    36.      Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat(25), nennt Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 gerade im Hinblick darauf die Kriterien, die im Rahmen der zur Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen den widerstreitenden Grundrechten vorzunehmenden Abwägung zu berücksichtigen sind. Im Ergebnis bedeutet dies, dass das in Art. 17 AEUV verankerte Recht der Kirchen auf Autonomie im Hinblick auf die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf Bedingungen unterliegt und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art. 21 der Charta und namentlich den in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 festgelegten Kriterien nicht jedwede Bedeutung nehmen kann.

    37.      In der vorliegenden Rechtssache ist hinsichtlich der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit, sofern keine anderen einschlägigen Faktoren zu beachten sind, festzuhalten, dass ‒ soweit keine anderen relevanten Faktoren zu berücksichtigen sind ‒ ein Arbeitnehmer, der aus einer bestimmten Kirche ausgetreten ist, sich in der gleichen Lage befindet wie andere Arbeitnehmer, die dieser Kirche nicht angehören. Wenn also eine religiöse Organisation eigenständig festgelegt hat, dass die betreffende berufliche Tätigkeit auch von Personen ausgeübt werden kann, die keiner bestimmten Kirche angehören, kann der Umstand, dass ein Arbeitnehmer diese Kirche verlassen hat, nicht ausreichen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass dieser Arbeitnehmer nicht mehr für die Ausübung dieser Tätigkeit geeignet ist.

    38.      Hierzu ist erstens festzustellen, dass eine Auslegung des in Art. 17 AEUV vorgesehenen Rechts auf Autonomie, die es einer religiösen Organisation in dem spezifischen Kontext, in dem die Zugehörigkeit zu dieser Kirche für die Ausübung der betreffenden Berufstätigkeit nicht erforderlich ist, erlaubt, einem Arbeitnehmer wegen seines Austritts aus einer bestimmten Kirche zu kündigen, darauf hinausliefe, wie das vorlegende Gericht ausführt, die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien der wirksamen gerichtlichen Kontrolle zu entziehen. Dies widerspricht in jeder Hinsicht den Ausführungen des Gerichtshofs in den Urteilen Egenberger(26) und IR(27).

    39.      Zweitens ist es offenkundig, dass eine solche Auslegung auch der individuellen Freiheit, die Religion zu wechseln, zuwiderliefe, die ausdrücklich in Art. 10 Abs. 1 der Charta gewährleistet wird und Art. 9 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entspricht(28). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat diese Freiheit als eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft im Sinne der Konvention und als Ausdruck des Pluralismus gewertet, der einer Demokratie inhärent sei. Diese Freiheit umfasst im Wesentlichen nicht nur das Recht, eine Religion anzunehmen oder seine Religionszugehörigkeit zu wechseln, sondern auch das Recht, diese Religion aus freien Stücken aufzugeben(29).

    40.      Daher kann nach meinem Dafürhalten die Achtung des Rechts der Kirche auf Autonomie nach Art. 17 AEUV nicht dazu führen, dass der durch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 geschaffene Ausgleich modifiziert wird. Das wäre jedoch die Konsequenz, wenn der Austritt aus einer Kirche als gültiger Grund für die Kündigung eines Arbeitnehmers in einer Situation angesehen würde, in der die Ausübung der betreffenden beruflichen Tätigkeit von der religiösen Organisation, die als Arbeitgeber fungiert, nicht an die Zugehörigkeit zu dieser Religion geknüpft wird.

    41.      Wie das vorlegende Gericht im Übrigen ausführt, ist es durchaus möglich, dass der Austritt eines Arbeitnehmers aus einer bestimmten Kirche mit der Nichteinhaltung ihrer Grundprinzipien und Werten einhergeht und somit einen Eignungsmangel des Arbeitnehmers, die fragliche Berufstätigkeit auszuüben, begründen kann. Die Beachtung dieser Grundprinzipien und Werte ist nämlich eine der Obliegenheiten, die im dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Fall alle Arbeitnehmer ‒ Katholiken wie Nichtkatholiken ‒ gemäß der Grundordnung bei der Ausübung ihrer Aufgaben zu beachten haben(30).

    42.      Der Austritt aus dieser Kirche ist jedoch für sich genommen keine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass der betreffende Arbeitnehmer nicht beabsichtigt, diese Grundprinzipien und Werte weiterhin einzuhalten, und dass er automatisch aufhört, die für ihn aufgrund des Arbeitsverhältnisses geltenden Pflichten zu erfüllen(31). Dies gilt gleichermaßen für das Argument, der Austritt aus einer bestimmten Kirche zerstöre insbesondere im Hinblick auf die Erfüllung ihrer ethischen Anforderungen das Vertrauen in die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung eines Arbeitnehmers. Dieses Argument wäre nur dann stichhaltig, wenn der Arbeitgeber auf der Grundlage nachprüfbarer Tatsachen nachwiese, dass Zweifel daran bestehen, dass der Arbeitnehmer aufgrund seiner Entscheidung, aus der Kirche auszutreten, noch bereit oder in der Lage wäre, den entsprechenden beruflichen Anforderungen seines Arbeitgebers zu genügen.

    43.      Daraus folgt, dass eine einem Arbeitnehmer auferlegte Verpflichtung, nicht aus einer bestimmten Kirche auszutreten bzw. ihr nach einem Austritt wieder beizutreten, nicht als wesentlich im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden kann, wenn die religiöse Organisation, die als Arbeitgeber auftritt, die Mitgliedschaft in dieser Kirche nicht als Voraussetzung für die Ausübung einer bestimmten beruflichen Tätigkeit verlangt und der Arbeitnehmer nicht öffentlich wahrnehmbar in einer Weise handelt, die dem Ethos dieser Kirche zuwiderläuft. Das von der in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangte Bestehen eines objektiv nachprüfbaren unmittelbaren Zusammenhangs zwischen einer beruflichen Anforderung und einer beruflichen Tätigkeit wie der, um die es im Ausgangsverfahren geht, ist daher nicht festzustellen.

    44.      Nach alledem kann Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 nicht als geeignete Grundlage für die Schlussfolgerung herangezogen werden, dass eine Ungleichbehandlung, wie sie sich nach Ansicht des vorlegenden Gerichts aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kündigung ergibt, keine Diskriminierung darstellt. Angesichts des kumulativen Charakters der in dieser Vorschrift genannten Kriterien erübrigt sich die Prüfung, ob diese berufliche Anforderung die anderen in dieser Vorschrift genannten Kriterien erfüllt, nämlich ob sie rechtmäßig und gerechtfertigt ist.

    45.      Was jedenfalls die Rechtfertigung einer beruflichen Anforderung wie der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass es in einer Situation, in der zum einen eine religiöse Organisation die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit nicht von der Mitgliedschaft in einer Kirche abhängig macht und zum anderen der betreffende Arbeitnehmer nicht öffentlich wahrnehmbar in einer Weise handelt, die dem Ethos dieser Kirche zuwiderläuft, nur schwer vorstellbar ist, dass der Austritt aus dieser Kirche eine wahrscheinliche und erhebliche Gefahr für ihr Ethos und ihre Autonomie darstellen soll: Dies ergibt sich auch aus der in Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung. Dementsprechend bin ich der Auffassung, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende berufliche Anforderung ‒ selbst wenn sie als rechtmäßig angesehen werden könnte ‒ jedenfalls im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 keinesfalls als gerechtfertigt betrachtet werden könnte.

    46.      Was die Frage betrifft, ob Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 eine geeignete Grundlage dafür darstellen kann, um eine Ungleichbehandlung wie die vom vorlegenden Gericht geschilderte zu rechtfertigen, ist daran zu erinnern, dass ‒ wie sich aus Nr. 20 der vorliegenden Schlussanträge ergibt ‒ es den Kirchen und anderen religiösen Organisationen nach dieser Vorschrift unbenommen ist, von den für sie arbeitenden Personen zu verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten. Allerdings beginnt der Wortlaut dieses Unterabsatzes mit der Formulierung „[s]ofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden“: Das bedeutet, dass bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 u. a. die im ersten Unterabsatz dieses Artikels genannten Kriterien zu beachten sind(32).

    47.      Ohne dass im vorliegenden Fall weiter zu prüfen wäre, ob der Austritt aus einer bestimmten Kirche nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 ein unaufrichtiges oder illoyales Verhalten gegenüber ihrem Ethos darstellen könnte, bleibt festzuhalten, dass eine berufliche Anforderung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht die in Unterabs. 1 dieser Bestimmung genannten Kriterien erfüllt. Folglich kann auch Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 nicht als geeignete Grundlage für die Schlussfolgerung herangezogen werden, dass eine Ungleichbehandlung, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, keine Diskriminierung darstellt.

    B. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78

    48.      Gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 dieser Richtlinie genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.

    49.      Außerdem muss nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Ungleichbehandlung, damit sie als „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden kann, „von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben“ sein(33). Mit anderen Worten erfordert die Art der beruflichen Tätigkeit eine Ungleichbehandlung und nicht die subjektiven Erwägungen des Arbeitgebers. Der Gerichtshof hat stets die Auffassung vertreten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 insofern eng auszulegen ist, als er eine Ausnahme vom Grundsatz der Nichtdiskriminierung eröffnet(34).

    50.      Wie die Kommission und das vorlegende Gericht zutreffend ausführen, erscheint im vorliegenden Fall der Umstand, dass katholische Arbeitnehmer während ihres Arbeitsverhältnisses nicht aus der Kirche austreten können, ohne eine Kündigung zu gewärtigen, für die spezifische Tätigkeit der projektbezogenen Schwangerschaftsberatung nicht objektiv erforderlich. Erstens bezieht sich das Verbot nicht auf spezifische Aufgaben, die der Berater oder die Beraterin in Ausübung seiner bzw. ihrer gewöhnlichen Pflichten zu erledigen hat, sondern es bezieht sich auf die Beziehung zum Arbeitgeber, nämlich der katholischen Kirche. Dass es in einem Fall wie dem im Vorlagebeschluss geschilderten an objektiver Notwendigkeit fehlt, lässt sich schlicht dadurch belegen, dass zum Zeitpunkt der Kündigung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitnehmerin die Revisionsklägerin sechs Personen beschäftigte, von denen zwei evangelisch waren.

    51.      Daher vermag das Argument, die kontinuierliche Zugehörigkeit zur katholischen Kirche stelle eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im oben beschriebenen objektiven Sinne dar, der Prüfung nicht standzuhalten, und somit kann Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 nicht als stichhaltige Ausnahme für eine Diskriminierung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende herangezogen werden.

    52.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen und insbesondere in Ansehung der Schlussfolgerungen in den Nrn. 44, 47 und 51 der vorliegenden Schlussanträge bin ich der Ansicht, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die in diesem Artikel enthaltenen Ausnahmen nicht auf eine Ungleichbehandlung Anwendung finden können, die sich aus der Kündigung eines Arbeitnehmers durch eine religiöse Organisation wegen dessen Entscheidung, aus der Kirche auszutreten, zu der die fragliche Organisation gehört, ergibt, wenn die Ausübung der beruflichen Tätigkeiten es nicht erfordert, Mitglied dieser Kirche zu sein, und der betreffende Arbeitnehmer nicht öffentlich wahrnehmbar in einer Weise handelt, die dem Ethos dieser Kirche zuwiderläuft.

    53.      Da die zweite Frage des vorlegenden Gerichts für den Fall gestellt wird, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 bzw. Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine berufliche Anforderung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine Diskriminierung darstellt, was nicht der Auslegung entspricht, die ich auf Grundlage meiner Analyse in den vorliegenden Schlussanträgen vorschlage, besteht kein Anlass zur Beantwortung der zweiten Frage durch den Gerichtshof.

    IV. Ergebnis

    54.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Bundesarbeitsgerichts (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

    Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf

    ist dahin auszulegen, dass die in diesem Artikel enthaltenen Ausnahmen nicht auf eine Ungleichbehandlung Anwendung finden können, die sich aus der Kündigung eines Arbeitnehmers durch eine religiöse Organisation wegen dessen Entscheidung, aus der Kirche auszutreten, zu der die fragliche Organisation gehört, ergibt, wenn die Ausübung der beruflichen Tätigkeiten es nicht erfordert, Mitglied dieser Kirche zu sein, und der betreffende Arbeitnehmer nicht öffentlich wahrnehmbar in einer Weise handelt, die dem Ethos dieser Kirche zuwiderläuft.

    1      Originalsprache: Englisch.

    2      Richtlinie des Rates vom 27. November 2000 (ABl. 2000, L 303, S. 16).

    3      Urteil vom 17. April 2018 (C-414/16, EU:C:2018:257) (im Folgenden: Urteil Egenberger).

    4      Urteil vom 11. September 2018 (C-68/17, EU:C:2018:696) (im Folgenden: Urteil IR).

    5      Der Einfachheit halber werde ich in den vorliegenden Schlussanträgen die Wendung „öffentliche oder private Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen … beruht“ aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 zu „religiöse Organisationen“ verkürzen.

    6      Im Folgenden: Charta.

    7      Im Folgenden: Revisionsklägerin.

    8 Amtsblatt des Erzbistums Köln, S. 222, in der Fassung des Beschlusses der Vollversammlung des Verbands der Diözesen Deutschlands vom 27. April 2015, die laut Vorlageentscheidung die in der vorliegenden Rechtssache anwendbare Fassung ist (im Folgenden: Grundordnung).

    9      Vgl. Art. 5 Abs. 1 der Grundordnung.

    10      Vgl. Art. 5 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a der Grundordnung.

    11      Vgl. Art. 5 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a der Grundordnung.

    12      Vgl. Art. 5 Abs. 3 der Grundordnung.

    13      Vgl. u. a. Urteil vom 14. März 2017, Bougnaoui und ADDH (C-188/15, EU:C:2017:204, Rn. 26).

    14      Urteil Egenberger (Rn. 47).

    15      Urteil Egenberger (Rn. 63) und Urteil IR (Rn. 50).

    16      Urteil Egenberger (Rn. 64) und Urteil IR (Rn. 55).

    17      Urteil Egenberger (Rn. 65) und Urteil IR (Rn. 51).

    18      Urteil Egenberger (Rn. 66) und Urteil IR (Rn. 52).

    19      Urteil Egenberger (Rn. 67) und Urteil IR (Rn. 53).

    20      Vgl. hierzu Urteile vom 26. Januar 2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej Krakowie (C-16/19, EU:C:2021:64, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel (C-804/18 und C-341/19, EU:C:2021:594, Rn. 59).

    21      Urteil Egenberger (Rn. 58).

    22      Urteil Egenberger (Rn. 57).

    23      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Tanchev in der Rechtssache Egenberger (C-414/16, EU:C:2017:851, Nr. 56), der Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 als „gesetzgeberischen Ausdruck“ von Art. 17 AEUV bezeichnet.

    24      Urteil Egenberger (Rn. 51).

    25      Urteil Egenberger (Rn. 52).

    26      Urteil Egenberger (Rn. 58).

    27      Urteil IR (Rn. 48).

    28      Vgl. auch Art. 18 der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 angenommenen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 18 des am 16. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte.

    29      Vgl. hierzu EGMR, 1. Juli 2014, S.A.S/Frankreich (CE:ECHR:2014:0701JUD004383511, § 124 und die dort angegebene Rechtsprechung). Vgl. insoweit auch Rat der Europäischen Union, „Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union zur Religions- oder Glaubensfreiheit“, Pressemitteilung zur 2 973. Tagung des Rates „Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen“, Allgemeine Angelegenheiten, 16. November 2009, S. 10 bis 11.

    30      Siehe Nr. 5 der vorliegenden Schlussanträge.

    31      Insoweit ist daran zu erinnern, dass dem Vorlagebeschluss des vorlegenden Gerichts zufolge die Arbeitnehmerin im Ausgangsverfahren geltend machte, sie sei aus der katholischen Kirche wegen des besonderen Kirchgelds ausgetreten, das von Personen erhoben werde, die wie sie mit einem gut verdienenden Ehepartner in einer glaubensverschiedenen Ehe lebten, und nicht deswegen, weil sie mit den grundlegenden Prinzipien der Kirche nicht übereinstimme.

    32      Urteil IR (Rn. 49).

    33      Urteil vom 14. März 2017, Bougnaoui und ADDH (C-188/15, EU:C:2017:204, Rn. 40).

    34      Vgl. u. a. Urteil vom 13. September 2011, Prigge u. a. (C-447/09, EU:C:2011:573, Rn. 72).