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  • · Fachbeitrag · Interview

    „Wir dürfen sexuelle Übergriffe nicht totschweigen!“

    | „Sexuelle Belästigung unter Ärzten, Pflegepersonal und Patienten“ lautet der Titel eines Reports des Gesundheitsportals Medscape ( ogy.de/0jwi ). Daraus geht u. a. hervor, dass 13 Prozent der Ärztinnen und vier Prozent der Ärzte in den vergangenen drei Jahren durch Kollegen und Kolleginnen belästigt wurden. Dr. med. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB, aerztinnenbund.de ), begrüßt, dass nun Zahlen zu sexuellen Übergriffen auf dem Tisch liegen. Im Gespräch mit Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) bewertet sie die Umfrageergebnisse. |

     

    Frage: Wann kann von einem sexuellen Übergriff gesprochen werden?

     

    Antwort: Sobald jemand eine E-Mail, einen Spruch, eine Geste oder eine Berührung als sexuell übergriffig empfindet, ist es sexuell übergriffig. Da spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Chefarzt-Assistenzärztin-Verhältnis oder um zwei Oberärzte untereinander handelt. Auch Patienten belästigen Ärzte und Pflegepersonal zum Teil massiv mit sexuellen Anspielungen oder Handlungen. Es ist erschütternd.

     

    Frage: Haben Sie persönlich schon solche Situationen erlebt?

     

    Antwort: Als ich als junge Ärztin in der Gynäkologie einer Klinik war, habe ich männliche Kollegen erlebt, die sich im OP in sehr obszöner Weise über die narkotisierte Patientin lustig machten. Als ich einmal ‒ ganz neu in der Klinik ‒ um eine Dienstplanänderung bat, wurde ich nach einer Gegenleistung gefragt. Dass das eindeutig gemeint war, wurde mir erst später klar, als ich den Kollegen besser kannte. In einer Sitzung die Hand meines Nachbarn auf dem Po zu spüren und hektisch darüber nachzudenken, wie ich die Situation klären kann, ohne die eigenen Karrierechancen zu zerstören, war viel später eine andere Situation. Sexuelle Übergriffe sind sehr weit verbreitet. Bei einem Ärztinnenkongress in der Schweiz meldeten sich 80 Prozent der Anwesenden auf die Frage, ob ihnen so etwas schon einmal passiert sei.

     

    Frage: Eine Chefärztin sagte mir, junge Ärztinnen forderten sexuelle Übergriffe heraus, wenn sie Vorgesetzten aus Karrieregründen schöne Augen machten.

     

    Antwort: Es besteht eine Gratwanderung zwischen Flirten und sexuellem Übergriff. Es wäre schlimm, wenn es keine Flirts mehr gäbe. Sie darf schöne Augen machen. Und er darf das auch! Doch sobald eine der beiden Seiten ein Nein signalisiert und diese Grenze überschritten wird, ist der Übergriff da. Es ist vollkommen unangemessen, wenn es dann heißt, das Opfer solle sich nicht so anstellen und sei sehr empfindlich.

     

    Frage: Braucht die deutsche Krankenhauslandschaft eine #MeToo-Debatte?

     

    Antwort: Die findet bereits statt. Als ich mit einigen anderen Delegierten zusammen beim 121. Deutschen Ärztetag 2018 den Antrag stellte, das Thema aufzugreifen, war die Mehrheit dagegen. Als wir ein Jahr später beim 122. Deutschen Ärztetag den Antrag wiederholten, war die Mehrheit dafür. Die Sensibilität hat sich eindeutig verändert (Anm. d. Red.: Ein Faltblatt zum Thema können Sie unter ogy.de/8i2j downloaden) .

     

    Frage: Ist das auch in den Krankenhäusern angekommen? Was sollte ein Chefarzt oder eine Chefärztin gegen einen sexuell übergriffigen Mitarbeiter tun?

     

    Antwort: Er oder sie muss dafür sorgen, dass der Täter zur Rechenschaft gezogen wird. Wenn es sich um einen Weiterbilder handelt, ist auch die zuständige Landesärztekammer gefragt. Sollte das Opfer Anzeige erstatten, könnte der Chef als Zeuge benannt werden. Denn auch wenn Übergriffe meist hinter verschlossenen Türen von Sprechzimmern oder Behandlungsräumen stattfinden, gibt es ganz häufig Mitwisser. Letztendlich muss der Chefarzt in der Abteilung für Transparenz sorgen. Er sollte klarmachen, dass das Thema nicht tabuisiert wird. Das geht z. B. über eine Vertrauensperson, an die betroffene Männer und Frauen sich informell wenden können.

     

    Frage: Was können Führungskräfte für die Opfer tun?

     

    Antwort: Wichtig ist, die Opfer zu stärken. Jemand, der sexuelle Nötigung oder gar eine Vergewaltigung erlebt hat, sollte die Möglichkeit zur Therapie erhalten ‒ wenn sie gewünscht ist. Es muss klar sein, dass das Personal sich abgrenzen und ggf. auch zur Wehr setzen darf. Das sollte zur Kultur einer Klinik gehören.

     

    Frage: Dennoch melden der Online-Umfrage zufolge 75 Prozent der Opfer den Täter nicht ‒ meist aus Angst. Wie lässt sich das ändern?

     

    Antwort: Immer mehr Kliniken bieten Ansprechpartner an, an die man sich im Fall eines sexuellen Übergriffs ‒ egal ob von Kollegen oder Patienten ‒ vertrauensvoll wenden kann. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sieht für Betroffene ein Beschwerderecht, ein Leistungsverweigerungsrecht sowie den Anspruch auf Entschädigung und Schadenersatz vor. Es ist die Pflicht des Arbeitgebers, sexuelle Übergriffe zu verhindern. Er muss je nach Schwere des Vorfalls den Täter abmahnen, versetzen oder ihm kündigen.

     

    Frage: Ein Prozent der befragten Männer berichtet, dass ihnen fälschlicherweise sexueller Missbrauch vorgeworfen worden sei.

     

    Antwort: Es gibt sicher Fälle, in denen jemand einen anderen zu Unrecht bezichtigt. Das ist auch eine kriminelle Handlung. Dann sollte Strafanzeige gestellt werden.

     

    Frage: Sie haben sexuell übergriffige Patienten angesprochen. Kann ein Chefarzt Hausverbot erteilen oder widerspricht das dem Hippokratischen Eid?

     

    Antwort: Wenn der Patient bei vollem Bewusstsein ist, haben wir das Recht dazu. Anders ist es bei Patienten in einer absoluten Notsituation und bei Demenzkranken.

    Quelle: Ausgabe 09 / 2020 | Seite 18 | ID 46332473